Paket unzustellbar? Warum Verkehrskontrollen, ob online oder offline, immer wichtiger werden

Wenn Europas Antwort auf den “Migrationsdruck” Sicherheit priorisiert, dann müssen wir einmal mehr über Überwachung diskutieren. Die Berliner Gazette-Redakteurin Sabrina Apitz skizziert, wie Überwachung heute immer mehr zu einer unrechtmäßigen Praxis der willkürlichen Verkehrskontrolle wird.

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Der Philosoph Michel Foucault untersuchte Überwachung als eine Form der Disziplinierung unter der Annahme, Menschen ändern ihr Verhalten, wenn sie beobachtet werden, vor allem an geschlossenen Orten wie Gefängnissen oder Fabriken. Im Panoptikum – ein Modell zum Bau von Gefängnissen, Schulen, Fabriken und andere Anstalten – erkannte Foucault das Symbol für die Überwachungs- und Herrschaftsstrukturen der modernen Zivilgesellschaft.

Das Panoptikum ermöglicht einem Wächter von der Warte eines zentralen Turms aus, sämtliche kreisförmig um ihn herum angeordneten Zellen und Räume zu überblicken – ohne seinerseits von den Insassen gesehen zu werden. Diese werden so unter die permanente potenzielle Kontrolle eines allumfassenden Blickes gestellt, sollen in ständiger Angst leben, gesehen zu werden und ihr Verhalten so vorsorglich anpassen.

Mobile Bevölkerungsgruppen

Heute geht es nicht mehr vorrangig um Menschen in einem Gefängnis, sondern um mobile Bevölkerungsgruppen. Die Nutzung vernetzter Technologien (neue smarte Geräte, die wir ständig mit Daten füttern, Chipkarten, etc.) erlaubt deren Überwachung. Der Schwerpunkt liegt auf der Kontrolle von spezifischen Verhaltensmustern sowie auf ihrer Vermeidung.

Eine solche Verschiebung ist verbunden mit der konstanten Entwicklung der Überwachung weg von der gezielten Kontrolle von Individuen und spezifischen Gruppen hin zur Massenüberwachung. In diesem Kontext erlangt das Konzept von Big Data eine besondere Rolle. Die Quantität erlangt eine neue Qualität, wenn das Überwachungssystem, stets auf der Suche nach ‚verwertbaren Informationen’, unbekannte Beziehungsmuster offenzulegen im Stande ist – eine Verschiebung von einzelnen Inhalten zu dem Verhältnis von Kommunikationsvorhängen.

Diese technologischen Verfahren mögen schon länger bekannt gewesen sein, doch erst Snowdens Enthüllungen haben diese Fakten auf die Agenda des öffentlichen Interesses gebracht. Die Lage ist damit nicht einfacher geworden. Im Gegenteil.

Kann der Staat allein der Adressat für Forderungen sein?

Der Überwachungsapparat ist ein komplexes Netzwerk aus Regierungen und kooperierenden Akteuren. Zudem werden seit dem Erfolg von Social-Media-Netzwerken auch die NutzerInnen selbst zu Zulieferern von persönlichen Daten. Kann vor diesem Hintergrund der Staat allein der Adressat sein, wenn es um Forderungen zum Abbau von Überwachung geht? Offensichtlich muss ebenso der private Sektor zum Adressaten von Forderungen werden, als auch die Massen von NutzerInnen.

Doch schon beim Staat muss man gegen eine verschlossene Tür anrennen: Die Fragen nach den Auswirkungen der Überwachung auf die Demokratie werden spätestens seit den Terrorattacken vom 11. September vom Argument der nationalen Sicherheit überschattet. Die politische und gesellschaftliche Relevanz, die dem Konzept der Sicherheit gegenwärtig zugeschrieben wird, führt dazu, dass demokratische Strukturen untergraben werden. Forderungen nach Abbau von Überwachung beziehungsweise nach demokratischer Kontrolle von Überwachung werden als abwegig abgetan.

Immer wieder heißt es, wir hätten nichts zu befürchten, wenn wir nichts zu verbergen haben. Die Annahme, nur unter spezifischen Verdacht stehende Personen würden überwacht, lässt sich widerlegen. Faisal Gill ist amerikanischer Staatsbürger, Patriot und Republikaner. Er diente in der Navy, ist Rechtsanwalt und arbeitete Anfang des Jahrtausends im Weißen Haus für das Department of Homeland Security.

Weil Faisal Gill Muslim ist

Glenn Greenwald hat im Juli 2014 den Fall Faisal Gill veröffentlicht und offenbart, dass die NSA und das FBI geheime Verfahren zur Überwachung seiner E-Mails angewandt haben, die sich eigentlich gegen Terroristen und ausländische Spione richten. Warum? Weil Faisal Gill Muslim ist. Auch andere amerikanische Muslime, darunter Politiker, Menschenrechtsaktivisten, Akademiker und Anwälte, wurden laut Greenwalds Auswertung der Snowden-Dokumente nach dem 11. September jahrelang überwacht.

Dieser Fall ist wichtig, weil er deutlich macht, dass nicht nur, wie Faisal Gill, jeder Bürger und jede Bürgerin nicht vor Überwachung geschützt ist, sondern auch, dass er der Überwachung im Besonderen Maße schutzlos ausgesetzt ist, da er einer bestimmten Gruppe angehört. Damit ist sein Recht auf Privatsphäre nicht zusammen mit Millionen anderen eingeschränkt worden, sondern unterscheidet sich auch offensichtlich von dem anderer Gruppen.

Gill war verstört, festzustellen, dass er überwacht wurde, denn seiner Überzeugung nach, heißt in einer Demokratie zu leben, auch, darüber Kenntnis zu haben, was Regierungen tun und die Möglichkeit, dies auch in Frage zu stellen, wenn nötig.

Belohnungs- und Bestrafungs-Mechanismen

Aber was ist Demokratie? Viele würden argumentieren, dass Demokratie zu effektiver Entscheidungsfindung beitragen kann und vor Korruptionsmacht schützt. Zentraler Aspekt der Demokratie ist auch die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern. Sie brauchen Zugang zu Informationen und eine freie Presse, um Regierungen beurteilen zu können.

In China plant die Regierung ein zentrales Social Credit System, das Daten über die gesamte Bevölkerung erfassen soll. Basierend auf diesen Daten und erstellten Persönlichkeitsprofilen sollen Belohnungs- und Bestrafungs-Mechanismen entwickelt werden. Abweichendes Verhalten soll sanktioniert werden, darunter fällt Online-Betrug, aber auch das Verbreiten von Gerüchten.

Zur gleichen Zeit arbeiten private chinesische Großunternehmen, darunter der Social-Media-Betreiber Tecent oder die Handelsplattform Alibaba an Scoring-Systemen, die zur Bewertung von Personen auf Daten aus Zahlungs- und Onlineverhalten sowie aus dem eigenen sozialen Netzwerk zurückgreifen.

Welche Bedeutung hat die Privatsphäre tatsächlich?

Dies mag nach einer von uns vermeintlich weit entfernten Dystopie klingen, doch auch in unseren ‚westlichen’ Ländern sammeln Unternehmen flächendeckend Daten über die Bevölkerung, nur funktioniert dies im Unterschied zum staatlich gesteuerten Kapitalismus in China netzwerkartiger. Durch den digitalen Wandel hat sich die Dichte der verfügbaren Informationen über unseren Alltag immens erhöht.

Einziges Mittel, um größere Teile der Bevölkerung zu mobilisieren, scheint der Hinweis auf die Privatsphäre, die es zu schützen gilt. Nur greifen diese oft zu kurz. Welche Bedeutung hat die Privatsphäre tatsächlich? Können wir sie in Zusammenhang zur täglichen Praxis der Überwachung denken und sie damit als wichtiges Element im Widerstand gegen unangemessene oder illegale Überwachung nutzen?

Der Überwachungsforscher David Lyon etwa spricht der Privatsphäre ein emanzipatorisches Potenzial zu: als Recht und Vehikel, um gegen unzumutbare Überwachung vorzugehen. Dafür muss das Konzept aber überdacht werden, darf zu einer abstrakten Angelegenheit mit wenigen Bezugspunkten zur wirklichen Welt reduziert werden, noch zu einer Idee des abgeschotteten Individuell-Privaten.

Zeit für Ko-Immunität

Führt die Transparenz personenbezogener Daten nicht dazu, dass der Körper seine Schutzfunktion als private Bastion aufgeben muss, da er ständig in digitale Datensätze geteilt werde, die wiederum in Datenbanken gespeichert und von da aus über virtuelle Netzwerke verbreitet würden? Verliert der Einzelne in Folge dessen nicht die Kontrolle darüber, welche personenbezogenen Informationen wem und zu welcher Zeit bekannt werden?

In einer Post-Snowden-Welt ist eine Form von Privatsphäre nur dann sinnvoll, wenn sie als Gemeingut gedacht wird. Das heißt Privatsphäre kann nicht nur eine privates Gut sein, sondern muss als soziales Gut gedacht werden. Etwas, dass nicht nur eine Person, sondern potenziell alle Personen schützt. Ein Schutz also, der alle auf sichere Weise miteinander verbindet. Das könnte als “Ko-Immunität” beschrieben, wie der Philosoph Peter Sloterdijk in einem anderen Kontext gesagt hat.

Privatspähre als ein komplexes Konstrukt, das sich aus sozialen Beziehungen und Menschenrechten zusammensetzt, wird nicht zuletzt einer vernetzten Kommunikationsinfrastruktur wie dem Internet gerecht. Doch kann das Internet dieser Idee gerecht werden? Was ist heute noch an der optimistischen Idee seines demokratischen Potentials dran?

Eine demokratische Infrastruktur?

Seit den 1980er Jahren gilt das Netz als Schlüsselträger technologischer Freiheit. Doch man war sich auch immer der Tatsache bewusst, dass das Internet keinesfalls inhärent Freiheit fördert. Schon damals wusste man, dass alles davon abhängt, wie Regulierung und Zugang organisiert werden. Und dass sich anhand davon bestimmen ließe, ob diese neue Form der Kommunikation Demokratie als politische Plattform befördern würde, oder nicht.

Snowdens Enthüllungen zeigen in aller Deutlichkeit, dass die wichtigste Kommunikationsinfrastruktur des Planeten eine janusköpfige Erfindung ist. Auf der einen Seite hat es sichtlich demokratisches Potenzial, in dem es beispielsweise denjenigen eine Stimme verleiht, die sonst nicht gehört werden.

Auf der anderen Seite jedoch ist seine zunehmend opake Architektur anfällig für die unrechtmäßige Kontrolle von Kommunikation und somit anfällig für willkürliche Entscheidungen klandestiner Dritter darüber, wie Verbindungen zustandekommen: Welche Pakete uns via Empfehlungsalgorithmen erreichen und welche nicht. Und vielleicht noch grundlegender: Wie schnell Pakete eintreffen und ob überhaupt.

Analog dazu geht es im Migrationskontext beispielsweise um “push backs”, oder, wie es in der gereignigten Sprache des gesamteuropäischen Grenzmanagements heißt, um “nicht abgewickelte Rücksendungen” (Frontex), wenn Menschen daran gehindert werden, sich einer EU-Außengrenze zu nähern oder jene zu überschreiten.

Politik des Internets

Einer der wichtigsten Aspekte der Snowden-Kontroversen war von Anfang an die Politik des Internets, ein zentraler Punkt im Zeitalter der Massenüberwachung. Regierungen auf der ganzen Welt wurden verpflichtet, auf die anhaltenden Debatten über die Staatsmacht und ihre Verstrickung mit dem kommerziellen Sektor, vor allem Internet-Unternehmen, zu reagieren.

Ein wichtiges, aber nicht allzu medienwirksames Thema ist dabei die Netzneutralität. Dabei geht es um die Gleichbehandlung von Daten bei der Übertragung im Internet und den diskriminierungsfreien Zugang bei der Nutzung von Datennetzen. Selbst Obama hat dies zum Ideal für eine innovationsoffene und demokratische Gesellschaft erklärt. Doch was bedeuten solche Lippenbekenntnisse?

In Europa wurde im Januar 2014 die internationale und unabhängige Kommission Global Commission on Internet Governance mit der Aufgabe gegründet, Nachforschungen zur Zukunft des Internets anzustellen. Nicht unumstritten ist die Zusammensetzung der Kommission, die aus 25 Mitgliedern besteht, darunter ehemalige Geheimdienstbeamte, Akademiker und Politiker. Es ist dennoch ein Anfang.

Anm.d.Red.: Mehr zum Thema in unserem POST-SNOWDEN Dossier.

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