Globalisierungskritik, wie weiter? Antwort #46

Ich glaube, wir waren der letzte Studienjahrgang, der Statistikanalysen im Universitaetsrechenzentrum noch mittels Lochkarten durchgefuehrt hat. Noch Ende der 1980er Jahre hielt ich die am IBM-Grossrechner von Benutzerstation zu Benutzerstation gesendeten Grussbotschaften als entbehrlichen Zierrat. Keine Ahnung hatte ich damals davon, dass die in jener Zeit ankommende digitale Revolution nicht nur das Triebwerk der Globalisierung traenken, sondern auch die ganz persoenliche Erfahrungswelt so drastisch veraendern wuerde, wie dies jetzt der Fall geworden ist.

Nicht nur, wenn ich heute unterwegs die eingegangenen E-Mails von allueberall lade, sondern auch, wenn ich an meinen Freundeskreis, die Menschen und Orte, denen ich mich verbunden fuehle, denke, wird mir klar, dass die digitale Revolution auch die eigene Weltwahrnehmung im Privaten transnational und teils global gemacht hat. Die Komprimierung des Raums und die Netzwerkbildung via Informations- technologie als neue soziale Morphologie der Gegenwarts- gesellschaft ist daher nicht allein Kennzeichen oekonomischer Globalisierung, der Finanzmaerkte und Warenfluesse.

Sie traegt auch eine soziale Signatur. Ganz ueberwaeltigend positiv zeigte sich diese mir acht Jahre lang ab 1998. Zunaechst in einer virtuellen Seminarkooperation meines Uni-Seminars mit einer Partnergruppe in Neu Delhi. Im Anschluss in einem daraus entwickelten Studienprogramm, in welchem Studierende aus 45 Laendern gemeinsam einen trikontinentalen sozialwissenschaftlichen Master-Parcours >Global Studies< in Freiburg, Durban und Neu Delhi absolvierten. Wie junge Leute - mit Einschraenkung: von Akademikern, mit Bachelor-Abschluss - jenseits aller oft viel zu sehr behaupteten kulturellen Unterschiede hier so leicht und fast traumhaft ein Exempel in transnationaler, [positiv] familienartiger und nachhaltiger Gemeinschaftsbildung leisten konnten, fuehrte mir zuerst also die aktive und Sonnenseite von Globalisierungschancen vor Augen. Die fachliche Seite der soziologischen Perspektive in meinem Fall stellt sich hingegen weit schwieriger dar. Ein bestes Beispiel gibt hier die Frage nach der sozialen Ungleichheit. Auffallend im genannten globalen Studienprogramm war beispielsweise, dass Teilnehmer aus westlichen Laendern sich meist streng >globalisierungskritisch< verorteten, waehrend fuer Leute aus Osteuropa, Suedostasien oder Suedamerika das ganz anders ausschauen konnte. Die Heteronomie der Perspektiven auch je nach eigenem Platz in der Herkunftsgesellschaft ist fuer mich das, was immer wieder neuen Anlass zum Nachdenken und fuer Diskussionen bot. Ist fuer die einen oekonomische Globalisierung Ursache sich verschaerfender Ungleichheiten, gilt sie den anderen als Motor der Ueberwindung derselben. Sieht man genauer hin, zeigt sich, dass Einkommensunterschiede innerhalb der einzelnen Laender in Zukunft groesser sein werden als die zwischen ihnen. Und dennoch bleibt Fakt, dass Ungleichheit, Armut, zuerst ein lokales Phaenomen sein muss. Armut ist lokal, Reichtum globalisiert. Wie aber sollte nun festzustellen sein, ob lokale Ungleichheit globale Wurzeln hat, Firmenverlagerungen zum Beispiel? Und vor allem: Wer sollte Adressat der Ungleichheitskritik und in Verantwortung sein, wenn ggf. nicht laenger der Sozialstaat hier? Verstaerkt entzieht sich die wirtschaftliche Entwicklung nationalstaatlicher Kontrolle, waehrend ihre sozialen Folgen wie Arbeitslosigkeit, Armut und Migration weiter in den lokalen Netzen des Sozialstaates auflaufen. Man sieht schnell, dass keine einfachen oder nur intellektuelle Loesungen moeglich sind. Um so mehr sehe ich es heute daher als Aufgabe meines Faches, der Soziologie, ihren alten Gegenstand einer national vorgestellten Gesellschaft auf eine neue Konfiguration global vernetzter Ablaeufe umzustellen und insofern Global Studies zu betreiben. Neue Realitaeten brauchen eine neue Beschreibungssprache gesellschaftlicher Sachverhalte, oekonomischer Bewegungen, kultureller Stroemungen und institutioneller Rearrangements, auch solcher oeffentlicher Arenen, die sich Globalisierungskritiker und -apologeten wie alle neuen sozialen Kraefte erst schaffen muessen. Der Globalisierungsbegriff und >Global Studies< zeigen diese Suche nur an, denn sie geht weiter. [Anm.d.Red.: Der Verfasser dieses Beitrags arbeitet am Innsbrucker Institut fuer Soziologie.]

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