Welt im Werden

>Wozu sich mit dem Ungeborenen beschaeftigen, wo man ganz offensichtlich bereits geboren ist?< fragt Andrea Christoph-Gaugusch im Vorwort ihres Buches und verweist auf einen blinden Fleck in unserer Welt, deren Fundamente niemals hinter das Gegebene zu verweisen scheinen. In ihrer Philosophie eines Ungeborenen schlaegt die Psychologin deshalb eine Verschiebung vor: Die Welt als Ungeborene, Ungeschaffene, Ungemachte zu denken.

Herausgestrichen wird somit nicht nur das Werden, sondern auch die Tatsache, dass die Welt bereits in diesem Stadium verkoerpert ist. Embryonal. Unterstrichen wird die Virulenz dieser These durch eine neue Sichtbarkeit der Geburt in den Medien: medizinische und moralische, biologische und soziologische Diskurse.

Drehen wir die Eingangsfrage um: Wozu sich mit dem Tod beschaeftigen, solange man am Leben ist? Der Alltagsverstand weiss darauf zu antworten: Kann man doch nur, solange man am Leben ist! Wird man vor allem dann genoetigt, wenn andere gestorben sind! Lange Zeit trug das Thema schwarz, doch auch hier ist ein Trendwechsel zu verzeichnen: Tod – kein Tabu mehr, wie das taz-Journal titelt. Cover-Abbildung: Neugeborenes Baby im skelettierten Sensemann-Outfit. Die Welt scheint Kopf zu stehen, doch Jacques Derrida sagt: >Der Tod erklaert jedes Mal das Ende der Welt in ihrer Gesamtheit, das Ende jeder moeglichen Welt, und jedes Mal das Ende der Welt als einer einzigartigen, also unersetzlichen und also unendlichen Gesamtheit.< Kann man Tod und Geburt mit Derrida und Christoph-Gaugusch zusammendenken? Derrida artikuliert seine These in einem Buch, das seine Abschiedsbriefe an verstorbene Freunde versammelt: von Roland Barthes [1980] bis Maurice Blanchot [2007]. Christoph-Gaugusch dagegen stellt ihre Gedanken in einem schmalen Band vor, der von >Verschmelzung< bis >Im Fluss< mehr als Hundert Fragmente buendelt. Und doch kann die Frage bejaht werden. Wenn die Gesamtheit [Welt] unendlich ist, kann sowohl das jeweils einzigartige Ende als auch die ebenso einzigartige Geburt unendlich wiederholt werden. Der Tod steht nicht nur fuer ein Ende. Die Geburt steht nicht fuer einen Anfang. Beide stehen immer auch fuer das Werden der Welt.

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