Showdown in Leipzig

Es ist zehn Uhr morgens in Leipzig. Wir steigen schlaftrunken aus dem Bus, der uns am Messegelaende auslaedt. Wir sind literaturhungrige Berliner und Berlinerinnen, die sich frueh morgens in Berlin aus dem Bett quaelten, um sich in Leipzig mit Tausenden von Menschen an kargen Messebuden zu draengeln. Der Muesli-Riegel im Promo-Beutel der Reiseveranstalter ist mein Fruehstueck. Als ich am Eingang ankomme, sind meine Augen schon soweit geoeffnet, dass ich Peruecken erkennen kann – viele Peruecken.

Da ich die Verbindung von Peruecken zu Literatur aufgrund der fruehen Morgenstunde kognitiv noch nicht auf die Reihe bekomme, frage ich mich, ob vielleicht eine Frisoer-Messe neben der Buchmesse stattfindet. Aber ausser den Plaste-Haaren waren die meisten auch noch verkleidet: bunt, mit riesigen Fluegeln in den irrsinnigsten Formen, teils mit wallenden Maenteln, aristokratischen Kleidern, Ketten, Schwertern, Symbolen, teils in baeren-aehnlichen Ganzkoerper-Kostuemen, mit hohen Schuhen oder barfuss oder androgyn.

Die meisten hatten falsche Ohren, entweder als Muetzen oder als Haarreifen mit Ohren dran. Und alle draengten zusammen mit uns in die Leipziger Messehallen, eine Massenbewegung der achten Art: ist es ein globaler Emo-Fasching? Ein Gipfeltreffen Extra-Terristischer oder ein Fetisch-Treffen? Ein Grufti-Papst ist da, umarmt einen grossen orange-farbenen Baeren und kuesst eine Rococo-Frau mit Lack-Korsett. Ich kapiere nix und lasse mich treiben. In Gruppen laufen sie herum, begruessen sich, umarmen sich und fotografieren sich – und es werden immer mehr.

Es ist ein buntes Treiben tausender Jugendlicher, ein Jubilieren und eine Celebration, als wollten sie ein neues Jahrhundert einlaeuten oder in eine neue Aera aufbrechen – und alles fruehmorgens. Ich folge ihnen in ihre Halle und sehe, wie sie in langen Schlangen vor einer Reihe von Schaltern stehen mit Poesiealben in der Hand.

Nun endlich sehe ich die Stars der Szene, obwohl sie ihren Kopf nicht heben, weil sie zeichnen – mit Bleistift und Radiergummi. Und sie zeichnen Mangas, deutsche Mangas. Ich bin fassungslos, weil es so anachronistisch erscheint im giga-digitalen Zeitalter. Die Begeisterung der Fans will kein Ende nehmen. Am Nachmittag war ich dann auch soweit und kurz davor, mir eine Muetze mit ueberlangen Ohren zu kaufen, denn ich war komplett ueberwaeltigt und mitgerissen von dieser Parallelwelt.

Auch wenn die Szene ziemlich adipoes und blass trotz greller Schminke erscheint, und die Differenz zwischen Manga-Geschichten und Arzt-Romanen nur im Promille-Bereich liegt, ist es umwerfend zu sehen, wie Jugendliche an den aufwaendigsten Kostuemen basteln, auf dass herkoemmlich Faschingskostueme einpacken koennen, um sich fruehmorgens auf den Weg zu einer Buchmesse machen. Und alles, damit man dort analog Gleichgesinnte treffen und sich Bleistift-Zeichnungen ins Poesiealbum zeichnen lassen kann. Ein Aufbruch der ganz anderen Art.

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