Wie Tokio mein Denken veraendert hat

Wann immer ich an eine Kreuzung komme, hoffe ich, dass die Ampel auf gruen steht. Rote Ampeln bereiten mir echte Probleme. Ich missachte sie meistens. Hier geht es nicht um die Angst vor Stillstand, auch nicht um Stress, sondern um meine innere Gangschaltung. Es ist offenbar ausgeschlossen, dass ich aus dem vollen Lauf ploetzlich komplett zum Stehen komme. In gleichmaessiger Bewegung kann ich am besten denken: beim Gehen, beim Lesen, beim Bahnfahren und Fliegen. In Bewegung spuere ich meine Verbindungen zu der Welt, in der ich lebe, am staerksten. Ausserdem glaube ich, dass grundsaetzlich alles in Bewegung ist. Alles und alle.

Ich begreife Stillstand, Wartestand und andere Formen der so genannten Statik nicht als Gegensatz zur Dynamik, sondern als bestimmte Spielformen derselben. Wer beispielsweise viele Jahre vermeintlich immobil im Gefaengnis sitzt, der veraendert sich. Etwa: Er altert. Altern ist ein Prozess, Prozesse sind dynamisch. [Ich polemisiere hier gegen Zygmunt Baumans Begriff von Mobilitaet [1998], den er nicht anders als Gegensatz zur Immobilitaet denken kann, ersteres fuer Freiheit, letzteres fuer Unfreiheit stehend.]

Man spricht von zaehen und schnellen Prozessen. Je staerker die Beschleunigung in der veloziferischen Aera zunimmt, in der >Gesellschaft auf Speed< [Christian Dany], desto schneller erscheinen einem Prozesse, die nicht von 0 auf 100 im Amphetaminrausch beschleunigen, wie das Gegenteil von Dynamik, Bewegung und Mobilitaet. Desto schneller wird man suechtig nach Geschwindigkeit und deren Gegenspielerin: Langsamkeit. Stehendes Wasser, als Inbegriff von Ruhe, wird zum kultischen Ort einer verlorenen Epoche. Stichwort: Wellness. Doch auch dort, wie auch im Gefaengnis, herrscht Bewegung, Mobilitaet, Dynamik. Prozesse praegen jedes noch so reglos anmutende Biotop, jeden noch so leblos anmutenden Koerper. Buckminster Fullers postulierte Mobilitaet als conditio humana. In >Education Automation< [1961] sagte Fuller etwa: >We are mobile<. Doch nicht nur Menschen sind immer in Bewegung. Alles um sie herum ist es auch. Darueber hinaus: Nicht nur Koerper, sondern auch der Geist. Doch die Mobilitaet des Denkens ist keine Selbstverstaendlichkeit. Wie beweglich, durchaus auch in einem athletischen Sinn, Denken sein darf, ist nicht hinlaenglich geklaert. Es versteht sich nicht von selbst, dass maximale Beweglichkeit einhergeht einerseits mit der Freiheit des Geistes und andererseits mit unerschoepflichen Moeglichkeiten blinde Flecken, Grenzen, traditierte Fixierungen und andere intellektuelle Hindernisse zu ueberwinden. Mehr noch: Bewegung an sich ist nicht selbstverstaendlich. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagt der Medientheoretiker Geert Lovink in Bezug auf die Entwicklung des Internet: >Das Problem ist immer, dass die Techniker vorausgehen, dann kommen die Unternehmer und die Denker zuletzt. Warum stehen die am Ende einer Entwicklung, wenn achtzig Prozent der Leute das Internet schon benutzen?< Es ist wohl eine rhetorische Frage, dennoch moechte ich darauf antworten: Bei gesellschaftlichen Umbruechen kommen die Denker zuletzt, weil Denken traditionell kein Fass ohne Boden sein soll. Denken muss auf etwas fussen. Hingegen: Denken in der Bewegung, aus einer Bewegung heraus, Denken ohne festen Boden, ohne Grund, Denken im Schweben, in der Luft – das gilt als unserioes, wird als Traeumen, Schwelgen, Spinnen diskreditiert. Leider sind viele Denker und solche, die es werden wollen, zu sehr den Traditionen verhaftet, sie haben zu wenig Mut. Natuerlich gibt es Ausnahmen. Auch in meiner unmittelbaren Nachbarschaft. Vor mir liegt etwa ein fruehes Buch von Marcus Steinweg: >Autofahren mit Lacan< aus dem Jahr 2001. Autofahren mit... Das gefaellt mir. Wolfgang Schiberbusch lehrte: Vehikel verhalten sich analog zu Medien. Heissluftballon ist analog zum Panorama-Foto. Zug zum Film. Auto zu Video. Flugzeug zu Internet. >Flugzeug fliegen mit Jean-Luc Nancy<. So koennte, in Anlehung an Marcus Steinweg, der hier vorliegende Text im Untertitel heissen. Jedenfalls wenn man, Schiberbusch folgend, das Flugzeug als Analogon zum Internet begreift und das Internet wiederum als Analogon zu einer global entgrenzten Stadt begreift. Ich sage zu >einer< und nicht zu >der< Stadt, weil ich diese Analogiekette eigentlich nur auf eine einzige Stadt beziehen kann. Diese Stadt heisst Tokio. >Wie hat das Internet Ihr Denken veraendert?< Diese Frage hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Literaturagenten John Brockmann uebernommen und stellt sie unterschiedlichen Intellektuellen zum Auftakt der neuen Dekade. In Alexander Kluges Antworten darauf heisst es unter anderem, das Internet habe sein Denken nicht veraendert, sondern eine bestimmte Denkungsart, die ihm eigen ist – das Denken und Dichten in Netzen – verstaerkt. Analog dazu wuerde ich auf die Frage >Wie hat Tokio Ihr Denken veraendert?< antworten: Diese Stadt, in der ich in den 1990er Jahren immerhin sieben Jahre lang lebte, hat mein Denken nicht veraendert, sondern eine gewisse Art zu Denken verstaerkt. Naemlich: Das Denken im Netz. Dort, in Tokio, werde ich taeglich auf intensivere Weise als andernorts durchdrungen von dem, was ich den grossen Zusammenhang nenne. Dort erlebe ich wie wohl nirgendwo sonst, wie alles mit allem zusammenhaengt. Egal, wo ich wohne – ob in einem Einfamilienhaus mit Grundstueck oder einer Wohnung im Hochhaus [ich habe all das erlebt]: Nachbarn sind mir physisch so nahe, dass ich der Illusion des Fuer-sich-Seins nicht verfalle. Vor Fenstern peinlich sichtbar, weil das Nachbarhaus nur eine Armlaenge entfernt ist. Hoerbar immer dann, wenn ich laut sein will oder mich vergesse. Eine ungewoehnlich hohe Dichte, im Sinne von Naehe und Enge, spuere ich auch auf der Strasse. Kaum ein Verkehrsweg ist weitlaeufig gebaut: Menschen, zu Fuss, auf Raedern, in Autos – meistens en masse. Informationen in Bild und Ton umspielen den gesamten Koerper wie ein gleichmaessiger Strom aus den Untiefen des Ozeans. Eines Ozeans der Zeichen: Reklame-, Strassen-, Bahnhofs- und Preisschilder; menschliche und maschinelle, aufgezeichnete und endlos wiederholbare, fluesternde und schreiende, Megaphon-verstaerkte und Lautsprecher-amplifizierte Stimmen; Musik aus Autos, Handys, Game Boys, Warenhaeusern und Toiletten; Schritte von eilenden, tappenden und marschierenden Menschen; Maschinengeraeusche von PKWs, LKWs, Zuegen, Motorraedern und Flugzeugen; unter der Last des Verkehrs aechzende Infrastrukturen. Alles wird zu einem vielstimmigen Ozean aus Zeichen, der alle und alles umspielt, einbettet und verbindet. Nicht nur deshalb ein Ozean, weil unkontrollierbar, ueberfordernd und chaotisch, sondern auch, weil nicht lokal begrenzbar – wer wuerde schon sagen koennen, wo die eben benannten Zeichenketten des Verkehrs von Menschen, Informationen und Muell anfangen und enden? Sie fangen nirgends an und enden nirgends, sie sind global entgrenzt und in staendiger Bewegung begriffen. Ich muss mein Verhaeltnis zu diesem Ozean klaeren. Ich muss die Bewegung dieser Bewegung aufgreifen und ich muss versuchen diese Bewegung zum Modus meines Denkens zu machen. Ich muss diese Bewegung denken – sprich: die Bewegung, die Dynamik, die Mobilitaet des grossen Zusammenhangs. Dazu muss ich meinem Denken eine gewisse Disziplinlosigkeit zugestehen. Erst sie macht es, das Denken, zum Denken und unterscheidet es damit von der Wissenschaft im Allgemeinen und von der Philosophie im Speziellen – diesen Unter- und Oberkategorien im Zeichen der Disziplin. Deshalb bin ich skeptisch, wenn ich in Alexander Kluges Antwort auf >Wie hat das Internet Ihr Denken veraendert?< weiterlese und hoere, wie er sagt, man muesse Enklaven bauen, um den Ozean in Bahnen zu lenken. Mag sein, dass Enklaven ihren Sinn haben und einen wichtigen zivilisatorischen Zweck erfuellen koennen. Aber bevor man Enklaven braucht, muss man zunaechst die wilde Natur auf Augenhoehe erlebt haben, zu ihren Bedingungen. Sonst wird die Enklave zu einem Zufluchtsort vor der Natur, statt zu einem Garten, der in Korrelation und im Dialog mit der wilden Natur angebaut wird. Kluge geht auf diesen Punkt nicht ein, vielleicht ist es dem Platzmangel der Tageszeitung geschuldet, aber ich komme nicht umhin sensibel darauf zu reagieren, schliesslich erlebt die Enklave in dieser Zeit eine Dauerkonjunktur. Sie zaehlt zu jenen immer beliebter werdenden >Selbsttechnologien<, unten denen, wie Michel Foucault erklaert, >gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen [sind], mit denen die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse aesthetische Werte traegt und gewissen Stilkriterien entspricht.< Ich betrete im Stadtteil Shibuya den Bahnhofsvorplatz, alle kennen diesen Ort als Hachiko. Die Sonne scheint mit stechender Schaerfe, nationale Extremisten beschallen die Menschen von einem Busdach aus mit Parolen, der Himmel ueber ihren Koepfen ist von Telekommunikationskabelnetzwerk und Gebaeuden verstellt. Um den Hachiko herum tobt der Ozean der Zeichen besonders heftig. Wer es nicht gewohnt ist, spuert schnell wie die Kraefte schwinden. Koerper und Geist verlieren zusehends an Energie. Doch die meisten Menschen hier kennen das. Ich muss davon ausgehen, dass sie gelernt haben, damit umzugehen. Der Bahnhof selbst ist ein komplexes, labyrinthisches System, das sich in unterschiedliche Stadtbereiche, teils sogar in verschiedene Stadtteile verzweigt. Als ich am Bahnsteig stehe, laesst der Zug nicht lange auf sich warten. Im Augenblick kommen die Bahnen im Minutentakt. Von der Musik, die Menschen davon abbringen soll, sich auf die Gleise zu werfen, kann ich nichts hoeren. Ich hoffe, jene, die sie hoeren sollen, bekommen sie zu Ohren. Ich selbst habe mich mit Oropax ausgestattet. Ohne diesen Gehoerschutz koennte ich in Shibuya nicht lange „ueberleben“. Als ich in die Bahn steige, macht mich Magdalena auf ein Warnhinweis aufmerksam. >Bitte schalten Sie Ihr Handy aus!< Die Grafik signalisiert: Hier geht es um Laermschutz. Diese Verordnung ist neu. Wie neu, das kann ich nicht sagen. Vor zehn, fuenfzehn Jahren gab es solche Grafiken jedenfalls noch nicht. Es ist wirklich erstaunlich: An diesem Knotenpunkt des grossen Zusammenhangs, hier, in der Bahn, in jenem zentralen Medium des Tokioter Verkehrsbetriebs, der wie ein staendig gut durchblutetes Nervensystem die groesste Stadt der Erde in Bewegung haelt, ausgerechnet hier, wo Menschen dicht an dicht beieinanderstehen und -sitzen, manchmal so dicht, dass ihnen kaum Luft zum Atmen bleibt, hier soll das Mit-Sein, das Eingebettet-Sein ausgeblendet werden, zugunsten einer Illusion des Fuer-Sich. Schliesslich suggeriert die Regelung dem Passagier, er oder sie koenne ungestoert reisen, werde von anderen nicht beruehrt, zumindest nicht akustisch beruehrt, und koenne mit dem Abschalten des Handys auch jene Netze ab- beziehungsweise ausschalten, welche die Verbindung mit dem grossen Zusammenhang aufrechterhalten. Ich schaue mich um. Buch, Comic, Handy, Gameboy oder Zeitung – irgend etwas haben die meisten Passagiere vor sich, richten ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, versinken in Konstellationen und Konfigurationen von Text, Bild und Ton. Einige schlafen. Frueher bin auch ich manchmal in der Bahn eingeschlafen, verpennte den Ausstieg und landete dann irgendwo an den aeusseren Raendern der Stadt. Wenn ich diese Menschen hier sehe, weiss ich: die sind so tief und bedingungslos drin, dass auch sie die Ansagen und Anzeichen von wechselnden Bahnhoefen nicht wahrnehmen. Ausstieg ist keine Option fuer sie. Wie sie es dennoch schaffen zu rechten Zeit auszusteigen, ist mir ein Raetsel. Diese Immersion wird haeufig als Isolation beschrieben. Aber diese Menschen haben sich nicht von ihrer Umwelt abgeschottet. Sie beduerfen des neu verordneten Laermschutzes nicht. Sie regulieren selbst, wie viel und was sie wahrnehmen wollen, von dem, das sie umspielt, einbettet und verbindet. Sie haben keine virtuelle Mauer zwischen sich und anderen errichtet, sondern ein Medium zwischengeschaltet: Buch, Comic, Handy, Gameboy oder Zeitung. Sie sind ueber das Medium mit dem grossen Zusammenhang vernetzt. Sitzend oder stehend. Zu Hause oder im oeffentlichen Raum. Irgendwo, im Grunde ueberall. Doch besonders im Tokioter Bahnnetz, welches Teil eines gigantischen Netzes ist, Teil des allesumfassenden Ozeans der Zeichen. Meine Oropax-Ohren wissen das. Jenseits dieses Wissens und diesseits davon traegt mich das Denken. Mobil. Dynamisch. Stets unterwegs in Prozessen. Es ist das Denken einer Stadt, die als Analogon zum Internet begriffen werden kann, vor allem deshalb, weil das, was man gelegentlich vom Internet sagt, es versammle alle vorangegangenen Medien in sich, weil genau das hier Wirklichkeit ist.

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