Alles über meinen Vater: Wie der “Whole Earth”-Katalog die Internet-Generation inspiriert

Eines der einflussreichsten Bilder der Geschichte entstand vor 40 Jahren im Weltraum. Es zeigt den Blauen Planeten und ist nicht zuletzt als Cover-Motiv des “Whole Earth”-Katalogs bekannt. Berliner Gazette-Autorin Nancy Chapple hat eine besondere Verbindung dazu: Eine persönliche Spurensuche in ihrer Kindheit, Erinnerungen an ihren Vater und die 1970er Jahre in den USA.

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Providence, Rhode Island, 1970. Wir lebten auf der Ostseite der Stadt, auf dem „College Hill“: Imposante Gebäude der ehrwürdigen Universität gab es in fast allen Richtungen. Vor der neuen Universitätsbuchhandlung stellten protestierende Studenten nachts Trommeln hin, legten Brände in metallenen Mülleimern, trommelten in die Nacht hinein. Mein Vater verbot mir, hinzugehen, um zu schauen, was sich dort abspielte.

Ich war acht Jahre alt. Er hatte – glaube ich – ein ungutes Gefühl, ob seine Bemühungen reichen würden, seine Töchter vor dieser unruhigen und gefährlichen Welt zu schützen: die nicht enden wollende Präsenz unserer Soldaten in Vietnam, die Studentenunruhen, die Morde an den Kennedy-Brüdern und Martin Luther King, brennende schwarze Ghettos in den Städten. Ein immer stärker werdendes Gefühl, die Regierung sage ihren Bürgern nicht die Wahrheit in Bezug auf Vietnam.

Ein Ergebnis der Apollo-Missionen der 60er Jahre waren die ersten Bilder des Planeten Erde aus dem Weltraum. Zum ersten Mal konnten wir alle verstehen: Unsere Heimat war ein Himmelskörper wie viele andere. Unsere Stadt, unser Land, unser Kiez – unvorstellbar klein und unbedeutend all das. Alles hing mit allem zusammen: Meer und Erde, Südamerika und Afrika (auch wenn nicht jede Achtjährige darüber nachdenkt, wie die Kontinente Abermillionen von Jahren früher ineinander passten, mein Vater war ja Professor für Geophysik, Spezialgebiet Plattentektonik. Ihm war wichtig, dass seine Töchter eine – wenn auch vage – Vorstellung davon hatten, womit er sich tagein tagaus befasste), Ebbe und Flut, Tag und Nacht.

Ausstellung zur Epoche der Ideengeschichte

Bis zum 1. Juli zeigt das Haus der Kulturen der Welt die Ausstellung „The Whole Earth: Kalifornien und das Verschwinden des Außen“. Die Ausstellung besteht aus einem großen Raum und schließt viele Video- und Musikartefakte und längere erklärende Texte ein. Sie ist eingebettet in das über zwei Jahre laufende, transdisziplinäre Anthropozän-Projekt im Haus der Kulturen. Es gibt viel zu Lesen. Es ist nicht leicht, eine Ausstellung zu einer Epoche der Ideengeschichte zu gestalten. Ich hatte das Glück, bei einer Kuratorenführung dabei zu sein.

Eine der Leitlinien der Ausstellung ist der Whole Earth Catalog, zum ersten Mal im Jahre 1968 erschienen. Stewart Brand nutzte für dieses Projekt von Anfang an Weltraumfotos der Erde als Titelbild. Das erste Zielpublikum war die Kommunen- und „Back-to-the-land“-Bewegung, an der zu bestimmten Zeiten bis zu 600.000 Menschen in den USA beteiligt waren. Es war im Grunde ein Register der Gegenkultur. Aber bald erreichte das Buch auch einen Professor der Naturwissenschaften an einer Ivy-League-Universität in Neu-England: meinen Vater. Er war ein großer Fan des Katalogs, Ausgaben aus den Jahren 1970 und 1971 lagen jahrelang auf dem Wohnzimmertisch, so dass auch ich als junges Mädchen oft darin blätterte.

Wenn ich das Buch heute in den Händen halte – in riesigem Format, gedruckt auf billigem, inzwischen vergilbten Zeitungspapier, glaube ich ahnen zu können, was damals neu und anders war: Der Ton ist locker und persönlich („die Beurteilungen in diesen Rezensionen sind voll ernst gemeint, bruchstückhaft sachkundig und sehr oft Wunschdenken“), der Seitenlayout sieht zusammengeschustert aus.

Es ist ein Katalog: Man konnte die darin abgebildeten Gegenstände und Bücher von W.E.C.s physischen Lager oder direkt vom Händler bestellen. Und die Lieferanten waren querbeet aufgeführt: groß neben klein, Ein-Mann-Buden neben offiziellen Instanzen. Das Eintauchen darin hatte mehr mit einer Internet-Suche als mit einem Bibliotheksbesuch oder dem üblichen Durchblättern eines Katalogs gemeinsam. Durch die Anhäufung von einzelnen Meinungen verspürte man so etwas wie eine Kollektivmeinung.

“Wir Menschen wissen doch nicht alles”

Das Buch war wohl aus vielerlei Gründen aufregend für meinen Vater. Als Geologe wollte er das große Ganze, die Zusammenhänge verstehen – angefangen bei Fotos aus dem Weltraum. Er mochte den Fokus auf ökologisches Denken, da er die Meinung teilte, dass die Dinge – insbesondere der „military-industrial complex“ – aus dem Ruder zu laufen drohten. Außerdem pflegte er eine bestimmte Geisteshaltung: eine zurückhaltende Verblüffung – „wir Menschen wissen doch nicht alles“.

Diese Bescheidenheit prägte auch seinen Erziehungsstil. Er fand es gut, als ich ein paar Jahre später anfing, eine „Question Authority“-Anstecknadel („stellt Autorität in Frage“) am Rucksack zu tragen. Die Fragen „Wie viel Freiheit gönne ich meinen Töchtern?“, „Wie kann ich sie vor Gefahren schützen und dennoch gut groß werden lassen?“, „Wie gefährlich ist die Welt da draußen?“ – sie beschäftigten ihn.

Mein Onkel war 15 Jahre jünger als mein Vater und studierte an Yale University, gut zwei Stunden mit dem Zug entfernt. Er kam uns besuchen, diskutierte Politik mit meinem Vater bis spät in die Nacht, schenkte uns Kindern Bücher zur Gewerkschaftsgeschichte und Angela Davis. Außerdem schleppte er Studentinnen von der benachbarten Kunsthochschule ab und brachte sie nach oben in das Doppelbett aus Messing, das schon im Hause war, als wir es kauften. Dafür redete mein Vater ein strenges Wort mit ihm: Er empfand die Präsenz der kichernden, bekifften, austauschbaren Frauen als einen schlechten Einfluss auf uns Mädchen.

Drogenkonsum und “Free Love”

Neben den kleingedruckten Buch- und Produktbeschreibungen fand ich im Buch auch eine Geschichte vor: Rechts unten auf jeder Seite in einem Kästchen gab es etwas über ein Paar in einem VW-Bus, das mit Joints im Handschuhfach durch das Land fuhr und gelegentlich Tramper mitnahm. Ich fand es cool, dass ein Katalog für verschiedenste Sachen auch eine Geschichte enthielt. Mein Vater wollte uns zwar nichts verbieten, aber ihm war bestimmt unwohl bei den Beschreibungen freigiebigen Drogenkonsums und „Free Love“.

Kurator Anselm Franke erzählte uns bei der Führung: In diesem bestimmten Augenblick der Geschichte schien der Gegensatz zwischen Technik und Natur durch Kybernetik zu verschwinden. Es herrschte ein grenzenloses Modell. Das Bild vom Planeten Erde als ein Raumschiff, das instandgehalten werden muss (Ingenieurssprache) wich einer eher biologischen Metapher: Gaia, die Mutter Erde. Außerdem machte der Rechner als solches eine „radikale Veränderung“ durch. Vom Feind zum Werkzeug. Es passte ins Bild, dass „Access to Tools“ auf dem Katalog abgedruckt stand. Werkzeuge, die Selbstbefreiung ermöglichten, anti-hierarchische Werkzeuge.

Für seine Forschung an der Universität nutzte mein Vater einen Großraumrechner: riesige Stapel hellgrün und weiß gestreiftes, seitlich gelochtes Papier mit blassen Zeilen von Zahlen darauf. Er brachte uns Stapel davon als Schmierzettel mit nach Hause – und dann zeichnete er Skizzen darauf. Wenn er in der richtigen Stimmung war, baten wir ihn: zeichne eine Brille, ein Haus, einen Hut mit drei Ecken!

Schreibkurs und die Welt auf Tapeten

Ich nahm an meinen ersten Schreibkurs in einer kleinen alternativen „School of Creative Arts“ teil. Der Dozent erzählte uns von Abbie Hoffman’s Steal This Book: „Hoffman beriet Leser dazu, wie sie mehr oder weniger umsonst leben konnten. Viele ihrer Leser folgten Hoffmans Rat und stahlen das Buch, was dazu führte, dass viele Buchläden sich weigerten, es zu führen.“ Die Schule zog keine klaren Linien zwischen kreativem Schreiben, Komponieren, Zeichnen, Instrumente lernen – alle waren Ausdruck der Kreativität. Die Schule war einigermaßen anarchisch und erst recht nicht profitabel. Ich war gerade zehn.

Im Katalog sowie in der Ausstellung finde ich Bücher, die mir von unserem Wohnzimmerregal vertraut sind: von “Anybody’s Bike Book” zu “The Greening of America” (“eine vermischte soziologische Analyse mit Lobeshymnen auf Rockmusik, Cannabis und Jeanshosen, dabei die Auffassung vertretend, dass diese Moden eine grundlegende Verschiebung in der Weltanschauung verkörperten”), von “The Complete Walker” (was der gute Wanderer alles mitnimmt) zu “The Closing Circle” (“eines der ersten Bücher, das Nachhaltigkeit einem Massenpublikum vorstellte”).

Ohne uns Kinder zu Rate zu ziehen, entschieden meine Eltern die Wände des Esszimmers mit Karten zu tapezieren: von Frankreich (Stipendiumsjahr am Anfang der Ehe) zur Mondoberfläche (Forschungsmission eines Professorenkollegen), die ganze Welt neben einer Straßenkarte von Providence. Ich war mächtig stolz auf die ausgefallene Dekoridee und habe ähnliches in meiner ersten eigenen Wohnung aufgehängt. Sicherlich taten die Fotos der Erde aus dem Weltraum ihren Teil, meine Eltern dazu anzuregen.

Anm.d.Red.: Der Vater der Autorin ist im Jahre 1981 an einer seltenen Krebsart gestorben, als sie 19 Jahre alt war. Zwei Ausgaben des Katalogs befanden sich unter seinen Habseligkeiten. Fotos: NASA.

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