Was Facebook fuer mich bedeutet

Alltag, was ist das eigentlich? Ich frage, weil ich versuche, meine Gedanken aus dem Alltag heraus zu entwickeln und weil ich merke, dass ich ins Stocken komme, wenn ich diesen Begriff ernst nehme. >Alltag< suggeriert das Gewoehnliche, das vermeintlich Unbemerkenswerte, das, was sich wiederholt; das, was Routine ist, aber keinen besonderen Namen verdient, ausser man koppelt es, zum Beispiel in einem Begriff wie Arbeitsalltag, oder in Wendungen wie >mein Alltag als…<, >der Alltag in…<, etc.

Alltag suggeriert etwas Vertrautes, Intaktes, etwas, dass in einer zunehmend kontingenter werdenden Welt idyllisch anmutet: Im Alltag begegnet man vertrauten Gesichtern, verwendet eine gemeinsame Sprache, haelt sich an Orten auf, die man gut kennt. Alltag verspricht Sicherheit. Doch kann es diese Sicherheit, diese Vertrautheit im Alltag einer >globalisierten Welt< ueberhaupt geben? Die Routine ist das entscheidende Kriterium. Sie macht den Alltag zu dem, was er ist. Und so fragt sich: Sind Ueberraschungen an ihre Stelle getreten, die der Einbruch des Globalen ins Lokale mit sich zu bringen vermag? Oder ist inzwischen das Globale zum Alltag geworden? Lange Zeit gewann der Alltag Konturen durch Grenzen, beziehungsweise Begrenzungen. Der Alltag spielte sich in einem ueberschaubaren, wenigstens jedoch in einem oertlich identifizierbaren Radius ab. Moegen die Orte des Alltags die gleichen geblieben sein, die globalen Stroeme aus Daten, Menschen und Muell, haben sie in den letzten Dekaden grundlegend veraendert und entgrenzt. Was ist heute in der so genannten globalisierten Welt Routine? Was ist Alltag? Etwa das, was sich den Ordnungssystemen des Lokalen entzieht? Also das Globale? Oder das, was die alten Ordnungssysteme des Lokalen erfolgreich neu verpacken? Im Visier habe ich einen Alltag im Zeichen des Globalen, aber zu den Bedingungen des Lokalen. Wie gesagt: Alltag bedeutet Routine, Routine bedeutet Verortbarkeit und Sicherheit – all diese Mechanismen, so muss man vermuten, sollten darauf aus sein, die zersetzenden Kraefte des Globalen zu bannen. Sollten darauf aus sein, die Delokalisierung als Atmosphaere eines Ortes, das Fremde als Vertrautes und das Kontingente als Routine erscheinen zu lassen. Daher muss ich fragen: Ist der grosse Zusammenhang, also die Gesamtheit aller irdischen Beziehungen, im Alltag als Alltag erfahrbar? Oder ist der grosse Zusammenhang etwas, das ueber den Alltag hinaus geht? Und damit etwas, dass im Alltag nicht erfahren werden kann? Seit zwei Wochen werde ich mit einer scheinbar einfacheren Frage konfrontiert. Jedesmal, wenn ich mich bei Facebook einlogge, werde ich gefragt: >Was machst Du gerade?< Ich bin seit dem 31.12.2009 in diesem sozialen Netzwerk angemeldet, und beschaeftige mich seitdem mit dieser Frage. Unterdessen habe ich Personen, die ich auf die eine oder andere Weise, teils sehr gut, teils weniger gut kenne, in meinem Freundeskreis aufgenommen. Das System schlaegt mir immer wieder neue Freundschaften vor, aber ich gehe nicht darauf ein, selbst wenn ich mit der betreffenden Person >45 Freunde< gemeinsam habe. Ich will diese Menschen kennenlernen, sicherlich, aber im Augenblick ist mir nicht danach, nicht auf diesem Weg. Nicht basierend auf statistischen Daten eines Netzwerks. Manche haben 1.500 Freunde, manche sogar zehnmal so viele. Manche 400, oder um die 200 wie ich. Jene, die noch weniger haben, etwa 10 bis 100, aber sehr aktiv im Facebook sind, reagieren meist am aufmerksamsten auf Antworten, die Leute aus ihrem Kreis auf die Frage >Was machst Du gerade?< geben. Sie klicken „gefaellt mir“ oder sie kommentieren die Nachricht, teils sehr ausfuehrlich. In den letzten Tagen dominiert hier ein Thema: Klima. Genauer gesagt: Schnee. Die Meldungen reichen von Alarmismus, ueber poetische Fantasien, bis hin zu nuechternen Bestandsaufnahmen von Niederschlaegen und damit verbundenen Ausfaellen. Die Geschehnisse betreffen im Augenblick in erster Linie Europa, aber ich glaube, dass auch Menschen in anderen Erdteilen daran teilhaben koennen. Menschen auf der ganzen Welt reden gerne ueber das Wetter. Das nehme ich zumindest an. Und so faellt mir auch kein besseres Thema ein, um meinen Antworten auf die Dauerfrage im Facebook eine entsprechend internationale Kontur zu geben. Mein Freundeskreis im Facebook ist ueber fast alle Kontinente verstreut, manche Menschen habe ich schon seit 10 Jahren [meinem Weggang aus Tokio], manche sogar schon seit fast 20 Jahren nicht mehr gesehen [meinem Weggang aus Hannover]. Die Interessenlagen sind so unterschiedlich wie die Muttersprachen dieser Menschen. Doch waehrend von vornherein klar ist, dass ich Englisch benutze, um eine gemeinsame Kommunikationsgrundlage zu schaffen, ist mir zunaechst schleierhaft, welche Themen ich adressieren soll. Eine Moeglichkeit ist, radikal subjektiv und persoenlich, aber auch genauso radikal trivial und banal ueber sich selbst und seinen Alltag zu sprechen. >Ich bin gerade im Supermarkt<. >Ich gucke gerade TV<. Es ist erstaunlich wie beliebt solche Meldungen sind, es scheint: je banaler, desto universaler. Die andere Moeglichkeit besteht darin, nicht ueber sich selbst, sondern ueber das Wetter zu sprechen. Es ist Projektionsflaeche des Selbst und es ist das, was alle Menschen [zumindest dem Gefuehl nach] miteinander verbindet. Tatsaechlich muesste man ueberpruefen, wie global verbreitet diese Rede ist und wie sie sich historisch entwickelt hat. Eines ist gewiss: Seit einigen Jahren spricht man nicht mehr ueber Wetter, sondern ueber Klima. Eine differenzierte Diskursanalyse ist mir an dieser Stelle nicht moeglich, eines jedoch scheint auf der Hand zu liegen: Die Rede vom Klima ist auf einer deutlich dramatischeren, politischeren und zugleich identitaetsstiftenderen Ebene angesiedelt. Dramatischer, weil es nicht einfach nur gut oder schlecht ist, sondern gegebenenfalls der Anfang vom Ende, Vorbote der Apokalypse. Politischer, weil es nicht einfach nur um Umweltschutz ersten Grades geht, sondern immer auch darum, mit dem Ruecken an der Wand, etwas unternehmen zu muessen: gegen den besinnungslosen Verbrauch von Energien, gegen den Austoss von CO2, gegen das Ende der Welt, etc. Identitaetsstiftender, weil im Zuge dessen Mechanismen der sozialen Inklusion aktiviert werden: Hier entscheidet sich, wer zur Weltgemeinschaft gehoert und wer nicht. Was also melden im Facebook? Laut Angaben der Betreiber sind hier mit ueber 350 Millionen NutzerInnen rund 5 Prozent der Weltbevoelkerung angemeldet. Ich kann in diesem sozialen Netzwerk meinen Alltag mit Menschen teilen, die ich kenne, aber auch mit so genannten >Freunden von Freunden<. Mein Kreis ist beliebig erweiterbar. Natuerlich gibt es ein Limit [die Anzahl der Facebook-Nutzer], aber das Netzwerk kennt nach Innen hin keine Grenzen. Die Nutzer, beguenstigt durch die Architektur des Netzwerks, sorgen dafuer, dass staendig neue Verbindungen entstehen. Ich erfahre hier [im doppelten Sinne des Wortes erfahren], wie alles mit allem und alle mit allen zusammenhaengen. Der grosse Zusammenhang, das ist hier Alltag. Und zwar immer dann, wenn der Alltag ueber den Alltag hinaus geht. Wenn sich die Konturen des inneren Freundeskreises aufloesen, wenn also die Routine unterbrochen wird, wenn das vertraute Territorium durchloechert wird – und loechrig bleibt. Dann beginnt ein neuer Alltag: der Alltag der planetarischen Gemeinschaft, die weder Innen noch Aussen kennt, die prinzipiell offen ist und das Gemeinsame, also das, was sie zusammenhaelt, nicht als Harmoniepille, sondern als Reibungspunkt kennt. So das Klima. Meldungen im Facebook sollten gegen den jeweils herrschenden Diskurs arbeiten und sie sollten streitbar sein. Sie sollten wie das Klima selbst sein: unberechenbar, beliebig, nervig. Kurz, so wie das, was man nicht hoeren, nicht erfahren will. Sie werden fragen, warum sollten sie? Warum sollte man die haessliche Wahrheit des Klimas reproduzieren? Warum sollte man dort anfangen Probleme zu bearbeiten, wo Menschen auf einer virtuellen Spielwiese gemuetlich abhaengen? Antworten sollten nicht in diesen Fragen selbst gesucht werden. Vielmehr in jenen Antworten, die facebook-Nutzer geben, wenn dass System wissen will: >Was machst Du gerade?< Ich meine, dass die Live-Meldungen im facebook bereits besagte Eigenschaften haben. Gerade dann, wenn man sich nicht eine Einzelmeldung herauspickt, sondern sich viele auf einmal anschaut, auf der Startseite des persoenlichen Kontos. Was man dort zu Gesicht bekommt, will man eigentlich nicht hoeren. Beziehungsweise lesen. Es ist unberechenbar, beliebig, nervig. Es gilt – mit Blick auf die planetarische Gemeinschaft wohlgemerkt –, ein Bewusstsein dafuer zu entwickeln und bei eigenen Klimameldungen kurz innezuhalten, bevor man tippt. Das Klima hat das Potenzial, das, was man Alltag nennt, neu zu bestimmen. Das Klima kann jene Vereinbarungen aufloesen, die den Alltag konstituieren: Sicherheit, Routine, Vertrautheit, etc. Und den grossen Zusammenhang als solchen erfahrbar machen. Ich sage „kann“, weil ich weiss, wie man dem Klima, mich eingeschlossen, tendenziell begegnet. Ich spreche darueber, stelle Vergleiche zwischen heute und gestern an, de facto jedoch setze ich lieber Kopfhoerer auf, besorge mir dichtere Fenster, schalte die Klimaanlage an oder traeume von einem neuen PKW, als dass ich mein Sensorium gegenueber jener Komplexitaet oeffne, die das Klima heute im zunehmenden Masse darstellt. Die Rede ueber das Klima geht mit Verfeinerungen und Optimierungen dessen einher, was man die Technik der Isolation nennen kann. Der Zeitgeist wurde zu Beginn der Nuller Jahre von einer Produktvision des Londoner Markenberatungsunternehmens Pearlfisher wohl am besten erfasst. >Spaceman<: Eine ueber Geruch, Temperatur und Klang generierbare Sphaere, die sich per Knopfdruck um mich herum aufbaut. Doch wozu das Chaos der Umwelt ausblenden? Und ueberhaupt: Ist die Umwelt wirklich so chaotisch? Traegt der Diskurs der Erderwaermung vielleicht nur dazu bei, dass sie so anmutet? Das komplexe Zusammenspiel von Licht, Luft und Wetter sollte mich neugierig machen, und zwar auf einer ganz sinnlichen Ebene. Es gilt die ganzen feinen Abstufungen zu erfahren, ja: zu geniessen. Klingt wie Hedonismus kurz vor dem Untergang? Was im >Spaceman< ausgeblendet wird, gebrandmarkt als Krach, Gestank und Smog, moechte ich keinesfalls als Kaviar fuer Apokalyptiker verkaufen. Vielmehr soll das, was heute meinen Alltag in der Stadt ausmacht und analog dazu das Klima, nicht ausgeblendet, sondern als jene Resonanz begriffen werden, die heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die planetarische Gemeinschaft durchdringt. Diese Resonanz ist das Gemeinsame. Das, was ich als geteilte Grundlage des grossen Zusammenhangs erfahre, selbst, wenn es haeufig kaum wahrnehmbar ist, mich zu beunruhigen vermag und mich sogar abstoesst. Ich blicke in den unterschiedlichsten Situationen zum Himmel. Etwa, wenn ich an meinem Schreibtisch arbeite, durch die Stadt laufe, Fahrrad fahre oder in der Bahn sitze. Meistens sehe ich nur einen kleinen Ausschnitt, den Rahmen bildet die Stadt. Der Himmel ist nicht romantisch. Er ist nicht das, was er einmal war. Oder gewesen sein koennte. Der Himmel, er ist meistens grau und dreckig. Ich blicke zum Himmel, um mich zu vergewissern und um mich zu informieren. Ich suche dort Anhaltspunkte ueber das Klima. Haeufig bleibt mein Blick am Rahmen haengen. Er wird meistens, beim genaueren Hinsehen zumindest, von Handymasten gesaeumt. Die Technik, die zahllose mobile Menschen miteinander vernetzt, ist ein Stoerfaktor, und man muss sich fragen: Was bringt die Menschen einander naeher – die Handys oder der unsichtbare Elektrosmog, den sie hervorzubringen helfen? Das Gespraech oder der unsichtbare und unhoerbare Dreck, der das Gespraech, wenn nicht moeglich macht, so doch aber Nebenprodukt dessen ist, was es ermoeglicht? Die Frage ist rhetorisch und wie so viele rhetorische Fragen ist sie, genau genommen, falsch gestellt. Es geht nicht darum, was heute mehr oder weniger den grossen Zusammenhang ausmacht, sondern, was ausgeblendet wird, wenn es gilt, ihn zu erfassen. Natuerlich uebersieht man die Handymasten lieber, wenn man zum Himmel schaut. Aber der Himmel des 21. Jahrhunderts ist durchzogen von Technik und den Spuren der Industrialisierung, die sich als verstoertes Klima aeussern. Wenn ich es zulasse, erfahre ich den grossen Zusammenhang, die Gesamtheit aller irdischen Beziehungen, als Laerm. Ich erfahre ihn taeglich. Mal lauter, mal leiser. Auf der Strasse, in meinem Buero. Wenn ich in den Himmel schaue oder mich im facebook einlogge.

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