Mauern fallen nicht so leicht. Wie beginnen, wenn man sich selbst eingestehen muss, dass man zwar den >Mauerfall< bewusst, als politisches Ereignis mitbekommen und gut geheissen hat, dass man sich aber nicht sicher ist, ob in einem selbst nicht noch der Rest einer Mauer existiert? Als Kind fuhr ich mit meinen Eltern in die Ostzone, denn eine Haelfte der Verwandtschaft lebt dort. Dort, das war weit weg. Die Bahnfahrt dort hin dauerte 20 Stunden.
Man hatte mir eingeblaeut, keine bloeden Fragen dort zu stellen, oder aber zuviel vom Westen zu erzaehlen, denn dort, in der Zone, gab es boese Menschen, die einen aushorchen und ins Gefaengnis bringen wuerden. An der Grenze duerfte ich mich ueberhaupt nicht muxen, weil es dort Leute mit Gewehren gab. Das war alles schon sehr verwirrend fuer einen Jungen von knapp fuenf Jahren. Polizisten haben Waffen und die brauchen sie, weil sie auf Gefangene aufpassen, so hatte ich mir als Kind eben die Sache selbst erklaert. Also dachte ich, wenn man in die Ostzone fuehre, waere das so wie ein Besuch in einem Gefaengnis.
Dass meine Verwandte durchaus keine Gefangenen waren, so wie ich mir das vorgestellt hatte, das habe ich schnell festgestellt, aber das machte die gesamte Situation fuer mich als Kind nicht durchschaubarer. Der erste Besuch verlief wie so ein Verwandtenbesuch eben ablaeuft, Kinder werden mit Suessem und Erwachsene mit Alkohol verwoehnt. Die Gegend war neu und Angeln lernen machte Spass. So weit der erste Besuch. Zurueck Zuhause machte meine Mutter mir klar, dass wir auf einige Sachen verzichten muessten, weil wir Pakete in die Zone schickten, weil es da doch nichts gab.
Also doch irgenwie Gefaengnis, oder was? Zwischendurch wurde die Mauer gebaut, ich fand diesen betonierten Streifen Land mit der Mauer, bei der Fahrt zur Verwandtschaft, irgendwie fremd und unverstaendlich. Ich habe, weil es alle taten, Zuhause im Westen gegen das System gewettert, zumeist unreflektierte Parolen nachgeplaerrt, die ich von meinen Eltern bekam. Die Besuche wurden fuer mich nach und nach spaerlicher, spaeter fuhren meine Eltern alleine. Irgendwann gab es eine Regelung, die dafuer sorgte, dass von der Verwandtschaft zumindest einer alleine, bei Parteitreuen Bewohnern des Landes, das nun DDR hiess, auch schon einmal zwei Verwandte gleichzeitig kommen und uns besuchen durften, dafuer bekamen sie dann Geschenke, Begruessungsgeld.
Ich selbst, politisch durch die Eltern indoktriniert, legte damals grossen Wert darauf, den Wert unseres Systems hervorzuheben, musste allerdings beim Besuch des Grossvaters erleben, dass er alles, was er sah, nur fuer gezielte Propaganda des kapitalistischen Westens hielt, er weigerte sich bis zu seiner Abfahrt, in die Stadt zu gehen. Opa, so wurde mir erklaert, war eben Altkommunist, der kannte es nicht besser, falscher Glaube eben, bei dem alle Versuche der Bekehrung zwecklos waren. Aha, so einen wir hatten also in der Familie. Darueber durfte ich bei uns uebrigens auch nicht reden, was sollten schliesslich die Nachbarn von uns denken. Wurden wir etwa auch ueberwacht?
Ich wurde aelter, begann irgendwann, eigene Gedanken zu entwickeln. Zwischenzeitlich brachen fuer mich die verwandtschaftlichen Beziehungen ganz ab, man hatte sich nicht wirklich etwas zu sagen, die Paketsendungen blieben regelmaessig. Es gab immer noch die Mauer, und wer glaubte denn wirklich, dass sich daran etwas aendern wuerde? Ab und an gab es Fluechtlinge, die fuer Artikel der Boulevardpresse Auflage- und Umsatzsteigernden Wert hatten. Biermann war eine ganze Zeit bei Jugendlichen angesagt.
Ja und dann, wer haette es denen drueben ueberhaupt zugetraut, Ungarn und die Tschechoslowakei waren schon lange vergessen, da kamen ganz neue Toene aus dem Ostlager. Zuerst Polen, dann… ach, wer weiss das alles noch so genau… Wie beim Dominoday fielen die Steine und auf einmal gab es die Parole >Das Volk sind wir< . Es gab neue Hoffung, worauf auch immer, und irgendwann gab es den Mauerfall, man fand es toll. Dann auf einmal wurde soetwas wie staatlich sanktionierte Solidaritaet mit denen von drueben gefordert und ... es wurde sehr schnell registriert, dass es in diesem Zusammenhang nichts umsonst gab... Zuerst Spasses halber kam der Satz auf, >Haetten wir doch die Mauer wieder<. Dann wurde der Unmut zu beiden Seiten der ehemaligen Grenze gross und der Wunsch nach der Mauer zum gefluegelten Wort. Hatten wir uns das alles so vorgestellt, haette man das Ganze nicht langsamer machen koennen? Mussten die denn das schoene Geld von uns bekommen? An wem blieb alles haengen? Die drueben hatten doch nichts und nicht mal richtig arbeiten konnten die. Woher auch, sie hatten immer nur in Volkseigenen Betrieben rumgegammelt, weil sie nichts zum Produzieren hatten, so erzaehlten sie selbst und...und...und irgendwann, nein von Anfang an, haben die nur immer Forderungen gestellt. Latent vorhandene Graeben brachen auf und die Aversionen wurden gepflegt. Hallo, wer war denn am Zusammenbruch unserer so heissgeliebten Westwirtschaft Schuld? Die machten es einem aber auch schwer, und dann auch noch diese Neo Nazis... Ich weiss, das was ich zusammenschreibe ist nicht mehr und nicht weniger als das Konglumerat aus allgemeinen und persoenlichen Erfahrungen, Vorurteilen, Fehleinschaetzungen, Halbwahrheiten. Es ist der Baustoff, aus dem fuer mich die Mauer bestanden hat...noch immer besteht? Ich weiss es nicht. Ich bin mir jedoch ganz sicher, dass es noch sehr lange dauern wird, bis alte, neue, alte weitergetragene, neue erfundene Teile der Mauer in uns selbst endlich ganz fallen.