Wild Campen #2

Indien war der Anfang vom Ende, sagt die Frau vom Landwehrkanal und legt die Haekelnadeln beiseite. Ohne Geld und Krankenversicherung in Indien mit einem Neugeborenen.

Dies hier – sie deutet auf ihr provisorisches Lager aus Einkaufswagen, Taschen und Plastikbeuteln – sei nichts dagegen. Die Frau heisst Mo und ist Schauspielerin, ausgebildet vom Lehrer von Goetz George. George schaetzt sie bis heute, er sei einer der ganz Grossen. Es sei schwer gewesen, damals an Frauenrollen zu kommen, erzaehlt sie. Zumindest die, die sie haette annehmen koennen. In die Provinz – an westdeutsche Buehnen ausserhalb von Berlin – will sie nicht. Dort werden junge Frauen auf einen bestimmten Typus reduziert: Bitte recht artig laecheln und bloss nicht schlagfertig sein, sagt sie. Sie will Brecht spielen, am liebsten die heilige Johanna.

In Indien wird das Kind geboren, Mo selbst ist totkrank. Erster Aerger mit der Krankenversicherung, die Dokumente verschlampt, und behauptet, sie sei kein Mitglied. Keine medizinische Versorgung fuer Mo in Indien. Zum Zeitpunkt der Reise hat Mo noch eine unbefristete Stelle als Sportlehrerin beim Berliner Senat, der Arbeitgeber setzt sich fuer sie ein. Als sie dann mit dem Kind endlich in Berlin eintrifft, ist Winter. Die Wohnung mit dem Kohleofen wird und wird nicht warm. Der Vater des Kindes hat sich schon vor der Indienreise davon gemacht. Ein Kuenstler, der kaum etwas verkauft und mit dessen Unterstuetzung nicht zu rechnen ist.

Berlin im April 2007. Nachts ist es noch frisch am Landwehrkanal, je waermer die Tage, desto unertraeglicher wird es unter freiem Himmel. Das Amt habe Hilfe zugesagt, aber die Muehlen der Buerokratie… Sie wisse ganz gut, wie die Leute dort ticken. Als obdachlose Hartz-IV-Empfaengerin eine Wohnung zu bekommen, ist ohne Unterstuetzung fast unmoeglich. Der Gruenstreifen sei ein friedlicher Ort, sagt sie. Es kaemen Menschen vorbei und die Gefahr, von Jugendlichen attackiert zu werden, sei geringer als anderswo. Kurz nach Silvester blickte Mo in den Lauf einer Pistole. Abends um neun in einer abgelegeneren Ecke Kreuzbergs. Das Leben auf dem Gruenstreifen am Kanal bringt anderen Stress. Im Sommer neben der Hitze vor allem Staub. Nach einer Nacht auf dem Lehmboden muss Mo ihre Kleidung wechseln.

Ein Zelt aufzuschlagen ist verboten, das waere dann wild Campen. Sonst hat das Gruenflaechenamt nichts gegen ihren Verbleib am Kanal einzuwenden – sie sei ordentlich und lasse keinen Muell liegen. Tatsaechlich scheint sich eine gewisse Ordnung wie von selbst herzustellen. Ohne lange zu suchen, findet Mo in der Tasche eines roten Jacketts einen Stapel Postkarten: Kunst trotz[t] Armut, Liebling steht darauf – ein Veranstaltungshinweis fuer eine Ausstellung, die Kunst von obdachlosen Menschen zeigt. >Gehen Sie dort mal vorbei, ist ganz interessant. Ich bin uebrigens Mo.

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