Die Widersprüche des Kapitalismus führen zu sozio-ökologischen Konflikten. Um konkrete Handlungsoptionen zu entwickeln, wirft der in Mexiko Stadt ansässige Forscher Henry Veltmeyer in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” einen kritischen Blick darauf, wie die Technik der Extraktion von Marktkräften vereinnahmt worden ist und er untersucht, ob und wie diese Technik für post-kapitalistische und letztlich sozialistische Zwecke zurückgewonnen werden kann.
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Im Hinblick auf die Suche nach Alternativen sind Theoretiker*innen und Aktivist*innen sehr geteilter Meinung über die Schlüsselfrage, ob der Extraktivismus eine Rolle in dem spielt, was Eduardo Gudynas (2020) als den post-extraktivistischen Übergang zu einer integrativeren, gerechteren und nachhaltigeren Zukunft beschreibt. Aktivistische Wissenschaftler*innen und Theoretiker*innen, die sich mit dem Entwurf eines “Pluriversums” für eine Post-Development-Phase befassen und mit dem, was Escobar (2018) als “neue Ökologien für das 21. Jahrhundert” bezeichnet, sind sich mit denjenigen, die sich im Widerstandskampf so vieler indigener Gemeinschaften engagieren, einig, dass sowohl der Kapitalismus als auch der Extraktivismus überwunden werden müssen.
Der schmale Pfad zu einer nachhaltigeren Zukunft in der post-extraktiven Übergangsphase, der mit Fallstricken und Widersprüchen gespickt ist, hat sowohl eine lokale Dimension (Ressourcennationalismus, fiskalische Dezentralisierung/Investition von Ressourcenrenten in die lokale “grüne” Wirtschaft, gemeindebasiertes Ressourcenmanagement) als auch eine globale (Öffnung für den Weltmarkt und die globale Wirtschaft). Dieses Problem der Globalisierung im Kontext des kapitalistischen Weltsystems wirft mehrere Fragen auf, die von Nem Singh in einer Studie über die Rolle des Extraktivismus bei der Entwicklung einer neuen Industriepolitik für eine alternative und nachhaltigere Form der Entwicklung der natürlichen Ressourcen untersucht werden (Nem Singh, 2022).
Neue Industriepolitik?
In der Argumentation von Nem Singh und Kolleg*innen geht es um die Frage, wie und unter welchen Bedingungen die Einbindung Lateinamerikas und anderer peripherer Regionen in die globalen Wertschöpfungsketten dieser extraktiven Industrien sichergestellt werden kann. In diesem Zusammenhang vergleicht Gary Gereffi in seinem 2018 erschienenen Buch “Global Value Chains and Development” die Unterschiede in der Art und Weise, wie Lateinamerika und Ostasien in die globalen Wertschöpfungsketten diverser extraktiver Industrien eingegliedert wurden. Das ressourcenreiche Lateinamerika, so stellt er fest, wurde durch produktionsorientierte Wertschöpfungsketten eingegliedert, bei denen es darum geht, die staatliche Expansion auf den heimischen Märkten zu fördern. Das ressourcenarme Ostasien hingegen wurde durch eine käufergesteuerte Warenkette integriert. Folglich führte dieser Weg der Eingliederung zu sehr unterschiedlichen Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen, was für Gereffi die unterschiedlichen Erfolge der beiden Regionen bei der Kombination von Extraktivismus und Industrialismus erklärt.
Nem Singh plädiert dafür, darüber nachzudenken, wie globale Wertschöpfungsketten wirtschaftliche Chancen für eine nachhaltige Ressourcengewinnung und -entwicklung eröffnen und schließen. Lateinamerika wird sich seiner Meinung nach wahrscheinlich auf die Produktion von Lithium, Niob, seltenen Metallen usw. spezialisieren, um der rasch steigenden Nachfrage nach technologieintensiven Produkten und “sauberer Energie” gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang plädiert er dafür, nach Einstiegspunkten und Möglichkeiten zu suchen, die die globalen Wertschöpfungsketten bieten, um die Volkswirtschaften in der Region neu zu positionieren, den Reichtum der Region bei der Entwicklung von Rohstoffindustrien besser zu nutzen und neue Wege zu finden, um einen größeren Anteil des Mehrwerts und der Ressourcenrenten zu erobern – um sich eine günstigere Position in der internationalen Arbeitsteilung zu sichern.
Nem Singh plädiert dafür, den Extraktivismus mit einer neuen Industrie- und Energiepolitik zu kombinieren, die den Reichtum der Region an natürlichen Ressourcen nutzt und gleichzeitig die negativen und zerstörerischen Aspekte des Extraktivismus abmildert, indem fossile Brennstoffe durch erneuerbare Ressourcen ersetzt werden, einheimische technologische Innovationen und fortschrittliche “grüne” Technologien einbezogen werden und nicht nur die informierte Zustimmung der einheimischen Gemeinschaften, sondern auch ihre aktive Beteiligung an jedem extraktiven Projekt sichergestellt wird. Diese vorgeschlagene Lösung für das Problem des Extraktivismus hängt von der Fähigkeit der Unternehmen im Rohstoffsektor ab, über Technologietransfers zu verhandeln oder indigene Technologien zu erneuern, und von der Fähigkeit der Regierungen, einen angemessenen institutionellen und politischen Rahmen für die Gewinnung und nachhaltige Entwicklung natürlicher Ressourcen zu schaffen (was für viele aktivistische Wissenschaftler*innen der Sozialismus ist) und sie in eine effektive Strategie der ressourcenbasierten Industrialisierung einzubinden.
Ein post-kapitalistischer und sozialistischer Horizont?
In diesem Punkt stimmen Nem Singh und seine Mitarbeiter*innen mit Gudynas überein: Der Extraktivismus wird sowohl innerhalb eines kapitalistischen als auch eines nicht-kapitalistischen institutionellen und politischen Rahmens für die Post-Development-Phase verschiedene Formen annehmen. Die Produzent*innen und Arbeitnehmer*innen in den peripheren Regionen und den Entwicklungsländern sollen einen größeren Anteil am Sozialprodukt und eine Teilhabe an den Gewinnen aus der Wertschöpfung der Arbeit im Produktionsprozess der entstehenden extraktiven Industrien erhalten.
Nem Singh und mehrere andere Analyst*innen und Theoretiker*innen des Extraktivismus kommen zu dem Schluss, dass es möglich und sogar notwendig ist, eine neue Industrie- und Energiepolitik, die auf eine nachhaltigere und integrativere Form der kapitalistischen Entwicklung abzielt, mit einem Regulierungsregime für die Gewinnung natürlicher Ressourcen zu kombinieren – Neo-Extraktivismus, wie wir ihn im südamerikanischen Kontext der post-kapitalistischen oder sozialistischen Entwicklung verstehen (Svampa, 2019).
Die Autor*innen sind zu dem Schluss gekommen, dass die Gewinnung natürlicher Ressourcen nicht als Fluch und Entwicklungsfalle angesehen wird, sondern dass sie in Wirklichkeit für den wirtschaftlichen Wohlstand Lateinamerikas von zentraler Bedeutung war und wahrscheinlich auch weiterhin das zentrale Modell für wirtschaftliches Wachstum in der Region sein wird. Sie gehen davon aus, dass den Widersprüchen des Kapitals entgegengewirkt wird und die sozio-ökologischen Konflikte entschärft werden können; dass die zerstörerischen und negativen sozio-ökologischen Auswirkungen des Extraktivismus durch ein umsichtiges, staatlich reguliertes, gemeindebasiertes Ressourcenmanagement, geeignete Naturschutzmaßnahmen und ein Regime der sozialen Verantwortung der Unternehmen zusammen mit einer technologischen Lösung (Einführung fortschrittlicher konvergenter grüner Technologien) und einer neuen Industriepolitik ausgeglichen und gemildert werden können.
Nicht jeder Bergbau ist Extraktivismus, wie wir ihn kennen
In diesem Punkt gibt es jedoch keinen Konsens. So hat beispielsweise Gudynas in seinen zahlreichen Schriften eine alternative, abweichende Meinung geäußert. Gudynas vertritt die Ansicht, dass in einem Lateinamerika, das sich dem Ziel der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit verschrieben hat, kein Platz für den Extraktivismus ist, wie wir ihn kennen, d. h. als Modalität der Kapitalakkumulation und Entwicklung.
Unabhängig von politischen und institutionellen Reformen seien die systemische Funktionsweise des extraktiven Kapitalismus sowie seine lokalen Auswirkungen und Spillover-Effekte auf die öffentliche Politik schlicht unvereinbar mit den Zielen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit. Andererseits, fügt er hinzu, dass dies nicht bedeute, dass die Gewinnung natürlicher Ressourcen beim Übergang zu einer sozial integrativeren und nachhaltigeren alternativen Zukunft keine Rolle spiele. In diesem Zusammenhang argumentiert er, dass es wichtig ist, klar zu unterscheiden zwischen Extraktivismus als Modalität der Kapitalakkumulation und wirtschaftlichen Aktivitäten und Praktiken wie Bergbau und Landwirtschaft einerseits und der Aneignung erneuerbarer natürlicher Ressourcen unter Wahrung sowohl der territorialen Rechte als auch des Rechts der Gemeinschaften auf nachhaltige Lebensgrundlagen andererseits.
So ist beispielsweise nicht jeder Bergbau Extraktivismus, wie wir ihn kennen, also eine Form der Aneignung und Gewinnerzielung innerhalb der institutionellen und politischen Dynamik des kapitalistischen Systems. Auch die Gewinnung von Ressourcen oder die Aneignung des Reichtums an natürlichen Ressourcen in Lateinamerika bringt nicht notwendigerweise die räuberischen Praktiken – Landraub und Zerstörung der Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung – mit sich, die mit dem Extraktivismus im lateinamerikanischen Kontext verbunden sind. In der Tat gibt es in der post-extraktivistischen Übergangsphase und darüber hinaus zweifellos einen Platz für einige Formen der nachhaltigen Gewinnung natürlicher Ressourcen, die Bergbau, Land- und Forstwirtschaft, Fischerei und vielleicht sogar einige Arten der Kohlenwasserstoffausbeutung umfassen.
Komplexität und Vielfalt des Extraktivismus
Zum Abschluss dieses kurzen Exkurses über den Extraktivismus ist eine genauere Betrachtung der Entwicklungs- und Sozialdynamik des Abbaus natürlicher Ressourcen und eine weitere Erforschung dieser Dynamik aus einer kritischen Entwicklungsperspektive erforderlich. In Anbetracht der überwiegenden Anzahl von Belegen, die von verschiedenen Studien geliefert wurden, und unter Berücksichtigung der Komplexität und Vielfalt dieser Extraktivismen, kann Folgendes festgehalten werden:
1. Da die Abhängigkeit von der Gewinnung natürlicher Ressourcen kurz- und mittelfristig unvermeidlich zu sein scheint, müssen die rohstoffbasierten Volkswirtschaften die Nachhaltigkeit und Produktivität ihrer Rohstoffsektoren steigern, was unter den gegebenen Umständen ein sehr hoher Anspruch ist und nur im Rahmen eines post-extraktivistischen Übergangs möglich ist.
2. Vielen Ländern ist es nicht gelungen, ein Gleichgewicht zwischen den angeblichen wirtschaftlichen und steuerlichen Vorteilen des Wachstums der mineralgewinnenden Industrie und den hohen sozialen und ökologischen Kosten in Form von Umweltzerstörung, Vertreibung von Gemeinschaften und sozialen Konflikten herzustellen, die auf lokaler Ebene besonders akut sind.
3. Der Extraktivismus ist ein untrennbarer Bestandteil der gegenwärtigen Spielart des Kapitalismus, aber als Modalität der kapitalistischen Entwicklung kann er keinen Weg zu einer anderen Welt der integrativen, gerechten und nachhaltigen Entwicklung bieten.
4. Post-Extraktivismus ist Teil einer breiteren Agenda von Alternativen zum Kapitalismus, die eine Öffnung hin zu einer alternativen Zukunft bietet, die über die heutigen Vorstellungen von Entwicklung und Fortschritt hinausgeht.
5. Jeder Weg (und ein post-extraktivistischer Übergang) zu einer inklusiveren und nachhaltigeren Form des Post-Development erfordert die Mobilisierung der verschiedenen Widerstandskräfte sowohl in der Politik als auch im Rohstoffsektor sowie den Aktivismus der Gemeinschaften, die vom Vormarsch des Rohstoffkapitals im Entwicklungsprozess negativ betroffen sind.
Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englische Version ist auf Mediapart verfügbar. Die Quellenangaben zu diesem Text sind hier aufgeführt. Weitere Info finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Schauen Sie mal hier: https://after-extractivism.berlinergazette.de
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