Feine Humorspitzen und Gastronomiekritik: Zum Tod der einflussreichen Dichterin Wisława Szymborska

Vergangene Woche verstarb in Krakau die einflussreiche Dichterin, Gastronomie-Kritikerin, literarische Königin der Ironie und Spezialistin für feine Humorspitzen: Wisława Szymborska. Sie wurde 89 Jahre alt. Berliner Gazette-Autorin Karolina Golimowska hat sich aus diesem Anlass noch einmal mit ihrem Werk beschäftigt. Ein Nachruf, der nicht aus der Schublade kommt.

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Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska war strikt gegen Interviews. Alles, was es über sie zu sagen gäbe, würde schon in ihren Gedichten stecken, sagte sie. Zurückgezogen lebte sie in Krakau, liebte ihre Stadt und führte dort ein ruhiges Leben. Nach der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1996 „für ihr Werk, das ironisch-präzise den historischen und biologischen Zusammenhang in Fragmenten menschlicher Wirklichkeit hervortreten lässt“, wie die Nobelkommission es begründete, brauchte sie viel Zeit, sich mit dem Gedanken anzufreunden, sie sei jetzt eine Persönlichkeit, für die sich die Öffentlichkeit interessiert.

Sie mied Auftritte aller Art und schützte ihre Einsamkeit, die, wie sie meinte, grundlegende Bedingung für ihre Kunst, das Schreiben, sei. Poetologisch zu ihrer selbstgewählten Bürde als Schriftstellerin hat Szymborska in ihrem Gedicht „Das Schreiben eines Lebenslaufs“ folgende zwei Zeilen verfasst: „Schreibe, als hättest du niemals mit dir gesprochen und dich vom weitem gemieden.“

Auch über sich und ihre Lyrik sprach die Autorin mit dem hintergründigen Humor nur ungern; die ihr gestellten Fragen hielt sie meistens für langweilig und unwichtig. Wenn überhaupt, sollten Lebensläufe kurz sein, außerdem seien Dichter dazu da, um zu schreiben und nicht, um zu reden, wie sie gerne Goethe paraphrasierte. Ihre Lebenslauf-Lyrik zeichnet Wisławas Vitae – hart gefasste Distanz zum großen Selbst.

Ungeachtet der Länge des Lebens

Hat der Lebenslauf kurz zu sein.

(…)

Wichtig ist, wer dich kennt, nicht, wen du kennst.

Reisen, nur die ins Ausland.

Zugehörig wozu, aber ohne weshalb.

Preise, ohne wofür.

(…)

Schreibe als hättest du niemals mit dir gesprochen

und dich vom weitem gemieden.

(„Das Schreiben eines Lebenslaufs“ aus „Menschen auf der Brücke“ 1986)

Szymborskas erster Gedichtband „Deshalb leben wir“ erschien 1952. Nach dem Krieg gehörte sie zu den jungen Künstlern, die an eine neue Realität glaubten und die Hoffnung für Polen in der Person von Josef Stalin sahen. Auch Szymborska wollte um die „großen Sachen kämpfen“, wie sie in einem der wenigen Interviews viel später zugab. Die Enttäuschung, die folgte, war die „schlimmste Erfahrung ihres Lebens“ (aus dem Gespräch mit Adam Michajłów in „Tygodnik Literacki“ 28. April 1991). Später distanzierte sie sich vom Sozialismus und blieb fern von Politik und Programmatik – auch in ihren Gedichten.

Nichts geschieht ein zweites Mal

In ihrer Lyrik beschäftigte sich Szymborska viel mit Zeit, mit der Wahrnehmung vom Jetzt, von dem, was vergeht und nie wieder zurückkommt, aber auch mit dem, was bleibt oder bleiben kann – beispielsweise Poesie. Jeder einzelne Moment darin ist wunderschön, weil er vergeht, und besonders zart und durchsichtig wird, wenn man bemerkt: Es gibt keine zwei gleichen Küsse, Blicke, Witze. Man muss aufmerksam leben, jede Minute delikat genießen und vorsichtig mit ihr umgehen. Wisława Szymborska hat das verdichtet und sagt: „Nichts geschieht ein zweites Mal“:

Nichts geschieht ein zweites Mal,

auch wenn es uns anders schiene.
Wir kommen untrainiert zur Welt

und sterben ohne Routine.

(…)

(„Nichts geschieht ein zweites Mal“ aus „Rufe an Yeti“ 1957)

La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort, nicht wahr?

In Szymborskas Dichtung gibt es viel Platz für Ironie und Distanz zu sich selbst, zum eigenen Metier, zu Polen und den Polen. Ihre Lyrik zeichnet zahlreiche Feinheiten und teilweise auch Absurditäten der polnischen Realität, Kultur und Sprache, aber auch den Blick von außen nach. Sie kritisierte auf eine wunderbar leichte Art und Weise typisch polnische „Macken“ und lachte die Vorurteile in ihren Gedichten, als Herzerfrischung serviert, einfach weg. Polyglott und selbstironisch ist das lyrische Ich auch im Gedicht „Wörtchen“, das wie Szymborska selbst mit Distanz und Nähe spielt, während es in „Manche mögen Poesie“ unerbittlich realistisch auftritt. Sie kann eben beides:

Es gibt jetzt so viele von diesen Ländern, daß es am sichersten ist, über das Klima zu sprechen.

>>La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort, nicht wahr?<<

>>Pas du tout<<, antwortete ich eisig.

(„Wörtchen“ aus „Salz“ 1962)

Manche mögen Poesie

Manche – 

das heißt nicht alle.

Nicht einmal die Mehrheit, sondern die Minderheit.

Abgesehen von Schulen, wo man mögen muß,

und von den Dichtern selbst,

gibt’s davon etwa zwei pro Tausend.

(aus „Auf wiedersehn. Bis morgen.“ 1998)

„Manche mögen Poesie“ sagt allen, die keine Poesie mögen, oder vielleicht vor allem ihnen, dass die Lyrik eine Quelle von Inspiration sein kann. Im Vorwort zum Zyklus „Lepieje“ (2003) erzählt Szymborska eine Anekdote, bei der sie eines Tages in der polnischen Provinz in einem Wirtshaus etwas zu essen bestellen wollte und bemerkte, dass im Menu jemand mit zitternder Hand „bloß nicht“ neben die lokale Spezialität „Kutteln“ geschrieben hatte. Schnell entstand eine Reihe von Zweizeilern, die mit dem Gedanken spielten, eine wichtige Nachricht/eine Warnung für den nächsten Gast zu hinterlassen. „Besser sich zu Hause quälen, als hier Pommes zu bestellen“ bemerkte sie etwa mit Hintersinn.

Neben dem und anderen ‚gastronomischen‘ Zyklen gibt es auch ihren „alkoholischen Einzeilerzyklus“, aus dem man lernen kann, was passiert, wenn man ein Glas von einem bestimmten Getränk zu viel trinkt „Nach Absinth, kein Talinth“ oder „nach Martini Potenz mini“ dichtet Szymborska frei heraus, und alle bekringeln sich vor Lachen. Diese und andere „Spielereien“, wie sie ihre literarischen Spitzen selbst nannte, sorgten für viele gelungene Abende in meinem, und bestimmt nicht nur meinem Freundeskreis.

Szymborska schrieb auch kurze Limericks, meistens auf Autoreisen durch Orte, die lustige Namen hatten. Fliegen würde nicht in Frage kommen, wenn man Limericks schreiben wolle, so die Autorin: „Man kann eventuell zu Hause bleiben und einen Weltatlas studieren. Eine Wohnung ohne Atlas sollte man sofort verlassen“ (aus Vorwort zu „Limeryki“ 2003).

Leichtigkeit für das Elektronenhirn

Als Wisława Szymborka 1996 den Literaturnobelpreis erhielt, ging ich noch zur Schule. Ich schrieb damals meine ersten Gedichte und wollte so sein wie sie, denn sie schaffte es, über alles Wichtige im Leben mit einem ironischen Lächeln zu schreiben und Leichtigkeit in die schwierigsten Themen zu bringen. Sie lachte über die Liebe:

Glückliche Liebe. Ist das normal,

ist das seriös, und ist das nützlich – 

was hat schon die Welt von zwei Menschen,

die diese Welt nicht sehen?

(Aus „Alle Fälle“ 1972)

Und sie scherzte über den Tod:

Hier ruht, altmodisch wie das Komma, eine

Verfasserin von ein paar Versen. (…)

Passant, hol das Elektronenhirn aus dem Aktenfach 

Und denk über Szymborskas Los ein wenig nach. 

(„Grabstein“ aus  „Salz“ 1962)

Jemand Besonderes hat die Welt verlassen. Passant, hol dein Elektronenhirn aus dem Aktenfach. Lies heute ein Paar Gedichte! Aber nicht irgendwelche – die von Wisława Szymborska, die machen dich leicht.

Anm.d.Red.: Alle zitierten Gedichte in Übersetzung von Karl Dedecius außer „Lepieje“ und dem alkoholischen Zyklus, das von der Verfasserin des Nachrufs übersetzt wurde.

6 Kommentare zu “Feine Humorspitzen und Gastronomiekritik: Zum Tod der einflussreichen Dichterin Wisława Szymborska

  1. ich muss zugeben, dass ich die dichterin vorher gar nicht kannte – danke, dass ihr diesen nachruf gebracht habt!

  2. “Es gibt keine zwei gleichen Küsse, Blicke, Witze.” — einfach nur schön, danke für den Nachruf auf eine großartige Dichterin!

  3. typisch polnische „Macken“

    sowas gibt es doch nur in den Lehrbüchern der populistischen und nationalistischen Ideologie: nicht “Macken” im speziellen oder im Allgemeinen, sondern irgendetwas, dass typisch polnisch, deutsch, russisch, amerikanisch, etc. ist.

  4. @absonder: das ist positiv gemeint und daher in Einfuehrungsstrichen. Es geht um Autoironie und Distanz zu sich selbst (als Polin, als Dichterin), und die Faehigkeit das in Lyrik zu verarbeiten. Das hat mit Ideologien nichts zu tun.

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