>Ein Roman ohne Hauptfigur! Verstehst du? Die Komposition, die Verbindungen, der Bogen, aber kein Protagonist, kein durchgehender Held.< So beginnt die zweite Episode in Daniel Kehlmanns >Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten.< Hier spricht Leo Richter. Wer aber spricht wirklich? Der Autor des Buchs durch einen seiner Helden? Oder eine Figur fuer seinen Autor?
Immer wieder gibt es diesen Dialog zwischen den Ebenen – manchmal kommen sogar auch Autor und Figur miteinander ins Gespraech. Kehlmanns neues Buch ist ein Spiegelkabinett, und auch wenn es keine Hauptfigur gibt, so doch einen >Hauptkonflikt<, den alle Figuren auf die eine oder andere Weise austragen muessen. Es ist ein Konflikt, der sie nicht nur im Geiste, sondern haeufig auch ganz konkret miteinander verknuepft. Das waeren die Verbindungen, der Bogen dieses Romans ohne Hauptfigur. Worin aber besteht dieser Konflikt? Der Titel des Romans deutet es an, es geht um die Welt der Stars: Schriftsteller, Schauspieler, etc. Aber nicht nur. Was der Titel nicht sagt: Es geht gleichzeitig auch um die Welt der Telekommunikation: Handys, Computer, etc. Dies sind zwei Seiten ein und derselben Konflikt-Medaille. Maria Rubinstein etwa bekommt sie in Russland zu spueren - in der fuenften Episode, die den Titel >Im Osten< traegt. Wie Leo Richter ist auch sie eine beruehmte Autorin. Auch in Russland kennt man sie. Davon zeugt >ihr Name in kyrillischer Schrift [auf einem Buchdeckel], darunter ein Titel, den sie nicht lesen konnte, aber sie wusste, es war Dunkler Regen, ihr erfolgreichster Roman.< Als Rubenstein dieses Buch sieht, ist es schon zu spaet. Ihr Mobiltelefon hat den Geist aufgegeben, sie hat keine Verbindung zur Welt mehr. Besonders folgenreich ist dies deshalb, weil sie ihre Gastgeber in der Pampa aus unerfindlichen Gruenden vergessen haben, sie kein Russisch spricht und ein abgelaufenes Visum hat. Aber auch >der kleine Mann< muss leiden, etwa dann, wenn er faelschlicherweise die Telefonnummer einer anderen Person zugewiesen bekommt, und nicht von irgendwem, nein, ausgerechnet von einem Star: >Ralf, bist Du es?<. Der Schauspieler Ralf Tanner ist lange Zeit nur ein Name, ein Plakat: eine Marke, ebenso wie der Schriftsteller Miguel Auristos Blancos. Irgendwann treten sie tatsaechlich in Erscheinung, aber auch dann versteht es Kehlmann den Leser mit unerwarteten Wendungen zu ueberraschen: Wer ist jetzt echt? Ralf Tanner oder sein Imitator? Schein und Wirklichkeit - staendig werden diese Ebenen verschoben, miteinander vertauscht, bisweilen auch verwechselt. Manchmal stimmt der normale Massstab nicht mehr: Groesse und Entfernung - immer wieder stehen diese Dinge Kopf. Ein Angestellter wird als Star angerufen, ein provinzieller Imitator wird ununterscheidbar mit dem weltberuehmten Original, eine Romanfigur macht dem Autor einen Strich durch die Rechnung und gibt der Erzaehlung eine neue Richtung: >Zwanzig Seiten Entwuerfe, vieles davon wirklich gut, die ich jetzt wegwerfen kann.< Die lose Struktur des Romans in neun Geschichten ermoeglicht es Kehlmann, neue Aspekte des Erzaehlens zu profilieren. Die Welt, die er entstehen laesst, ist nicht zusammenhangloser als die Welt der klassischen Romane. Das ist vielleicht auch die wichtigste Botschaft dieses Buchs hinsichtlich der Welt ausserhalb des Buchs: Der Zusammenhang ist ein anderer, was sich nicht zuletzt darin aeussert, dass sich diese beiden Welten ueberhaupt nicht mehr eindeutig von einander abgrenzen lassen. Dieses Problem ist der zeitgenoessischen Kultur inzwischen wohlbekannt. Filme, Popsongs, aber eben auch Romane machen es zum Thema. Wer darueber nachdenken moechte, wie sich Kehlmanns Position von den anderen unterscheidet, oder vielleicht auch nur, was seine Position besonders macht, sucht nach einem Gespraechspartner und findet ihn etwa in einem Band der Zeitschrift fuer Literatur >Text + Kritik<. Die Ausgabe 177 ist Daniel Kehlmann gewidmet, Herausgeber Heinz Ludwig Arnold hat neun Autoren versammelt, die unterschiedliche Aspekte des noch jungen Werks beleuchten.
Hier werden Texte beruecksichtigt, welche bislang noch nicht so sehr im Rampenlicht standen wie >Die Vermessung der Welt< und es werden Stimmen zu Gehoer gebracht, welche in der bisherigen Rezeption ungehoert blieben. Helmut Krausser etwa, ein Kollege Kehlmanns und dem Selbstverstaendnis nach sein schaerfster Konkurrent, sinniert ueber ihr Verhaeltnis und den Roman >Mahlers Zeit<. Obgleich vor >Ruhm< erschienen - das Kompendium enthaelt uebrigens auch einen Auszug des Romans - ist der Wissensstand dieses >Gespraechspartners< mehr als ausreichend. Er sollte als Anstoss gelesen werden, um Kehlmanns Beitrag zur zeitgenoessischen Kultur zu ueberdenken.