Zum Zeichen der Freundschaft

>Freundschaft< ist soziologisch gesehen ein komplexer, aber uebersichtlicher Begriff. Wie >Liebe< kennzeichnet er eine Beziehung, die um ihrer selbst willen besteht. In manchen Beziehungen wird der der >Freundschaft< genutzt, um ganz andersartige Beziehungen zu entspannen oder sie in ein Licht zu stellen, in dem der Zweck nicht mehr so aufdringlich sichtbar ist. Auch Geschaeftsbeziehungen verlangen Vertrauen, das nach aussen hin mittels >Freundschaft< begruendet werden kann.

Fuer einen Jugendlichen steht meist etwas anderes im Vordergrund, zum Beispiel gemeinsame Unternehmungen, gemeinsame Feiern usw., in denen sich lebenslange Freundschaften aufbauen. Natuerlich entwickeln sich in ihnen meist auch gemeinsame Perspektiven, die weitergehendes Vertrauen fundieren koennen. Solche lebenslangen Beziehungen tragen auch die jeweilige eigene Lebensform mit. Wer solche Freundschaften in der Jugend nicht hatte oder wer sie verspielte, dem fehlt etwas Wichtiges im weiteren Leben. Als Behinderter hatte ich zu solchen Freundschaften keinen Zugang; dafuer konnte ich lesen.

Es gibt jedoch auch andere Beziehungen, die diesen lebenslangen Freundschaften aehneln. Aber sie sind bruechiger: Sie setzen tatsaechlich gemeinsame Interessen an zweckfreien Gegenstaenden voraus, wie Literatur, Kunst, Wissenschaft oder Musik oder mehreres davon. Sie bestehen vor allem aus nachhaltigen und >orientierenden Kommunikationen<. Das heisst dann zwar nicht, dass nichts gemeinsam unternommen wird. Aber beim Wandern oder beim Grillen muss jenes kommunikative Vergnuegen weitergehen, das diese spaeteren Freundschaften kennzeichnet. Man koennte ja auch allein bleiben. Manche dieser Beziehungen sind subjektiv wichtiger als andere und alle sind durch den sozialen Kontext bestimmt. Was zu anstrengend oder zu langweilig wird, verliert sich wieder.

Freundschaften ueber die eigenen kulturellen Grenzen hinaus haben als wichtige Voraussetzung mindestens eine Sprache, die beide Seiten hinreichend gut sprechen und verstehen. Sie werden nicht gut halten, wenn eine Seite das Gefuehl hat, sie koenne nicht so intelligent sein wie in jener Sprache, die die andere nicht beherrscht. Das daraus entstehende Gefuehl von Ungenuegen kann dadurch geheilt werden, dass der Kommunizierende sein Ungenuegen nicht bemerkt.

Ueber diese sprachlichen Einschraenkungen hinaus koennen sich natuerlich andere Differenzen stoerend auswirken, zum Beispiel kollektive Zugehoerigkeiten. Das kann die freundschaftliche Kommunikation zwischen etwa einem Niederlaender und einem Deutschen erschweren und damit verkuerzen; hier besteht allerdings meist bereits eine besonders tiefe Kluft. Die gleichen Divergenzen koennen andererseits aber gerade Anlass intensiver und freundschaftlicher Auseinandersetzung sein, vor allem wenn es andere gemeinsame Interessen gibt. Differenz kann stoeren, sie kann aber auch die freundschaftliche Kommunikation ausloesen und naehren.

Armut und Mangel koennen Freundschaften vorantreiben. Oder auch nicht: Wer sich sehr gegen Armut engagiert, dem wird es schwer sein, mit jemandem Freundschaft zu halten, dem die Armut der anderen gleichgueltig ist.

Was >1968< angeht, so weiss ich, dass fuer viele der Kampf gegen die Not und das Elend anderswo eine treibende Motivation war. Andere freuten sich ueber das Ende der sexuellen Klemmen und wieder andere schauten vor allem auf den Holocaust und seine vielfaeltigen Ursachen. Nicht alle bewegte dasselbe, auch wenn sich einiges ueberschnitt. Die Divergenzen bestehen bis heute fort und dauernde sekundaere Freundschaften bildeten sich vor allem dort, wo diese Interessen uebereinstimmten. Gemeint sind natuerlich nur solche Beziehungen, die lebendig weitergegangen sind – nicht nostalgische Alkoholabende, an denen die Vergangenheit der Vergangenheit bejammert wird.

Bei fast allen, die ich kenne, haben sich die grundlegenden Interessen seit >1968< nicht veraendert – wohl aber die Antworten und die Erklaerungen. Das wirkt manchmal zu Recht, manchmal zu Unrecht wie eine politische Kehrtwendung. Aber die Grundmotivation ist dieselbe geblieben. Sie hat schliesslich auch nachhaltige Freunschaften angestiftet. Demgegenueber waren >Werte< meines Erachtens sekundaer. Das kann natuerlich ein individueller Wissensmangel sein.

Ueber den Anschluss an oder die Abgrenzung zu >1968< ist in der letzten Zeit viel geschrieben worden, einiges ist klug, anderes nicht. Es war eine Zeit der grossen Euphorien und der grossen Illusionen. Merkwuerdigerweise sind damals wenig haltbare Texte geschrieben worden; die politisch-analytischen Texte, die damals entstanden, wirken heute ein wenig peinlich. Sie sind nicht klug. Andererseits gab es vielfach eine produktive intellektuelle Anknuepfung an Aspekte der Zeit vor 1933, fuer die wir heute noch dankbar sein sollten.

Zur Bewegung von >1968< selbst ist meine Haltung dieselbe wie damals: Sie schwankt zwischen ambivalent und freundlich skeptisch. Die Besserwisser und die moralischen Rigoristen haben mich ebensowenig begeistert wie der autoritaere Gestus, der die Marxisten ebenso kennzeichnete wie die Schueler von Habermas. Was mir aus der Rueckschau noch heute gefaellt, ist ausser der freundlichen Naehe, die sich immer wieder herstellte und nachliess, eine Ernsthaftigkeit in der Reflexion. Was damals fehlte, war Toleranz – ausser gegenueber alldem, zu dem Toleranz angeordnet war. Gelassenheit ist keine deutsche Tugend, aber zeitgenoessische Freundschaften brauchen sie.

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