Der Herbst ’89 ist fuer mich gekennzeichnet durch drei Grenzueberschreitungen. Die erste war eine illegale. Nur wenige Tage nach der Maueroeffnung besuchte ich, elfjaehrig, meinen Onkel im Theater Mirakulum in der Brunnenstrasse. Auf Blickweite lag der Grenzuebergang. Ob wir nicht rueber wollten, fragte er. Noch waren Papiere notwendig, Kinder nur in Begleitung ihrer Eltern. Wir verkleideten mich, ein noch androgynes Kind, mit Kopftuch und Kleid als meine Cousine und ueberschritten mit Herzklopfen die Grenze, um den westlichen Teil der Brunnenstrasse ganz Benjamin-isch einmal rauf und runter zu flanieren.
Die zweite Grenzueberschreitung fand an eben jenem Tag auf eben jenem anderen Teil der Brunnenstrasse statt. Wir liefen, von den grellen Farben betaeubt, staunend Meter fuer Meter voran, wie in einem Museum. Ploetzlich hielt mich eine rundliche Verkaeuferin an, die vor ihrem Baeckergeschaeft stand. Sie uebergab mir feierlich eine Tuete Broetchen und sagte mit Pathos in der Stimme: >Hier, meine Kleine. Damit Du was zu essen hast.< Ich nahm die Tuete als hoefliche Geste, war peinlich beruehrt, doch ich verstand nicht ganz. Und noch heute ueberraschen mich damalige Klischees ueber die hungernde Bevoelkerung. Die dritte Grenzueberschreitung war eine aromatische. Wir fuhren zum Grenzuebergang Hof, um mit einem seit Jahren ausgewanderten Verwandten in seine neue Heimat Muenchen zu fahren. Treffpunkt: ein sich quer ueber die Autobahn erstreckendes und wie ein Hopper-Gemaelde anmutendes Restaurant. Hier begann eine neue Zeit des Riechens. Alles roch anders, intensiv und schwer: Moebel, parfuermierte Koerper, Geld, alles. Auch mit verschlossenen Augen konnte man sich dem nicht verschliessen. Die neue Freiheit war eine Herausforderung an die eigenen Grenzen.
Finde ich echt nett den Text – so persönlich und charmant ;)
Setzt sich schön von den üblichen Neunundachtziger-Texten ab. Vielen Dank.