Hört Westerwelle auf seine Prostata?

Faule Zähne symbolisieren Dekadenz. Gesunde Beißer stehen für einen gesunden, überlebensfähigen Menschen, modelliert am Bild des Kaufmanns. Und so genügt bei Thomas Mann ein Blick auf das Gebiss des Bürgertums, um eindeutige Unterscheidungen zu treffen: zwischen jenen, die das Interesse am leidenschaftlichen Wirtschaften verloren haben und jenen, die den Biss noch haben. Einhundert Jahre später gibt es solche klaren Trennlinien nicht mehr. Man könnte sagen: Alle haben faule Zähne.

Heute kreist die Literatur noch immer um den menschlichen Körper, wenn es darum geht, soziale Dekadenz in Sprachbilder zu gießen, doch die motivischen Merkmale sind andere. Ein Beispiel: Don DeLillos Eric Packer, Protagonist des Romans Cosmopolis.

Wie auch die Helden Thomas Manns, gehört Packer zu den oberen Zehntausend seines Landes. Als erfolgreicher Börsenspekulant hat er jedoch mehr mit einem Kokain-Warlord gemeinsam, als mit Vertretern der alten bürgerlichen Elite des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Die Prostata lesen

Als Packer an der Börse scheitert und alles verliert, muss er sich ausgerechnet von einem übel riechenden Arbeitslosen erklären lassen, warum er so tief gefallen ist: “Du hättest auf Deine Prostata hören sollen.” Packer lässt seine Vorsteherdrüse täglich untersuchen. Nur die besten Ärzte legen Hand an. Hochgerüstete Bodyguards sorgen dabei für Sicherheit.

Der Arbeitslose, übrigens ein ehemaliger Angestellter Packers, hat auch ein Prostata-Problem. Doch im Unterschied zu Packer, weiß er die Prostata zu lesen. Ihre abweichende (oder wie es bei DeLillo heißt: asymmetrische) Entwicklung, sei, analog zu dem Kursverlauf von Währungen, eben jenes Gesetz, dass Packer nie verstanden habe: die Welt zerfalle nicht in einfache Muster.

Wessen Körper eigentlich?

Am Ende wird das Ordnungsmuster des Romans aufgehoben und der Arbeitslose und sein ehemaliger Boss Packer stehen sich nicht mehr als Antipoden gegenüber. Sie stehen auf einer Stufe und ringen um Deutungshoheit. Ein Kampf, den derjenige gewinnt, der im vollen Bewusstsein die irrationale Komplexität des Marktes (an)erkennt. Das ist der Arbeitslose.

Die Frage, die sich Packer im Sinne einer bevorstehenden Erkenntnis kurz vor seinem finalen Abgang stellt, sollte auch in der Diskussion über spätrömische Dekadenz berücksichtigt werden: “Whose body and when? Have all the worlds conflated, all possible states become present at once?”

11 Kommentare zu “Hört Westerwelle auf seine Prostata?

  1. Aber soziale Dekadenz wird ja auch nicht immer am körperlichen Verfall gespiegelt – Cronenberg und so.

  2. Wow, das ist ja ein Ding! Zahn und Prostata – ein Zufall, das beides an Körperöffnungen liegt?

  3. @Salvy Ungemach: Das finde ich nicht schlüssig argumentiert. Es wird ja nicht behauptet, dass Dekadenz und körperlicher Verfall immer miteinander einhergehen. Es geht eher darum, dass der körperliche Verfall eine beliebte Metapher oder vielleicht auch Allegorie ist für Dekadenz. Wie meinst du das mit Cronenberg an dieser Stelle?

  4. @ Salvy: Was willst Du damit sagen? Ich frage auch, weil ich meine, dass soziale Dekadenz gerade bei Cronenberg immer wieder im Körper gespiegelt wird: mutierende, sich selbst zerstörende, unkontrollierbare Körper.

  5. @ Leon & Richard: Ich musste bei “körperlicher Verfall” nur gleich an Cronenberg denken. Und ich hätte einfach nicht gesagt, dass bei ihm körperlicher Verfall mit Dekadenz, sondern eher mit (Selbst-)Entfremdung einhergeht.

  6. @ Salvy: fragt sich dann aber doch, was eigentlich soziale Dekadenz, also wie man das definiert und von Prozessen der (immer auch sozial bedingten) Selbst-Entfremdung zu trennen ist — oder?

  7. ich sehe eine starke verbindung zwischen selbst-entfremdung und dekadenz (man muss ja bei dekadenz nicht immer die völlerei und das abbröckelnde gold im sinn haben). in diesem sinne erzählen zombiefilme doch auch interessante dekadenz-geschichten oder?

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