An/Greifbar: Warum Berliner*innen gegen die digitale Kolonialisierung ihrer Stadt aufbegehren

Unternehmen aus dem Silicon Valley haben seit den 1990er Jahren eine globale Expansion realisiert, die den Kapitalismus als solchen weitreichend transformiert. Die hier dem Profitstreben untergeordnete “digitale Revolution” hat von Anfang an auch Fragen zur Transformation der Stadt aufgeworfen. Der Aktivist und Stadtforscher Jochen Becker unternimmt gemeinsam mit dem Kollektiv metroZones eine Bestandsaufnahme. Ein Interview.

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Die zunächst utopisch gefärbte Transformation der Stadt im Zeichen der “digitalen Revolution” – wie etwa in “City of Bits” (1995) beschrieben – ist Wirklichkeit geworden. Auch in dem Sinne, dass dafür in den letzten Jahren ein kritisches, politisches Bewusstsein entstanden ist, das über die Zirkel der so genannten Netzgemeinde hinausgeht. Wie haben Sie die Herausbildung dieses Bewusstseins wahrgenommen?

Ich hatte das technoeuphorische Buch City of Bits kürzlich erst gelesen und war erstaunt, wie viele „Prophezeiungen“ eingetreten ist, wenn auch über 20 Jahre später. Man sollte dabei nicht vergessen, dass es schon früher kritische und auch über kleine Zirkel hinaus reichende Debatten zu den gesellschaftspolitischen Fragen an Tech gegeben hat. Die ebenfalls 1995 gegründete nettime-Liste, die viel rezipierte Kritik am Silicon-Valley-Kapitalismus The Californian Ideology von Richard Barbrook und Andy Cameron (ebenfalls 1995) oder auch die Aktivitäten von BüroBert, minimal club (Anti-Weibel, geld*beat*sythetik*) und der Shedhalle Zürich (when techno turns to sound of poetry, Game Girl) noch etwas früher haben damals die Fragen über die Tech-Gemeinde hinaus in die kritische und kulturaffine Linke hineingetragen.

Wichtig war dabei schon immer der ChaosComputerClub – in den 1990ern gemeinsam mit urbanistischen Kulturinitiativen in einem Gebäude in der Kronenstraße. Zudem wurden mit der ‚Digitalen Stadt’ oder – anfangs weit unkritischer – mit der Telepolis (ein Ausstellungs- und Konferenzprojekt von Florian Rötzer und dem Burdakonzern) auch digital-urbane Modelle diskutiert. Verrückt: fast alles startete 1995…. Und landete so gegen 1999ff. im Mülleimer des New Economy-Crashs. Schon damals sah man Tech-Etagen in Kreuzberg kurz aufblühen und kollabieren. Aber es stimmt: Der Feuilleton-getriebene „Tech-Lash“ ist ein Phänomen der letzten Jahre.

Heute wird unter dem Stichwort ‚Tech-Urbanismus’ weit umfassender als früher auf den Verwertungszusammenhang von Tech und Stadt geachtet, auch weil sich dies nun massiv in Form von Gebäuden, Verdrängung, Geschäftsmodellen oder bullshit jobs materialisiert. Für metroZones wurde die „Kreativ-Industrie“ konkret (in concrete) greifbar mit dem Bau des Aufbau-Hauses neben einem Cluster aus Co-Working-Space, Prinzessinnengarten und Hinterhofklitschen rund um den Moritzplatz. Bezeichnenderweise hat die Stadt in direkter Nachbarschaft die breitenbildungs-orientierte Bona Peiser Stadtteilbibliothek zeitgleich abgewickelt.

Aktuell wären die Kämpfe gegen den ‚Google-Campus’ oder gegen den ‚Amazon-Tower’ zu nennen, die gerade mit Bezug auf die urbanen Spaltung in der Bay Area viele BewohnerInnn der Technopolis im doppelten Sinne auf die Straße drängt.

Es scheint, als würde man erst heute die dystopischen Visionen der Cyberpunk-Literatur der 1980er und 1990er – die immer auch Stadt-Dystopien waren – erst richtig verstehen und würdigen können…

Ich habe den Boom der dystopischen, meist in Serie gegangenen „Hollywood“-Filme wie ‚Terminator’ (1984/1991), ‚RoboCop’ (1987/1990), ‚Die Hard’ (1988/1995), ‚Total Recall’ (1990), bis hin zu ‚Matrix’ (1999) oder auch ‚Blade Runner’ (1982) als extrem lehrreich in Erinnerung behalten: Endlich gab es ‚Bilder’ für die kommenden Verhältnisse. Die beiden ersten ‚RoboCop’-Filme empfand ich geradezu als Lehrfilme, wie Immobilienbusiness, Transformation der Industrie in Richtung Robotik, repressive urbane Regierungspraxen und Drogenökonomie zusammenhängen. Und mit ‚Die Hard’ erkannte man, was „smarte“ Haustechnik und polizeiliche Überwachungstechnologien damals schon so alles in der Pipeline hatten. Dagegen war die Futurologie von ‚City of Bits’ geradezu ein Schaumbad.

Das neue, erweiterte Tech-Bewusstsein außerhalb von Tech-Kreisen ermöglicht Klarheit: Woran lässt sich heute, modellhaft gesprochen, eine Transformation der Stadt unter dem Einfluss eines Kapitalismus im Zeichen der Silicon Valley Big Tech Unternehmen erkennen? Was wären Indikatoren und zentralen Probleme?

Mein Aha-Moment war das Statement eines Automobil-Chef, dass Mercedes in Zukunft seine Umsätze nicht mehr mit der Autoproduktion, sondern mit den durch die Autos generierten Daten machen wird. Wir erinnern uns: Die deutsche Automobilindustrie wurde ja im Zuge des Diesel-Skandals als „too big to fail“ angesehen – ohne Automobilindustrie und deren Zuliefer- und Logistikketten gäbe es vermutlich keinen bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat.

Autopilotiertes Fahren braucht Rechnerkraft, Sensoren, Daten-Vernetzung, Algorithmen und eine ‚work force’, die all diese Daten zu Karten, Werbung, Anti-Kollisionen und unabsehbar anderen datenextrationsgetriebenen Geschäftsmodellen zusammenrechnen. Hinzu kommt nun alles, was sich in der Stadt bewegt, vom Google-Phone über BerlKönig bis zum Roller. Insbesondere die Stadt wird zum hochverdichteten Datenraum, wo wir alle in Echtzeit gemolken werden: Gegen das permanente Abscannen und Kartieren der Stadt von Innen und Außen, beim Einkaufen, Joggen oder Reisen ist Googles Streetview eine Fußnote der Geschichte. Was alleine meine 19-Euro-Uhr so alles (mit mir) macht, nur weil ich meinen hohen Blutdruck im Augen behalten wollte, ist atemberaubend.

Dann ist die Stadt – und das zeigt ja der heftige Run der Start Ups und Unicorns auf San Francisco, New York, Shenzhen oder Berlin – ein Ballungszentrum der ‚work force’, die all das erst entwickeln sollen. VW und Tesla lassen längst schon in Berlin Werte schöpfen, während der Dreck der Fabrikation in Wolfsburg, Izmir oder Grünheide verbleibt.

Die ‚urban professionals’ wollen wohnen, essen, beliefert werden, was eine bis weit nach Polen reichende urbane Logistik (von Amazon Prime bis Delivery Hero) zu bewerkstelligen hat. Das eingenommene Geld kommt nicht mehr nur auf die N26-Bank oder zum RoboAdviser, sondern wird in Betongold gegossen, was die Verkoppelung von Finanz- und Immobilien-industriellem Komplex künftig so explosiv werden lässt.

Wie verhält sich diese Transformation zum internationalen Siegeszug der Smart City? Worin bestehen Gemeinsamkeiten, bzw. Unterschiede?

Noch gar nicht die Rede war vom chinesischen „Sozialkredit“-System, wo Überwachungskapitalismus und Überwachungsstaat die Daten im Sinne des Strafens und Belohnens zusammenführen wollen. In der aktuellen Corona-Viren-Krise müssen sich nun alle Reisenden registrieren lassen, damit – so die Argumentation – auch im Nachhinein potentiell Infizierte identifiziert werden können. Diese Maßnahme wird – so nehme ich an – auch nach der Gesundheitskrise aufrecht erhalten bleiben.

Konkurrenzdruck übt das „Sozialkreditsystem“ als extrem reicher KI-Daten-Pool auch auf den ‚liberal-demokratischen’ Westen aus, da China über Extraktionen von über einer Milliarde Menschen verfügen kann und so Deep Learning etc. füttert. Gerade verdichtete Agglomerationen sind also Platin-Minen für den autoritären Kapitalismus der Zukunft – insofern erscheinen mir gegenläufig Bewegungen wie in Barcelona, ein Commoning-Modell der Datengewinnung und –prozessierung abseits von Industrie UND Staat zu etablieren, als völlig richtig.

Wo, außer rund um das Silicon Valley herum, zeichnen sich solche Transformationen der Stadt heute? Wo sind sie bereits vollzogen, wo emergieren sie? Wo werden sie (noch nicht) bekämpft?

Chinesische Millionenmetropolen sind neben der Bay Area, New York City oder Israel/Palästina sicherlich einer der wichtigsten Testfelder für Tech-Urbanismus. Hierbei bildet Hong Kong – also eine ehemals britische Kolonie auf dem politischen Pfad in Richtung Mainland China – ein aktuelles Zentrum des Widerstands. Wie der Schweizer Netzökonom und Investigativ-Reporter Hannes Grassegger in seinem Vortrag ‚Hongkong-Proteste – Die Smart City als Feind’ kürzlich deutlich machte, werden die Massenproteste taktisch innovativ sowohl on- wie offline geführt.

Grassegger zeigte Bilder, von gegen Videoobservation durch Regenschirme geschützte Militante, wie diese sogenannte Smart Lampposts umsägten. Das Bild erinnerte mich an die Pariser Commune, wo nach einer Initiative des Malers Gustav Courbet 1871 die Vendôme-Säule mit Napoleon auf der Spitze zu Fall gebracht wurde. Nur wird in Hong Kong nicht mehr nur ein Herrschaftssymbol gestürzt, sondern ein „smartes“ Gerät, gespickt mit Sensoren, welches das städtische Umfeld multiple abdeckt: „Die angebliche Stadt der Zukunft wird zum Feind ihrer Bewohner*innen. Die persönliche Zukunft vieler Bürger*innen Hongkongs hängt davon ab, ob sie die Informationsflüsse über ihr Verhalten Richtung China stoppen können.“

Wenn ich hier noch eine Nachbemerkung machen darf: Ich rate, die „Smart City als Feind“ genau so zu betrachten, und nicht – wie es die ansonsten von mir sehr geschätzte Linken-Politikerin Katalin Gennburg immer wieder publiziert und äußert – den Begriff positiv besetzen zu wollen. Meiner Einschätzung nach ist ein Hegemonie-Kampf um den eh blöden Begriff ‚Smart City’ nicht (mehr) zu gewinnen.

Zu den Transformationen der Stadt unter dem Einfluss eines Kapitalismus im Zeichen der Silicon Valley Big Tech Unternehmen gehört auch eine veränderte Wahrnehmung und Valorisierung von Arbeit. Ein zentrales Anliegen des BG Jahresthemas 2020, das unter dem Titel Silent Works steht, besteht darin, aufzuzeigen, dass Arbeit Teil der Transformation ist, statt einfach nur zu verschwinden. Anders gesagt: Wenn die Rede vom Verschwinden der Arbeit, ermöglicht, das Unsichtbarmachen von Arbeit und von Arbeitsbedingungen zu verschleiern, was lässt sich dann – auf die Transformationsprozesse der Stadt blickend – in puncto Arbeit und Arbeitsbedingungen sichtbarmachen?

metroZones hat in Kooperation mit dem Düsseldorfer Forschungsprojekt Stadt als Fabrik in der HAU-Veranstaltung Stadt als Byte neben den krassen Ausbeutungs- und Wohnverhältnissen der „Arbeiterklasse“ in der Bay Area auch die Arbeitskämpfe der Gig-Economy erkundet. Der Organizer Clemens Melzer von der unabhängigen Deliverunion sowie der Fahrrad-Lieferant „Jacek“ berichteten vom digitalen Gängelband der algorithmischen Arbeitstaktung – so wie dies Arbeiter*innen bei Amazon ebenfalls berichten. Zudem haben wir die Standorte der Start-Up-Industrie mit den Mietpreissteigerungen aug dem Wohnungsmarkt auf einer digitalen Karte visuell zusammengeführt. Insofern wird die „Materialität“ von „Tech-Work“ durch Bauten, Protestaktionen und deren performatives „mapping“ spürbarer und sichtbarer. Das Cluster rund um das Aufbau-Haus am Moritzplatz oder später das Gebäude für den geplanten Google-Cmpus machte diese an/greifbar.

Welchen Stellenwert haben Arbeitskämpfe für die neuen politischen Bewegungen, die sich dem Silicon Valley-Urbanismus entgegenstellen? Inwiefern stellen Arbeitskämpfe einen gemeinsamen Nenner aller beteiligten Akteur*innen bzw. einen entscheidenden Verbindungspunkt unter ihnen dar? Anders gefragt: Taugt die Marx’sche Kategorie ‘Labor’ zum Bindemittel für die emergierende multi-issue Bewegung, die etwa in Berlin aktuell unter dem Banner Berlin vs. Amazon mobil macht?

Bei Berlin vs. Amazon versuchen wir nicht nur, den ‚Amazon-Tower’ an der Warschauer Brücke zu verhindern, sondern die Kämpfe der „Techworker“ zusammenzuführen und zu politisieren. Die Techworker’s Coalition versammelt (zumindest theoretisch) vom Programmierer bis zur Pickerin in einem „Fullfillment Center“ am Rande der Metropolen alle Klassen von Techies, und dazu gehören meiner Ansicht nach auch die Auslieferdienste. Innerhalb der ‚Berlin vs. Amazon’-Kampagne selbst arbeiten viele im IT-Bereich und argumentieren also mit ihrem Wissen auch von Innen heraus. Und wir haben Kontakt zu Amazon-Arbeiter*innen in den „Fullfillment Centern“ von Leipzig und Bad Hersfeld bis nach Posznan. In Polen arbeiten ca. 20.000 Leute bei Amazon und meist in miesen Zeitarbeits-Verträgen, jedoch kann man in Polen gar nicht bei Amazon bestellen.

Das heißt, dass 20.000 Arbeiter*innen dazu da sind, gegen Streiks oder Staus den deutschen Markt zu beliefern. Als ich davon zum ersten Mal hörte, wollte ich es gar nicht glauben…. Aber auch der Tech-Kampf gegen die Verwertungen der Immobilien-Industrie kann durchaus geteilt werden: Einige der polnischen Amazon-Aktivist*innen leben in besetzen Häusern. Der Konflikt um die Plattform-Ökonomien ist also reich an möglichen neuen Zusammenhängen und solidarischen Brücken in einer durch die neoliberalen Aufspaltungsdynamiken atomisierten Gesellschaft. In Zukunft müssen und können Mieten-, Tech- oder Arbeitskonflikte zusammen gedacht werden. Wie man hört, soll die 1.-Mai-Demo auch zum Bauplatz des Amazon-Towers geführt werden. Was machen die Gewerkschaften, was die Mieterinitiativen, und was die selbstkritischen Start Ups?

Anm.d.Red.: Am Samstag ruft Berlin vs. Amazon der Demo Save your Kiez auf. Treffpunkt ist Frankfurter Tor, 14 Uhr. Mehr Info hier. Das Foto oben hat metroZones zur Verfügung gestellt. Es steht unter einer Creative Commons Lizenz, CC BY-NC-SA 3.0 DE.

Ein Kommentar zu “An/Greifbar: Warum Berliner*innen gegen die digitale Kolonialisierung ihrer Stadt aufbegehren

  1. “Smart cities and their protagonists are strong, and their incentives are high; the cards are stacked in their favor, including the self-logic of technological development. Nevertheless, creative resistance is not futile, as there are strong tail-winds blowing with people and earth, of dignity and inclusion. As Kant, again, says, pessimism is only allowed if you are certain that you will lose, and this is not the case here. The good life in the good city is, as Aristotle says, what we are here for, but nobody ever said this would be easy to accomplish. Therefore, off we go to make sure that the smart city, which will come, will be good also.”

    https://medium.com/berkman-klein-center/is-the-smart-city-a-good-city-233a42bdcd46

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