Digitale Schnitte: Warum und auf welche Art wir uns von unseren Data-Doubles trennen sollten

Data Doubles, das sind die digitalen Versionen unserer selbst: Als Datenprofil bei der Bank, als Persona in den sozialen Medien oder auch als registrierte Staatsbürgerin bei einer Behörde. Was passiert mit meinen Daten, wenn ich nicht die richtigen Papiere habe? Wie gefährlich kann das simple Nutzerkonto bei der städtischen Bibliothek werden? Im zweiten Teil ihres Essays stellen die Berliner Gazette-Autorinnen Katrin M. Kämpf und Christina Rogers das Konzept der digitalen Schnitte vor.

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In den im ersten Teil dieses Essays beschriebenen Technökologien trennt eine Vielzahl menschlicher und nicht-menschlicher AkteurInnen verkörperte Subjekte und Data Doubles in verschiedenen materiell-diskursiven Praktiken oder Apparaten: Einzelpersonen, die beispielsweise Fingerabdruckscanner und dazugehörige Datenbanken bedienen, Software, die Profile für Werbekunden erstellt, Algorithmen, die Datenströme über bestimmte Server routen, oder auch künstliche Intelligenzen produzieren Grenzziehungen innerhalb des Fleisch-Technologie-Informations-Amalgams.

Sprechen wir hier von einem Subjekt, meinen wir also nicht eine autonome, emanzipierte oder handlungsfähige Einheit, sondern etwas, das sich kontingent im Gefüge gesellschaftlicher, sozialer und technischer Kräfteverhältnisse, also in „Subjektivierungsmilieus“ (Erich Hörl), konstituiert.

Deshalb verstehen wir das Subjekt zunächst als das Ergebnis eines agentischen Schnitts: Die feministische Objektivitätstheoretikerin Karen Barad geht in Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning davon aus, dass Subjekte, Objekte und Instrumente der Beobachtung immer schon miteinander verwoben sind, miteinander intra-agieren. Erst in diesen Intraaktionen materialisierten sich Körper- oder Subjektgrenzen, die immer als temporär und lokal begriffen werden müssten.

Um Phänomene trotz dieser Verwobenheit beschreibbar zu machen, führt Barad den Begriff des „agentischen Schnitts“ (agential cut) ein, der die temporäre und lokale Trennung von Beobachtenden, Beobachteten und Instrumenten der Beobachtung erlauben soll. Da in ihrem Objektivitätskonzept klassische ontologische Exteriorität nicht existiert, muss „agentische Trennbarkeit“ erst durch agentische Schnitte hergestellt und Objektivität so ermöglicht werden. Barad geht es also zunächst um Verschränkungen, mit all den damit einhergehenden Gestaltungsmöglichkeiten der Materialität, Handlungsfähigkeiten oder auch topologischen Veränderungen. Diese Verschränkungen sind intrinsisch mit Fragen menschlicher und nicht-menschlicher Grenzziehungspraktiken verbunden. Entitäten ergeben sich in Barads Konzeption erst durch agentische Schnitte innerhalb von Phänomenen und produzieren dadurch neue Phänomene.

Was sind digitale Schnitte?

Es geht also nicht um absolute Differenzierungen und Unterscheidungen per se, sondern um bedeutungsvolle und materielle Einschnitte, die Verwobenheit eben nicht aufheben: „Phänomene beinhalten agentische Schnitte und diese Schnitte schaffen nicht einfach Trennungen. Vielmehr sind diese Schnitte dis/kontinuierlich, sie schneiden zusammen-auseinander (eine Bewegung) […].“  (Karen Barad). Körper materialisieren sich demnach differenziell, und da agentische Schnitte nicht nur unser Wissen über Körper beeinflussen, sondern Körper selbst gestalten, bedeutet Objektivität, Verantwortung für die durch Schnitte hervorgebrachten Materialisierungen zu übernehmen.

Die Schnitte, die bei Barad dazu dienen, feministische Objektivitätskonzepte zu realisieren, scheinen sich in digitaler Form in den Grenzziehungen zwischen verkörpertem Subjekt und Data Double zu spiegeln – wenngleich hier sicherlich in den meisten Fällen nicht mit der Zielsetzung, feministische Objektivitätskonzepte zu realisieren. Dennoch glauben wir, dass Barads Konzept der agentischen Schnitte – gerade weil diese in eigentlich ontologisch untrennbare intra-agierende Komponenten temporäre und lokale Grenzziehungen einführen – dieses bislang etwas untertheoretisierte Phänomen beschreibbarer machen kann.

Deswegen verstehen wir digitale Schnitte als temporär-lokale Trennungen oder Teilungen ansonsten hybrid oder interdependent funktionierender Komponenten der Fleisch-Technologie-Informations-Amalgame. Diese Schnitte werden von menschlichen wie nicht-menschlichen AktantInnen vorgenommen und sind mit einem spezifischen Wahrheitsanspruch verknüpft, da sie vermeintlich objektiv-reale Datenspuren bearbeiten. Zum einen gelten Rohdaten nicht als durch materiell-diskursive Praktiken erzeugtes Wissen, sondern als immanente digitale Wirklichkeit. Zum anderen sind digitale Schnitte temporär-lokale Separierungen, die Phänomene bilden, die dann wiederum unterschiedlichen Regimen und ihren jeweiligen Objektivitätsansprüchen unterliegen, wobei der Schnitt selbst nicht als wahrheitsproduzierend verstanden wird.

Die Auswirkungen der digitalen Schnitte

Digitale Schnitte können Data Doubles und Datenschatten von verkörperten Subjekten abtrennen oder Schnitte oder Teilungen innerhalb von Data Doubles vollziehen und sie in Datenflüsse verwandeln. Mit dem Konzept der digitalen Schnitte lassen sich sowohl Phänomene beschreiben, in denen diese Aufspaltungen willentlich und wissentlich vonstatten gehen, als auch solche wie die Einspeisung biometrischer Information in Datenbanken der Migrationskontrolle, bei denen von Freiwilligkeit keine Rede sein kann.

Digitale Schnitte können von menschlichen und nicht-menschlichen AkteurInnen (wie künstlichen Intelligenzen) durchgeführt werden. Mithilfe der Schnitte können Fleisch-Technologie-Informations-Amalgame verschiedenen rechtlichen, technologischen oder biopolitischen Regimen untergeordnet und in deren jeweiligen Logiken weiterverarbeitet werden. Neben landläufigen Akzentuierungen von Hybridität oder Amalgamierung gilt es ebenso zu untersuchen, wo und mit welchen Konsequenzen diese Kopplungen wieder aufgebrochen werden: In manchen Fällen, wie z. B. den quer durch Europa reisenden biometrischen Daten in Hotspots festsitzender MigrantInnen, bleibt mit dem Schnitt eine Referenz auf ein konkretes Individuum erhalten, in anderen, wenn z.B. Potenzialitäten verhandelt werden, ist die Loslösung von konkreten Subjekten programmatisch.

Antiterrorbekämpfung mittels „risk alerts“ kann hierfür als Beispiel gelten: In deren Rahmen können spezifische Nachnamen, die Religionszugehörigkeit, Sprachkenntnisse oder Reiserouten etc. zu Risikopotenzialen werden. Es sind daher nicht konkrete Individuen, die im Namen von Sicherheit fokussiert werden, sondern fragmentierte Elemente eines angeblichen Risikos. Das potenziell gefährliche, dividuierte Subjekt wird also aus einem Amalgam von Teilelementen anderer Subjekte und Objekte zusammengesetzt, wie Louise Amoore betont.

In einigen Situationen erweisen sich die Schnittstellen zwischen verkörpertem Subjekt und Data Double gleichzeitig auch als Schnitt-Stelle, als Instanz, die Schnitte durchführt, in anderen – z. B. bei der geheimdienstlichen Überwachung oder der Social-Network-Analyse der Drohnenkriege – haben Interfaces wie soziale Medien selbst wenig mit den Schnitten zu tun. Teilweise liegen agentische Schnitte in der Eigenlogik der jeweiligen Technologien begründet, z. B. entstehen die von Bridle beschriebenen algorithmischen StaatsbürgerInnenschaften aus der Logik des Routings heraus. Ihre Auswirkungen reichen von existenzbedrohenden Einschnitten in die Gestaltbarkeit des einzelnen Lebens bis hin zur banalen Film- oder Produktempfehlung auf Netflix oder Amazon.

Eingriff in die Fleisch-Technologie-Informations-Amalgame

Die eingangs vorgestellten Interventionen adressieren mit Mitteln des Rechts, des zivilen Ungehorsams, der Kunst und der Technologie verschiedene Ebenen der Aufspaltung von Fleisch-Technologie-Informations-Amalgamen: Bridles Plug-in dokumentiert mediale Eigenlogiken des Routings, die digital und immer wieder von Neuem StaatsbürgerInnenschaft algorithmisch in etliche Sub-StaatsbürgerInnenschaften aufsplitten und Data Doubles immer anderen Jurisdiktionen unterordnen. Das Projekt ist bemüht, Transparenz über bestimmte Schnitte herzustellen und Aufmerksamkeit für diese Prozesse zu erregen. Facebook-Kläger Schrems intervenierte mit den Mitteln des Rechts in eine intransparente Speicherpraxis und hat darüber zumindest eingeschränkten Zugriff auf vormals nicht zugängliche Aspekte von Data Doubles auf Facebook geschaffen. Die NoBorder-Camp-Aktivist_innen versuchten, mit einem Akt des zivilen Ungehorsams und der Guerillakommunikation auf symbolischer Ebene zu intervenieren und Aufmerksamkeit für die digitalen Schnitte des EU-Migrationsregimes zu schaffen.

Andere Ansätze versuchen etwas direkter, in die Fleisch-Technologie-Informations-Amalgame einzugreifen und so manche digitale Schnitte überflüssig zu machen. Aus einer Datenlogik heraus spielen sie mit dem Maschine-Werden: Diverse Browser-Plug-ins oder Bots wie TrackMeNot, AdNauseam oder MakeInternetNoise produzieren automatisiert Anfragen oder Klicks für ihre UserInnen und erstellen so Datenspuren aus Zufallsdaten, was zumindest manche Formen des Trackings und der Profilerstellung erschwert. Die so geschaffene Unordnung oder Multiplizierung durch Zufallsgeneratoren macht sich die Dividuation zu eigen, um die temporär-lokalen Trennungen zwar nicht aufzuheben, doch ihren Wahrheitsanspruch (im Sinne des Social Sortings) zu unterwandern – die Schnitte werden inhaltsleer.

Diese Selbstzerteilung spielt mit der Tatsache, dass zeitgenössische Regime genau genommen nicht nur mit klassischen Subjekt-Objekt-Trennungen operieren, sondern wir uns immer in dividuellen Milieus oder Ökologien befinden, auch wenn Anrufungen als Subjekte oder Individuen erfolgen können. Die Dividuation soll hier, mit Ott gesprochen, „ungedachte Verhältnisse des Ineinanders zwischen taxonomisch und diskursiv geschiedenen Größen […] und ihren konstitutiven Praktiken“  (Michaela Ott) erstellen. Widerstandsmöglichkeiten, nicht so sehr, nicht dermaßen und nicht um diesen Preis regiert zu werden, unwahrnehmbar oder unlesbar zu werden etc., also politische Praxen und Kritik, beginnen nicht zwingend mit der Bildung einer Einheit (eines politischen kollektiven wie einzelnen Subjekts). Maschine-Werden bedeutet hier, sich die Logik der digitalen Schnitte zu eigen zu machen, die Vektorbewegung nachzuvollziehen, die Dinge durchquert, verbindet und rekonfiguriert, um sie etwa gegen kapitalistische Wertschöpfung zu richten. Dies bedeutet auch, sich herrschaftsförmigen Einhegungen in zu kategorisierende Subjekte zu entziehen und ein dividuelles Selbstverständnis zu betonen, das gebrauchsfähigen digitalen Schnitten widersteht.

Maschine-Werden und digitale Sanctuary cities

Ein Konzept, das Rechenschaftspflicht und Verantwortung für digitale Schnitte innerhalb von Grenzregimen zumindest thematisiert, sind digitale Sanctuary Cities und Solidarity Cities. In den USA haben sich einige der Städte, die zum Schutz illegalisierter MigrantInnen nur sehr eingeschränkt mit den staatlichen Einwanderungsbehörden kooperieren und bestimmte City Services für Menschen ohne Papiere geöffnet haben, auch dem Schutze von Data Doubles verschrieben und Ansätze für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Phänomen digitaler Schnitte entwickelt.

Ein White Paper der Sunlight Foundation schlägt als Grundprinzipien von Digital Sanctuaries u. a. den verantwortungsvollen Umgang mit Dateneinspeisungen, die Vermeidung bzw. starke Einschränkung der Datensammlung, regelmäßige Datenlöschung, weitestgehende Anonymisierung von Daten, Transparenz und Möglichkeiten der Zustimmung oder Verweigerung der Datenspeicherung sowie starke Einschränkungen, was die Vernetzung von Datenbanken und den Austausch von Daten angeht, vor.  Auch in vielen europäischen Städten hat sich als Antwort auf den langen Sommer der Migration eine transnationale Bewegung von Solidarity Cities formiert.

Zentrales Thema dieser Bewegung ist der Zugang für MigrantInnen zu Wohnraum, Gesundheitsfürsorge und dem Arbeitsmarkt, insbesondere für Personen mit eingeschränktem oder undokumentiertem Rechtsstatus. Sie heben hervor, dass bei jeder Begegnung mit Institutionen offizielle Dokumente und persönliche Daten verarbeitet und reguliert werden, was ultimativ Zugänge verwehrt. Digitale Sanctuary Cities akzentuieren damit die Rolle der lokalen Politik und Behörden innerhalb der staatlichen Regulierung der Migration und versuchen, Sorgepraktiken nicht nur auf Data Doubles auszuweiten, sondern auch auf lokaler Ebene verantwortungsbewusst mit digitalen Schnitten umzugehen.

Dem geht die Einsicht voraus, dass kommunal erhobene Daten über Menschen, wenn auch nicht ursprünglich zum Zweck der Überwachung von MigrantInnen erstellt, sehr wohl für Überwachungsmaßnahmen verwendet werden können. Der Zugang zu Schulen, Arbeit, Wohnraum oder Gesundheitswesen ist immer mit Formen der Datenerfassung verbunden, die für manche gefährlich sein können bzw. über ihren Status oder ihre Deportierbarkeit entscheiden. Brigitta Kuster und Vassilis Tsianos sprechen daher von einer „digitalen Deportabilität“, d.h., dass die „Möglichkeit, abgeschoben zu werden, im glatten Raum des Datenflusses allgegenwärtig wird.“ Ein Aspekt, für den mit digitalen Sanctuary Cities Aufmerksamkeit geschaffen wird, ist, dass Datensicherung allein nicht genügt und dass die Sammlung von Daten über StadtbewohnerInnen generell limitiert werden muss. Ebenso geht es darum, MitarbeiterInnen lokaler Behörden, in Bibliotheken, Arztpraxen und/oder Hausverwaltungen darüber aufzuklären, was „sensible Daten“ über Personen sind und unter welchen Umständen, mit welcher Transparenz und mit welchen möglichen Folgen diese gesammelt und gespeichert werden sollten. Es gilt also, die gesammelten Daten nicht nur zu limitieren, sondern sie auch einer angemessenen Verwaltung zu unterziehen, wozu sowohl das regelmäßige Löschen gehören kann als auch die Einschränkung ihrer Weiterleitung und die Vermeidung von Vernetzbarkeit.

Digitale Sanctuary Cities thematisieren die Aufnahme, Speicherung und das Teilen von Daten mit einem machtanalytischen Blick auf Grenzregime, rechtliche und soziale Ungleichheiten oder Prekarisierung, die allesamt eng mit digitalen Schnitten in Verbindung stehen. Diese Interventionen können als Schritte verstanden werden, diese Schnitte überhaupt als konkrete Praktiken und konstituierend für Lebenswirklichkeiten zu begreifen. Sie arbeiten nicht nur daran, die oftmals opaken Schnitte aus Blackboxes hervorzuziehen, sondern auch daran, sie in Verhandlungsräume zu überführen. Und zu verhandeln gäbe es vieles: Sollten die Rechte von Data Doubles oder etwa auch der Body-Bits – z. B. die Möglichkeit ihrer transnationalen Zirkulation – nicht weitaus enger mit den Rechten verkörperter Subjekte verknüpft werden – ist es doch gerade die Verschränkung aus verkörpertem Subjekt und Data Double, welche die Stasis des einen und die Bewegung des anderen ermöglicht? Sollte das Recht auf Unversehrtheit nicht auch für unsere biometrischen Daten gelten bzw. Unversehrtheit unter technologischen Bedingungen nicht gänzlich anders konzeptualisiert werden?

Mit der Thematisierung digitaler Schnitte möchten wir ein in künstlerischer wie politischer Praxis bereits virulentes Thema um einen theoretischen Ansatz ergänzen, der es erlaubt, manche Blackboxes zumindest teilweise zu öffnen und ihre Inhalte ins Feld demokratischer Aushandlung zu transportieren. Das Phänomen der digitalen Schnitte ernst zu nehmen, bedeutet dann, cyborgische Bündnisse und PartnerInnenschaften zu schaffen, in denen normative Ordnungsinstanzen wie das Recht ebenso zu Wort kommen können wie Unordnung stiftende Bots oder Anonymisierungstools für lokale Behörden in Sanctuary- oder Solidarity Cities. Und manchmal heißt es auch, nach Kabeln zu graben, um mit dem eigenen Data Double in Konversation zu treten.

Anm. d. Red.: Der Text liegt in gedruckter Fassung in dem transversal-Band “Technoökologien” vor, der sich hier kostenfrei als PDF und EPUB herunterladen lässt. Der erste Teil des Beitrags ist in der Berliner Gazette bereits erschienen. Das Foto oben im Text stammt von Mario Sixtus und steht unter CC-Lizenz.

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