Zeit für eine Welt

Ich bewohne einen Alptraum, ein kleines Zimmer, in das nur ein Bett passt, und selbst das Bett hat noch eine Zementplatte ueber dem Fussende, um dem Raum eine Art Schweizer- Taschenmesser-Multifunktion zu geben. Die Menschen, die auch in diesem Haus leben, sind unglueckliche Neuankoemmlinge, die um jeden Preis versuchen, sich in die Dynamik Mexico Citys einzufinden… aber eher noch diejenigen, die sich dagegen wehren, von ihr ausgespuckt worden zu sein. Wir klammern uns alle irgendwie verzweifelt fest.

Meine direkten Nachbarn, deren Schnarchen ich hoere, sind ein langhaariger Gringo [mexikanischer Slang fuer US-Amerikaner], der voellig fehl am Platze erscheint und mit den oertlichen Drogensuechtigen abhaengt, und ein 70jaehriger Mann, der den ganzen Tag lang die Musik seiner Jugend hoert, waehrend er Kette raucht und manchmal an etwas schreibt, was seine Memoiren sein koennten. Dann sind da noch Familien mit vielen Kindern, die sich den gleichen Platz teilen muessen, den ich luxurioeserweise fuer mich allein habe. Wir teilen die Toiletten, die Duschen, die winzigen Labyrinthe, die uns jede Nacht zu unserem Totenbett fuehren, und was mich betrifft, ich wache auf, rieche die Realitaet, schreie in die Stille: >Steh auf, Ilich, steh auf!< Sofort springe ich unter die Dusche, um Abstand zum Geruch der Realitaet zu gewinnen. Dann gehe ich in der Unibibliothek online, nehme, wenn sie stattfinden, den ganzen Tag an Kursen teil, und laufe von hier nach dort zu Orten, von denen ich weiss, dass ich dort meinen Computer an die Stromversorgung anschliessen kann, um die Akkus aufzuladen. Schnell sein, immer wieder schnell sein, ohne den Fokus zu verlieren, um mithalten zu koennen und die zwei oder drei Welten, in denen ich gleichzeitig existiere, >uebereinander< zu bringen: Online [der Possible Worlds-Server], die Uni, das klassendiskriminierende und mittelmaessige, verachtende Leben von Mexico City, wo die Leute niemals wegen irgendetwas anhalten, um >runter< zu kommen. Und natuerlich Freunde, die immer eine Oase in der urbanen Wueste sind. Den von mir nun seit einiger Zeit betriebenen Possible Worlds-Server, sei er auch elektronisch, verstehe ich als eine kleine utopische Stadt im Aufbau, in der Arbeit uns gluecklich machen kann, auch wenn sich das nicht auf dem Bankkonto niederschlaegt. Ausserdem gibt es da noch jeden Tag die Weltnachrichten. Vom Standpunkt verschiedener Medien aus gesehen, weben sie sich irgendwie in unsere reale kleine Welt ein. Manchmal duerfen wir einen Kommentar abgeben, in Form eines Medienkunstwerks, eines Postings, einer Situation. Die meiste Zeit sind wir einfach nur da, springen herum, konsumieren Medien… versuchen >runterzufahren<, zu entschleunigen, versuchen zu glauben, dass eine andere Welt moeglich ist, und auf unsere eigene persoenliche Weise zur Verwirklichung dieser Vorstellung beizutragen. Und dann ist da natuerlich noch die Vermischung verschiedener Takte und Rhythmen und Sprachen: Chiapas, Ciudad de Mexico, Berlin, Tijuana, die Uni, an der ich studiere und die eine Blase von amerikanischen, nigerianischen, kenianischen, europaeischen, latein-amerikanischen, arabischen, nord-afrikanischen Studenten ist: viele Vorstellungen, von dem, was zu tun sei, die sanft miteinander kollidieren. Und die verschiedenen Gruppierungen: die Linke, die Rechte, der Kampf, die Arbeit, das falsche Laecheln, das ehrliche Laecheln, Partys und Zusammenkuenfte und Arbeit und Arbeit und Arbeit. Auf jeden Fall ist es schwierig – wenn nicht unmoeglich -, die Vorstellung von Welten, die moeglich sein koennten, in die Unigemeinschaft oder die mexikanische Kunstszene einzubringen. Mexico City ist sich auch bewusst darueber, eine kosmopolitische Stadt zu sein, aber was noch schlimmer ist: es befindet sich irgendwie immer noch in einem provinziellen Zustand von Neuhispanismus, gestrandet in einem futuristischen 16. Jahrhundert, das wir als das Heute wahrnehmen: unser Blick geht immer nach Europa, waehrend wir hiesige kulturelle Phaenomene ignorieren. Berlin, Chiapas, das Netz, die verschiedenen Kontakte per Skype, SMS, Email und von Angesicht zu Angesicht: sie alle schaffen einen Dialog ueber das, was getan werden muss. Manchmal wird Berlin viel zu unbegreiflich fuer das, was hier getan werden kann, und manchmal ist es das Gegenteil – langsam wird es durch permanenten Kontakt fassbarer. Was nutzt der unmittelbare Charakter des Web 2.0, wenn nichts gesagt wird? Wenn keine realen Gesten gemacht werden und gehandelt wird? Und so werden Begrifflichkeiten manchmal durch ihre unterschiedlichen Symbole innerhalb der unterschiedlichen Kulturen greifbar: Ich erinnere mich da an Techno, der in Los Angeles oder Tijuana etwas mit Rasse und der Strasse zu tun hatte, in Mexico City aber schrieb ihn sich die globale Klasse reicher Kids auf die Fahnen, die im Ausland studierten, sich teure Designer-Drogen leisten konnten, denen nichts wichtig war, die poststrukturalistischen Jargon nachplapperten und die uebelsten Klischees ueber den vernetzten globalen Kapitalismus bestaetigten. Possible Worlds, das ist eine sehr kleine Online-Stadt, deren Konzept ist, in ganzen Saetzen und Ideen und Texten zu kommunizieren, und so kleine Entwuerfe zu schaffen, selbst wenn sie nicht mehr sind als ein Wohnzimmertheater oder ein gedrucktes Pamphlet voller Ueberlegungen, Netfilms oder Podcasts, waehrend wir gleichzeitig auf eine netz-existentialistische Weise mit unserer Welt beschaeftigt sind. Ein solches Projekt koennte >La Otra Campana<, oder etwas in der Art, sein. Sie veraendert sich von Person zu Person, von Gemeinschaft zu Gemeinschaft. >Possible Worlds< ist ein autonomer Server und ein vernetztes Medienprojekt. Und mehr: Wir machen auch Print-Medien und veranstalten kleine Events. All das mit der >Space Bank< im Ruecken, die unabhaengige Projekte wie >Possible Worlds< foerdert. Wir beziehen viele Web 1.0 und 2.0 Anwendungen ein, versuchen aber auch an einer eigenen Agenda zu arbeiten und verlieren uns nicht voellig in der globalen virtuellen Welt oder glauben, dass jeder einen Computer besitzen muesste. Wir glauben an Vielfaeltigkeit - und Vielfaeltigkeit bedeutet, dass nicht alle Menschen mit Computern arbeiten… Und ja, ich glaube, der Zeitgeist ist alles und jedes und bestimmt gleichzeitig alles und jedes. Aber Zeitgeist wird auch geschaffen, von einigen oder allen. Das Problem ist, wie Zeitgeist gedeutet werden soll, der sich in unterschiedlichen geographischen Wirklichkeiten unterschiedlich niederschlaegt. Es ist erstaunlich, was gerade ueberall in Lateinamerika geschieht und wie unterentwickelt die so genannte entwickelte Welt manchmal sein kann. Ich will damit sagen, dass sie manchmal nur in materiell-technologischer Hinsicht entwickelt zu sein scheint, was mehr oder weniger auf Kosten der so genannten unterentwickelten Welt erreicht wurde, und zwar mit kolonialen Mitteln, was umso mehr die Frage aufwirft, was genau es bedeuten soll, dass diese Laender entwickelt seien, wenn sie dazu andere Voelker unterdruecken muessen. Der Zeitgeist - um noch mal darauf zurueckzukommen - ist ein Begriff, der in unseren Gespraechen immer wieder auftaucht wie ein Bumerang. Die Art, wie er sich manifestiert? Das steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Es ist schon erstaunlich, wie Begriffe unterschiedliche Formen annehmen koennen. Nicht zuletzt deshalb scheint es mir wichtig, daran weiterzuarbeiten, im Netzwerk-Modus konzeptuelle Werkzeuge, Ideen, Globalisierung und Zeitgeist zusammenzudenken: Arbeit, Leben und Zeitgeist in den unterschiedlichen Gesichtern der Globalisierung.

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