Globalisierungskritik, wie weiter? Antwort #13

Nach Heiligendamm sieht die Welt anders aus! Die Zeit der Gewaltfreiheit und des zivilen Ungehorsams ist – unwiderruflich – da. Die menschlichen Erfahrungen und Veraenderungen von zehntausend Blockierern um Heiligendamm, von zahlreichen AnwohnerInnen und auch von Medienleuten vor Ort werden eine Welle der Angstfreiheit nach sich ziehen. Immer wieder wird es die Runde machen: >No fear!< TeilnehmerInnen uebertreffen sich in ihren Berichten gegenseitig an Dankbarkeit gegenueber unzaehlig vielen Menschen, die um Heiligendamm die Wirklichkeit eines menschlichen Miteinanders als Alternative gelebt haben.

Erstmalig in der neueren Zeit gibt es ein oeffentliches >Bild<, das die lethargischen Lamentos ueber eine >entpolitisierte Jugend< zum Verschwinden bringen kann. Der Countdown fuer die Diskreditierung staatlich erwuenschter Kriegsspiele auf der Strasse hat begonnen, und die lustvolle, gemeinsame Entdeckung eines froehlichen Ungehorsams im ungeschmaelert breiten Spektrum laesst sich nicht zerreden. Die Grosshirnrinde innerhalb des breiten Buendnisspektrums wird weiter erkunden, was sich alles gewaltfrei bewerkstelligen und blockieren laesst. Dabei wird man feststellen, dass Intelligenz und Phantasie eigentlich keine Grenzen kennen. Und genau das hatte man befuerchtet. Denn bei neuen Kriegseinsaetzen, neuen Attacken auf die sozialen Rechte oder weiteren kommunalen Privatisierungsausverkaeufen kann es jetzt jederzeit vor Ort zu effektiven Protesten kommen – moeglicherweise auch mit vernetzter Hilfe aus Nachbarorten. Nach Heiligendamm muessen das >neoliberale< System und eine Politik, die die Konzernagenda bedient, mit den Menschen rechnen. - Nun hat die Gewalt einer Minderheit von Demonstranten in Rostock am 2. Juni namentlich uns Pazifisten erschuettert. Wir moechten weiterhin wissen, wie genau das geschehen konnte und ob die Urspruenge am Ende vielleicht wirklich dem staatlichen Gewaltplan von Genua – in einer gleichwohl modifizierten Form – aehneln. Wir werden uns mit keinem Steinewerfer und Brandstifter solidarisieren, soweit es eben das Steinewerfen und das Zuendeln betrifft. Wir werden uns nicht weismachen lassen, Polizisten waeren Feinde. Doch wir geraten sehr schnell in eine selbstgerechte Falle, wenn wir uns nach solchen Abgrenzungen einfach nur noch in gefahrenfreie und risikofreie Zonen begeben. Die Fortschritte und Vertrauensprozesse im neuen Buendnisspektrum koennen eben nicht ueber Nacht den erwuenschten Zustand schon perfekt machen [auch wenn die Blockaden von Heiligendamm in dieser Hinsicht alle guten Erwartungen uebertreffen]. Die Herausforderung fuer Pazifisten besteht darin, die Fragen neuer Buendniskonstellationen und ihre eigene Rolle sensibel wahrzunehmen. Hoechstwahrscheinlich war schon Jesus von Nazareth mit aehnlichen Fragen konfrontiert. Simon der Eiferer [Simon Zelotes], Mitglied im engsten Juengerkreis, gehoerte wohl urspruenglich zu den Zeloten, die den juedischen Widerstand gegen die roemische Besatzungsmacht gewaltsam fuehrten. Die meisten Anliegen der Zeloten hat Jesus wohl geteilt, ihre gegen andere Menschen gerichtete Gewaltanwendung hingegen kompromisslos abgelehnt. Auch Bonhoeffer, Gandhi, Martin Luther King oder Bischof Oscar Romero haben – z.T. sehr unterschiedliche – Erfahrungen im Kontakt mit gewaltbereiten Menschen oder bewaffneten Widerstandskaempfern gemacht. Pazifisten wie z.B. die Berrigan-Brueder in den USA oder auch Aktionsgruppen bei uns halten staatliche Zaeune um Atomwaffenarsenale nicht fuer schuetzenswert. Sie sind bereit, gegen Verbrechen wider die Menschheit entschiedene Zeichen zu setzen und dabei Gesetze zu brechen. Gewaltfreiheit ist nun fuer Pazifisten und zumal fuer religioes motivierte Pazifisten viel mehr als eine blosse Strategie. In Buendnissen – wie dem erfolgreichen von Heiligendamm – genuegt aber bei gemeinsamen Aktionen zunaechst ein zuverlaessiger gewaltfreier Praxiskonsens. Der Pazifist muss dabei intolerant sein, denn fuer ihn kommt Gewalt eben als alternative Widerstandsform gar nicht in Frage. Genau deshalb wird aber von einem Teil der so genannten Linksradikalen ein Verzicht abverlangt, soweit sie eben nicht nur auf einen gewaltfreien, zivilen Ungehorsam festgelegt sind. Aus ganz unterschiedlichen Perspektiven heraus meinen beide Gruppen, die jeweils andere Gruppe habe bei gemeinsamen Unternehmungen letztlich alle Faeden in der Hand und man selbst sei benachteiligt [entweder aufgrund eines einzugehenden >Gewaltrisikos< oder aufgrund eines strikt begrenzten Aktionsradius]. Das muss man sich zumindest bewusst machen! Ich kann die Herausforderungen nach Heiligendamm hier nur andeuten. Der Staat wird versuchen, durch verstaerkte Observierung und Repression gegen sog. >autonome< oder >radikale< Gruppen diese doch wieder zur Militanz zu fuehren. Wir Pazifisten haben ein Feindbild, das Steinewerfer betrifft, und mitunter kommt es, wie ich an mir selbst nach Rostock erschreckend feststellen musste, in einer schaendlichen Sprache zutage. Werden wir uns auf kollektive Feindbild-Projekte einlassen und – moeglicherweise aus purer Feigheit – auf Solidarisierungen mit verdaechtigten oder observierten Gruppen verzichten? Dann waere das >Wunder von Heiligendamm< sehr schnell wieder zunichte gemacht. Auf der anderen Seite muessen wir unser Konzept der Gewaltfreiheit auch politisch vermitteln und seine innere wie praktische >Logik< vor allem in Abgrenzung zur >Logik< der herrschenden Weltunordnung transparent machen. Da wir wohl selbst beim inneren Weg der Gewaltfreiheit, den wir als Voraussetzung auch fuer aeusseren >Erfolg< betrachten, zumeist erst am Anfang stehen, ist der vernuenftige politische Diskurs ueber gewaltfreie Strategien nicht nur ein kleiner Kompromiss. Er ist der Boden fuer weitere Erfahrungen. Politisch motivierte Gewaltanwendung hat noch immer den Architekten des Polizeistaates alle Befugnisse in die Haende gespielt und kann keine historischen Erfolge aufweisen. Krieg gegen eine Kriegsordnung funktioniert nicht. Gewaltfreiheit ist alternativlos und hat auch in empirischer Hinsicht wirklich alle Argumente auf ihrer Seite. Das laesst sich auch vermitteln. [Anm. d. Red.: Der Verfasser dieses Beitrags ist christlicher Pazifist]

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.