Wie dekadent bist du?

Seitdem Westerwelle in der Hartz 4-Regelung das Symptom für die spätrömische Dekadenz unserer Gesellschaft erblickt hat, frage ich mich hin und wieder, wie dekadent ich eigentlich selber bin: Wie sehr und auf welche Weise bin ich am Verfall (so der ursprüngliche Sinn des Wortes) der Gesellschaft beteiligt? Ich frage mich aber auch: Wie sehr muss ich über meinen eigenen Verhältnisse leben – was hinsichtlich der diagnostizierten Dekadenz in der Sozialdebatte immer mitschwingt – um mich von den obwaltenden Verhältnissen zu emanzipieren?

Natürlich, in einem gewissen Sinne bin ich dekadent. Ich lebe über meine Verhältnisse. Würde ich das nicht tun, säße ich jetzt vermutlich in der ostdeutschen Provinz fest und würde meine dreiköpfige Brut pflegen. Aber nein, frei nach dem liberalen Motto der FDP demzufolge “anything goes” und “anybody can become anything”, habe ich mich im Sinne der stets gepredigten Selbstverwirklichung befreit und lebe nun über meinen Verhältnissen. Statt Mutti-Dasein in der ostdeutschen Provinz, jobbe und freelance ich im Berliner Kulturbetrieb.

Dabei erwische ich mich selbst dabei, die Prenzlauer Berg-Bohemiens schief anzugucken, wenn sie mitten am Tag im Straßencafé lungern und Latte Macchiatos in sich hineinschütten und denke mir: Wie dekadent. Aber ich kenne die Verhältnisse nicht und vielleicht bin ich einfach nur neidisch, weil mir die Zeit fehlt. Und Zeit ist Geld.

Aufruf zum Schreiben

Ist “dekadent” einfach nur ein Modewort, das den Nerv der Zeit trifft? So wie man vorher alles als “kommerziell” beschimpfte? Erleben wir vielleicht tatsächlich gerade eine Phase der Dekadenz? Betrachtet man die Welt durch die Westerwelle-Brille in Schwarzweiß? Oder kommen erst so die ganzen Widersprüche zum Vorschein? Im Monat April lädt die Berliner Gazette ihre AutorInnen und alle interessierten LeserInnen dazu ein, über Dekadenz nachzudenken und auf die Frage zu antworten: Wie dekadent bist du? Wie dekadent willst du sein?

23 Kommentare zu “Wie dekadent bist du?

  1. die Frage ist nicht, wie dekadent ich bin, sondern wie dekadent Westerwelle ist, der auf Staatskosten seine Buddies durch die Welt jetten lässt. Fallen tut man nicht, wenn man ganz unten ist, sondern ganz oben…

  2. Ich habe gestern das Spiel Arsenal gegen Barcelona gesehen, da ist mir wieder mal aufgefallen, dass bei Arsenal kaum jemand über 21 Jahre alt ist. Der Trainer scheint zu viel in der Dekadenz-Novelle “Tod in Venedig” gelesen zu haben oder ist der ewige Jugendkult in diesem Team ein ganz anderes Anzeichen von Dekadenz, nämlich die Geringschätzung von alterndern Menschen, die einen immer größeren Anteil unserer Gesellschaft ausmachen? Ja, die Gesellschaft altert und verfällt, weil es keinen Nachwuchs mehr gibt.

  3. Ein interessanter Ort für diese Studien wäre Neapel. Zumindest so als Gegenstück und Reibungsfläche für unsere geputzte Hauptstadt-Erfahrung.

  4. Ich kenne Berlin nicht sehr gut, aber geputzt kam mir die Stadt noch nie vor. Aber ihr habt schon recht: Die Dekadenz findet man leicht in Italien, warum nur? ;)

  5. Dekadenz muss nicht unbedingt etwas negatives sein — im Sinne einer Erneuerung, die nach dem Verfall kommt, ja durchaus etwas positives. Und: Dekadenz ist ein Prozess, die Verhältnisse sind nicht starr, Dinge können sich ändern, auch die schlechten Dinge.

  6. Dekadenz ist jeweils kurz vor gesellschaftlichen Umbrüchen feststellbar, so z.B. zuletzt in den Jahren vor 1914 und 1933. Ist es wieder einmal so weit?

  7. as a soccer pro I experience decadence everywhere – and yes it is always accompanied decay. no it is DECAY. eating oysters for breakfast, your shampoo made for you from blood of lambs… there is just no reality – especiallay when you are as successful as I am (2 goals last nite!). so the bubble i live in i dont call it reallity anymore but decayity. get it? have a nice day. i will kill some porks by hand now on my estate before forcing my personal slaves to weave easter baskets of their hair! happy decay!

  8. Pueblo Tabak ist zum Monopol geworden Überall (auch im PBerg) seh ich Kids und auch ältere Kids mit Sternburgermollen in der Hand weil auch das so ziemlich die billigste Plörre und jeder auf den Cent schaut.
    Grundsolide Harz 4 Dekadenz all arround. Ich bin aber sicher ,der Westerwaldi treibts nur mit Markenkondomen

  9. Pingback: Starbucks-Jugend
  10. Pingback: Am Zahn der Zeit

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.