Wo bleibt die Kritik?

Leider ist ja die Kunstkritik in Deutschland inzwischen so oede, aengstlich und todlangweilig – was ich allerdings gut verstehen kann, seitdem ich ein gratis Flugticket hin und -rueck nach Reykjavik/Island fuer eine Ausstellungsbesprechung bekommen habe -, dass an einer geistigen Auseinander- setzung interessierte Kuenstler gezwungen sind, selbst zum Kunstkritiker zu werden.

Das waere immerhin ein lustiger Ausgleich zu den Kuratoren etwa, die sich ja oft fuer eine Art [Ueber-]Kuenstler halten. Das Interesse an kritischer Diskussion scheint aber in den Kunstmedien insgesamt sehr maessig zu sein. Allzu offene Gedanken werden gern in die Warteschleife geschickt.

Mit Argumenten wie >Das Thema ist noch nicht perfekt ausgefeilt< oder >zwar ein wunderbarer Text, hervoragend geschrieben, aber nicht positioniert genug…< bis hin zu >das geht nicht, die Kuratorin hat in unserer Redaktion vor zwanzig Jahren als Aushilfe gearbeitet, das waere ja Medien-Bashing< usw. Der Hoehepunkt meiner Erfahrungen hierbei war, dass ein von mir vorher angekuendigtes Interview mit Eugen Blume zur Flick-Sammlung bei der Einreichung bereits in einer Redaktion den Wutausbruch verursachte, den ich eigentlich gerne spaeter, nach Abdruck, in den Leserbriefen gelesen haette. Stattdessen wurde lieber ein peinlicher Hoax ueber geplante Verkaeufe der Flick-Sammlung verbreitet. Zugleich gibt es Autoren, die schaffen es, parallel in Jungle World, taz und BILD bzw. B..Z. zu veroeffentlichen - ein unglaublich grosses Spektrum tut sich da auf. Doch wie sollte jemand bei so grosser Vielseitigkeit einen ehrlich begeisterten Text ueber das Leben der skandaloesen Topflappenhaekel- puppe Wollita [21] schreiben koennen, die in BILD und BZ in wochenlanger Kampagne zum >Kinderschaenderanregenden Sex-Monster< der Ausstellung >When Love turns to Poison< wurde und in der Folge eine Gruppe von fuenfzig Neonazis nach Kreuzberg zum Protestieren mit Transparent und Flugblatt lockte?

Meine Erfahrungen sind also ziemlich ernuechternd. Und so schreibe ich zur Zeit vermehrt froehliche Texte zu Kunst und Kunstbetrieb fuer die Schublade und fuer ein geplantes Buch. Solch einen Text ueber >Das Coming-out als Kuenstlers< habe ich soeben in der Tageszeitung Junge Welt veroeffentlicht. Angeregt zu diesem Text hat mich uebrigens u.a. der Kuenstler Ming Wong aus Shanghai [z. Zt. Berlin]. Dessen Eltern weinten, als er ihnen gestand, dass er Kuenstler werden wollte. Sein Schwulsein war ihnen dagegen keine einzige Traene wert. So weit ist es also schon gekommen…

[Anm. d. Red.: Wolfgang Muellers Eugen Blume-Interview zur Flick-Sammlung erschien schliesslich doch.]

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.