Weltbürgerschaft vs. Nationalismus: Was könnte eine globale Vernetzung von Geflüchteten bewirken?

Aktuell scheint die Weltgemeinschaft weit entfernt zu sein von der Idee der Weltbürgerschaft. Protektionismus und Nationalismus sind auf dem Vormarsch, oder doch nicht? Der Künstler und Berliner Gazette-Autor Ingo Günther beschäftigt sich seit 30 Jahren mit der Frage der Weltbürgerschaft. Auf der Suche nach Antworten erschafft er neuartige Globen. Ein Essay.

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Weltbürgerschaft erlangt man nicht durch Antrag auf Ausstellung eines Weltbürgerpasses. Auch wenn es dementsprechende Versuche im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gegeben hat. Weltbürgerschaft ist vor allem ein Aufwand, sie ist Arbeit, eine emotionale und intellektuelle Anstrengung. Und sie ist eine Pflicht und das Übernehmen von Verantwortung, wenn auch nicht unbedingt bewusst oder freiwillig.

Historiker, Philosophen, Anthropologen haben der Menschheit das Bewusstsein, sich gemeinsam eine Weltkugel zu teilen, schon seit langer Zeit zugeschrieben, wenn auch zu verschiedenen Zeitpunkten. Sie wurde sowohl mit der entsprechenden Verantwortung konfrontiert als auch mit einer exotischen “Man-of-the-World”-Romantik verführt. Aus einem Verständnis der Interdependenz haben sich die Bausteine der, wenn auch trägen und oft offensichtlich ineffizienten, überregionalen und globalen Institutionen entwickelt. Die Weltbürgerschaft, wenigstens als Sekundäridentität, gehört dazu.

Der Globus für die Hosentasche

Der Taschenglobus aus Papier des 19. Jahrhunderts mag die deutlichste individuelle Manifestation dieses gefälligen Bewusstseins darstellen. Auch der Leuchtglobus des 20. Jahrhunderts scheint Ausdruck einer wohlwollend totalitären, modernistischen Haltung zu sein. Auf diese grobe, auf ein vierzig Millionstel verniedlichte Version der Welt scheinen sich alle Menschen, wenigstens ästhetisch, einigen zu können. Dialogfähig auf Kopfgröße anthropomorphisiert und gleichzeitig abstrahiert, ist Globalität buchstäblich greifbar dimensioniert. Ohne diesen cartesianisch kartografischen Zugriff auf die Welt, ist diese als Gesamtphänomen kaum denkbar. Als Autor einer Serie von inzwischen über tausend Versionen solcher illuminierten Globen versuche ich, den planetaren Zustand in makroskopisch handlichen Einheiten darzustellen.

Ideologisch mag man sowohl den Kosmopolitismus der Aufklärung mit dem Kolonialismus in Verbindung bringen, als auch den Internationalismus mit Weltrettungssolidarität. Der Heartland-Theoretiker Mackinder (Halford John Mackinder war ein britischer Geograph, der von 1861–1947 lebte) inspirierte die geostrategischen Überlegungen der Achsenmächte (und der amerikanischen kalten Krieger), während die Alliierten ein weltverbindendes Luft-See-Netz als perspektivische Garantie ihres Kriegserfolges schon 1942 der amerikanischen Öffentlichkeit als »Airways to Peace« in einem begehbaren Globus präsentierten.

Meine Worldprocessor-Globen, deren Beginn in der Zeit des Kalten Krieges und vor dem Internet liegt, verstanden sich in den ersten Jahren als kritisches Kompendium zur Globalisierung, um einen globaldimensionalen Kontext zur lokalen und nationalen Berichterstattung zu liefern und, wenn auch nicht direkt anzuklagen, so doch die Daten und Perspektiven zu liefern, um Ungerechtigkeiten und Missstände zu erkennen.

Zu meinem Erstaunen musste ich die Mehrzahl der Globen aus den 1990er Jahren innerhalb von zehn Jahren neu bearbeiten und die nachfolgende Generation schon nach durchschnittlich fünf Jahren; heute im Jahresrhythmus. So schnell haben sich die Zustände und Bedingungen verändert.

Globale Geschichte des Fortschritts

Wenn man den westlichen Massen- und sozialen Medien traut, dann steht es um die Welt sehr schlecht, dann haben die humanistischen Ideen (wieder) versagt, die ineffizienten internationalen Institutionen weltbürgerlicher Ideale schlimmstenfalls noch zur unausweichlichen Apokalypse beigetragen. Die globalen Daten haben davon allerdings noch nichts mitbekommen. Sie erzählen (noch) eine andere Geschichte, nämlich die eines sukzessiven Fortschritts.

Im täglichen Nachrichtenschwall der kleinen und großen Katastrophen gehen die langfristigen Erfolge, die die Welt in den letzten fünfzig Jahren zu verzeichnen hat, offensichtlich unter: Immerhin sind wir – nicht zuletzt durch humanistische und weltbürgerliche Ziele geleitet – in der erfolgreichsten entwicklungsgeschichtlichen Phase der Menschheitsgeschichte angelangt. In den letzten fünfzig Jahren hat sich die Weltwirtschaft verfünffacht. Die Kindersterblichkeit ist drastisch gesunken, die Lebenserwartung ist im gleichen Zeitraum von knapp über fünfzig auf nun weltweit über siebzig gestiegen; die Geburtenrate sank von 5 auf 2,4; nie starben weniger Menschen durch Kriegshandlungen als heute.

Das Bewusstsein unserer Zeitgenossen über diese eigentlich spektakulären Erfolge scheint jedoch durch ubiquitäre Katastrophenmeldungen getrübt – eine zufriedene Rückschau auf Geleistetes erfordert eine brutal-makroskopische Perspektive und emotionale Ignoranz, mit der sogar die meisten Politiker zu kämpfen haben. Das nagt auch an der Identität des kritischen Bürgers, der nicht als positivistischer systemimmanenter Ja-Sager lakonisch den Status quo abnicken will. Die Verwerfungen des rasanten Wachstums werden am berstenden, kaum mehr stützenden kulturellen Korsett auch individuell spürbar. Die Daten signalisieren einen Erfolg, der sich nicht mit individueller Ethik verbinden lässt.

Die Welt kommt sich näher, die Welt zerfällt

Benjamin Barber beschrieb schon 1992 die technologiegetriebene Dynamik eines massiven identitätsdemographischen Rutsches: dass die egalisierenden kommunikativen Medien einerseits so etwas wie einen Globalisierungsmenschen (McWorld) hervorbringen, während gleichzeitig die dezentralisierende, anti-hierarchische Natur der Netzwerke die Formierung und Konsolidierung von Splittergruppen (z. B. Dschihadisten) begünstigt. Die Welt kommt sich näher, während sie zerfällt.

Mag die Globalisierung auch noch so große Vorteile mit sich gebracht haben, für die damit verbundenen Verwerfungen und unerwünschten Nebenwirkungen gibt es gerade in Europa und Nord-Amerika eine besondere Sensibilität. Diese Zonen haben die Peak-Weltbürgerschaft, den Scheitelpunkt, bereits überschritten.

Gerade jetzt, da die globalisierte Welt den informierten und bewussten Weltbürger braucht, scheint eher der “Nationalstaatler” auf dem Vormarsch zu sein, der Weltbürger ist erschöpft und zieht sich zurück. Aber was auch immer man konkret mit dem Begriff verbindet, es besteht der Eindruck, dass Weltbürgerschaft ein zerfallendes, an der Realität scheiterndes Konzept ist. In vielen Teilen der Welt wird versucht, den Staatsgedanken mit Gewalt durchzusetzen, während in anderen Regionen auf die Relativierung der Souveränität des Nationalstaates mit massivem Protest reagiert wird.

Nicht-Bürger und Nicht-Menschen

In der sich entwickelnden Welt, dem Globalen Süden (Global South), sieht es allerdings anders aus. Gerade in den Staaten mit schwach ausgeprägten demokratischen Institutionen gibt es Bevölkerungsschichten, die ohne oder mit mehr oder weniger eingeschränkten, staatsbürgerlichen Rechten überleben müssen. Flüchtlinge, ethnische Minderheiten, Nomaden, religiöse Minderheiten, Staatenlose, illegale Einwanderer, saisonale Migranten etc. gehören dazu.

In den USA leben acht Prozent als Nicht-Staatsbürger, die Hälfte davon etwa als Illegale. In Lettland sind noch immer zwölf Prozent der Bevölkerung Nichtbürger (Nepilsoņi), die vor über zwanzig Jahren auf einen Schlag ihre sowjetische Staatsbürgerschaft verloren und damit zu lettischen Nichtbürgern wurden. Das offiziell kommunistische China hat ein Residenzrecht (Hukou = Wohnsitzkontrolle), das die Zuwanderung in die großen Städte zwar nicht unterbindet, aber einen de facto zweitklassigen Nichtbürger schafft, der von Sozialleistungen ausgeschlossen ist.

In Japan gibt es neben den koreanischen Nichtbürgern (von denen etwa ein Drittel die nordkoreanische Staatsbürgerschaft hat) auch eine Untergruppe der Burakumin, die sogar als Hinin ( 非人 , Nicht-Menschen) bezeichnet werden.

Dass sich aus den Schichten der Nicht-Bürger eine neue Generation des Weltbürgers entwickelt, ist sehr viel wahrscheinlicher als der Weg über die Expansion der Staatsbürgeridentität. Zur Neuauflage des Weltbürgers wird die Flüchtlingssituation also genauso beitragen wie die vergleichsweise inhumanen Arbeitsbedingungen der Migrationsarbeiter. Anstatt den Globalismus für ihre Misere verantwortlich zu machen, hoffen die Menschen unter ungerechten Verwaltungen auf Weltoffenheit und Mitgliedschaft im globalen Club der Menschen.

Die Zukunft liegt nicht in Europa

Laut einer weitgefächerten Erhebung des letzten Jahres ist der neue Weltbürger (im Sinne des durchschnittlichen Bürgers dieser Welt) sowohl ein hoffnungsvoller Weltbürger als auch einer, der sich gleichzeitig an die manifesteren nativen und religiösen Identitätsstifter klammert.

Tatsächlich sieht sich in den Nicht-OECD-Staaten eine deutliche Mehrzahl der Bewohner eher als Weltbürger denn als Staatsangehörige ihres Landes. Immerhin sind es aber dennoch etwa 17 Prozent der Weltbevölkerung für die Weltbürgerschaft das entscheidende Identitätskriterium ist, also gewichtiger als Nationalität.

Während dieser Trend vor allem in Deutschland und Russland seit 2009 rückläufig ist, sind es die schnell wachsenden städtischen Zonen in Afrika und Asien, in denen die Weltbürgerschaftsidentität expandiert. In Ländern wie Nigeria, China, Peru oder Indien gibt es das deutlichste mehrheitliche Sentiment für eine internationalistische Identität. Gleichzeitig wird Nationalität überwiegend als entscheidendes Kriterium der Identität angegeben. Hier mögen Wunschbild, Protest und Realismus aufeinandertreffen. Potential und Offenheit sind aber konzeptionell in der nicht-westlichen Welt auf dem Vormarsch und deuten auf ein hoffnungsvolleres Szenario als das, vor dem die OECD Staatsbürger sich nativ zurückziehen wollen.

Seit den 1990er Jahren tauchen in aller Welt staatsartige Projekte auf, die als Adapterzonen zum planetaren Welthandelsgefüge dienen sollen. Diese Special Economic Zones (SEZs) tragen gleichzeitig das noch unerfüllte Potential als Experimentierfelder für neue Gesellschaftsverträge, während sie gleichzeitig vor Überfremdung schützen sollen. Eine Vernetzung dieser exterritorialen Globalzonen ist ebenso denkbar, wie die weltweite Vernetzung der Flüchtlingslager, wie ich es schon 1994 im Konzeptpapier zu einer Flüchtlingsrepublik beschrieben habe.

Der risikoreiche Versuch, über die eigenen kulturellen und instinktiv gezogenen Grenzen hinwegzuschreiten und den Mehrwert in der Heterogenität der Menschen zu finden und ihn zu nutzen, ist bei allen Widersprüchen und Konflikten ein sich weiterhin entwickelndes Projekt, dessen Protagonisten mehrheitlich nicht mehr in Europa leben.

Die Weichen der Welt stehen also gar nicht schlecht für den „Global Citizen 3.0“ der nächsten fünfzig Jahre. Denn all das könnte in naher Zukunft eine kritische Masse entwickeln – gerade dann, wenn die Menschheit sich in schnellen evolutionären Schritten biotechnologischer Optimierung als „transhuman“ definieren wird.

Anm. d. Red.: Das Bild oben zeigt einen Auschnitt aus Ingo Günthers Arbeit Refugee Republic, in der Mitte des Beitrags ist das ganze Bild zu sehen. Weitere Texte zum Thema Staatsbürgerschaft finden Sie im Berliner-Gazette-Jahresschwerpunkt Friendly Fire. Dieser Text liegt auch in gedruckter Form in dem Band Global Citizenship vor.

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