Gegen den digitalen Stalinismus: Warum wir in der freien Welt neue Komplizenschaften brauchen

Der Eiserne Vorhang ist zwar längst Geschichte. Doch das derzeit vorherrschende Datenregime sorgt in der vermeintlich freien Welt für ein Déjà-vu. Der studierte Philosoph Thorsten Schilling skizziert den digitalen Stalinismus, plädiert für grenzüberschreitende Komplizenschaft und eine Neubestimmung der Rolle Europas.

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Vor 24 Jahren fiel die Berliner Mauer und mit ihr der Eiserne Vorhang. Der kalte Krieg und damit der 2. Weltkrieg fanden ihr friedliches Ende. Heute sehen wir im Reich der digitalen Kultur neue Eiserne Vorhänge entstehen. Dieses mal mitten in der westlichen Welt – es zeigen sich starke Symptome einer Art digitalen Stalinismus.

Die aggregierte Verbindung der zentralistischen und kaum kontrollierten Datenregimes und des darin versammelten Des/Informationsapparates von digitalen Konzernen wie Google, facebook, Amazon, Apple etc. und den Sicherheitsapparaten der Exekutive wie NSA u.a. können in ihrer Machtballung gar nicht unterschätzt werden.

Mich erinnert einiges daran an Zustände hinter dem Eisernen Vorhang, wie ich sie in der DDR erfahren habe. Auch wenn historische Analogien immer schief sind, vielleicht helfen sie dennoch für einen Moment, sich der Tragweite der aktuellen Geschehnisse bewusster zu werden. Deshalb nenne ich das derzeit vorherrschende Datenregime einen aufkommenden „digitalen Stalinismus“.

Was ist digitaler Stalinismus?

Digitaler Stalinismus heißt:

1. permanente massenhafte Überwachung von Kommunikation und Verhalten (z.B. als Konsumentendaten, Verbindungsdaten auf Plattformen etc., von Individuen, Institutionen, Gruppen etc.)

2. institutionalisierte Paranoia, versehen mit ungeheuren, maßlosen personellen, finanziellen und technischen Ressourcen

3. Bereiche unkontrollierter, für demokratische Kontrolle unzugänglicher (Über-)Macht (der Herrschaftsraum arkaner Politik, im Namen von Nationalen Sicherheitsinteressen oder im Namen des Geschäftsgeheimnisses)

4. eine wachsende Kultur des Misstrauens, der Verdächtigungen, der Diffamierungen, Desinformationen und der diffusen Furcht im digitalen Alltag

Das Individuum in den Gulags kommerzieller Clouds

Die Wirklichkeiten dieser vernetzten autoritären Praxis stellen substantielle Bedrohungen für grundlegende Werte und Regeln der liberalen Demokratie dar. In weiten Bereichen des kommerzialisierten und überwachten digitalen Lebens gilt „habeas corpus“ kaum noch, unteilbare Rechte des Individuums existieren hier nicht mehr.

Im Angesicht der großen und kleinen Datenfürsten wie Google, Amazon, facebook, NSA etc. kann es so etwas wie das Individuum nicht wirklich geben. Individuum bedeutet im Wortsinn unteilbar zu sein. In den digitalen Fürstentümern oder den Gulags kommerzieller Clouds habe ich als Einzelner aber alle Bestandteile meines Datenkorpus immer schon verloren gegeben und bestenfalls zurück geliehen bekommen, hier kann und soll ich nicht Souverän meiner Daten sein.

Wie im Stalinismus und anderen Absolutismen gibt es nur an der Spitze der Hierarchien noch so etwas wie einen Souverän, von dessen Güte oder Wahnsinn dann alle abhängig bleiben. Wo Un/Recht war, wird Un/Gnade sein.

Renaissance der Subkulturen

Es ist eine der historische Aufgaben unserer Gegenwart, diesen Tendenzen und Praktiken eines neuen übermächtigen Autoritarismus wirksam entgegen zu treten.

Ein Anfang könnte darin bestehen, sich unvoreingenommener mit den aktivistischen, dissidenten Herangehensweisen und Kulturen zu beschäftigen. (Vielleicht ist ja Snowden ein Sacharow unserer Zeit? Wie dieser kommt er aus dem technischen Apparat einer Supermacht. Es ist allerdings eine bittere und noch nicht durchschaubare Form der Komplizenschaft, wenn er nun unter der Obhut der Nachfahren des KGB sein Asyl fristet.)

In den dissidenten Kulturen des kalten Krieges waren Gewissensfragen leitend, waren die Werte unverzichtbarer Würde, demokratischer Freiheiten und Rechte die Prinzipien des Handelns. Diese Werte und Gewissensentscheidungen wogen die Gefahren für Leib und Leben immer wieder auf, gaben der Entschiedenheit und dem persönlichen Mut im Alltag Kontur. Solche Haltungen sind heute wieder gefragt.

Neue Allianzen eingehen

Aber dissidente Praktiken, selbst kritische Expertenkulturen sind nicht die Lösung, sie können nur einen Anfang machen. Die Mauer ist 1989 nicht durch ein paar Dutzend mutige Protestanten gestürzt worden. Erst als die Massen dabei waren, fiel das hohle Regime an seiner eigenen Schwäche zusammen.


Die Ideen, Konzepte, Lösungsansätze, Forderungen, die in den verschiedenen kritischen Diskursen und Praktiken, sei es im Aktivismus, sei es in der Publizistik, in wissenschaftlichen oder technischen Netzwerken kursieren, müssen neu zusammenfinden und Einzug in den Mainstream der öffentlichen Debatten halten. Das Unbehagen muss politisch werden.

Denn Alternativen zum digitalen Stalinismus sind möglich und ja auch schon beziehungsweise immer noch wirklich. Neue Allianzen müssen dafür gefunden und eingegangen werden. Die Bedrohung des klassischen Geschäftsmodells des privatwirtschaftlichen Journalismus durch die Oligopole von Google etc. auf dem digitalen Werbemarkt bringt die Interessen von Verlegern näher an kritische, ja auch aktivistische Diskurse als beiden Seiten bisher bewusst zu sein scheint.

Europa, und jetzt?

Und wenn die NSA unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung auch massive Wirtschaftsspionage treibt, sollte es im Interesse allein schon von Technologie- und Telekommunikationskonzernen in Deutschland beziehungsweise Europa sein, hier an eigenständigen europäischen IT Infrastrukturen zu arbeiten und eine proaktivere europäische Industriepolitik in diese Richtung zu unterstützen.

Europa wird sich angesichts dessen ohnehin neu definieren müssen. Nicht nur als Wirtschafts- und Währungsraum, sondern auch im digitalen Feld als eigenständige Kraft, die sich ihrer Interessen bewusst wird und viel entschiedener notwendige Ressourcen investiert. Europa steht vor der dringenden Frage, ob und wie es sich hier einigen und bewegen kann.

Ein dynamischer digitaler europäischer Raum, mit eigenen Ideen, Innovationszyklen und auch datenethischen Standards könnte aus solchen neuen Allianzen entstehen. Vernetzt mit seinen Partnern, äußerer Willkür aber nicht unterworfen.

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Anm.d.Red.: Der Beitrag ist eine überarbeitete und ins Deutsche übertragene Fassung des Grußworts, das Thorsten Schilling auf der 13. Jahreskonferenz der Berliner Gazette am 09.11.2013 hielt (siehe Live-Mitschnitt im Video-Player). Die umfangreiche Dokumentation der Konferenz (Live-Videos, Graphic Recordings, etc. findet sich hier: berlinergazette.de/complicity. Das Foto oben ist im Rahmen des Workshops “Hacker & Journalisten” entstanden (Credit: Andi Weiland | berlinergazette.de).

2 Kommentare zu “Gegen den digitalen Stalinismus: Warum wir in der freien Welt neue Komplizenschaften brauchen

  1. Danke für diesen nachdenklicjen Beitrag, ich habe in der NYT etwas gelesen, das schließt sich an und setzt einige Gedanken fort:

    “The rise of the consumer-surveillance economy is the uncomfortable and ironic backdrop to the outrage about the N.S.A. snooping.”

    “We are being dissected more than we dissect.”

    “To be free is to have a private zone in which you can be alone with your thoughts and experiments. That is where you differentiate yourself and grow your personal value.”

    http://www.nytimes.com/2013/11/28/opinion/digital-passivity.html?_r=0

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