Von Chronos zu Kairos: Auf dem Weg zum Geschichtenerzählen in Netzwerken

In der Internet-Gesellschaft kommen neue Formen der Selbstwahrnehmung und damit auch neue Formen des Erzählens auf: Gestern formten Fakten eine Geschichte als Linie. Heute werden Geschichten als Muster sichtbar, die im Raum zwischen den einzelnen Fakten entstehen. Der Autor Thorsten Wiesmann über die Verschiebung von Chronos zu Kairos.

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Douglas Rushkoff beschäftigt sich in seinem Buch “Present Shock” (2015) mit den unterschiedlichen neuen Formen der Partizipation, welche uns zunehmend aus den bisherigen begrenzten linearen Geschichten befreien und uns statt dessen ein Leben in lebendigen Netzwerken eröffnen, deren Geschichten unbegrenzt sind, denn all die Details sind dort nicht mehr fixiert, sondern bieten nur Ansatzpunkte um weitere Verknüpfungen auszuprobieren.

Er stellt unter anderem fest, dass junge Menschen in wachsenden Subkulturen interaktiver Begegnungsformen nicht mehr sich so sehr über die Sprache allein austauschen, sondern stattdessen durch unterschiedliche direkte Erfahrungen miteinander kommunizieren. Gleichzeitig nehmen sie Informationen nicht mehr linear auf, sondern durchsuchen Inhalte nach selbstähnlichen Mustern.

Das eigene Leben reduziert sich bei solcher Wahrnehmung nicht mehr auf einen statischen Ablauf, an den man mit der Erinnerung gefesselt wäre, sondern kann immer wieder neu entdeckt werden, je nach dem wie man die einzelnen Informationen aus der Vergangenheit eben gerade spielerisch zusammensetzt. Es gibt für eine solche Wahrnehmung keine Zeit mehr, sondern nur noch wechselnde Kontexte, die zu beobachten es einem erlauben ganz in einer Art ewigen Gegenwart zu leben.

Rushkoff gibt eine Hauptform des von ihm diagnostizierten Schocks der reinen Gegenwart an: Wenn wir von der Zeitwahrnehmung des Chronos, welche uns in der Untersuchung einzelner Details gefangen hält, die wir uns irgendwie gezwungen fühlen solange zu analysieren, bis das größere Ganze uns aus dem Blick fällt, zu der Zeitwahrnehmung des Kairos übergehen, in der wir den Raum zwischen und um die einzelnen Fakten herum betrachten und so größere Muster erkennen lernen, die alles miteinander verbinden.

Neue Kunstformen

Eine Dramaturgie, die dem offenen Spiel und der Wahrnehmungsfähigkeit des Kairos entspricht, räumt vom sich aus unnötige Festlegungen der Geschichte aus dem Weg und gibt dem Betrachter dadurch selbst die Möglichkeit die Regeln, nach denen er das Geschehen beobachten, oder an ihm teilnehmen will, ständig neu herauszufinden oder zu bestimmen. So löst sich die Zeitempfindung auf und die Einbindung in eine Chronologie. Mashup nennt sich die neue, aus diesem Zeitempfinden hervorgehende Kunstform.

Bei einem Mashup werden wie bei einer Collage oder einem Cut Out verschiedene bereits etablierte Kunststile und Aussagen miteinander neu zusammengestellt und beginnen so sich gegenseitig zu kommentieren. Nicht mehr die originelle Aussage eines Individuums steht hier im Vordergrund, sondern das blitzschnelle sich zurechtfinden innerhalb von Bruchstücken aus dem unendlich reichen Fundus der Menschheitsgeschichte.

Wo früher ein gewisser Zeitrahmen war, treten nun auf einmal unterschiedliche Intensitäten, die sich alle hin zu neuen Möglichkeiten öffnen, das Gewesenen ständig neu aufleben zu lassen und in den Fluss des Jetzt wieder anders zu integrieren.

Unendliche Spiele

Das Streben nach Macht ist nach James P. Carse, Autor des Buches “Finite and Infinite Games” (1987), das Merkmal von Spielern, die sich innerhalb von begrenzten Spielen bewegen. Weil für Spieler unbegrenzter Spiele es nicht um den Gewinn geht, sondern um das am Leben halten des Spiels, sind sie nicht starr ergebnisorientiert oder an Macht interessiert. Für die Teilnahme an Machtspielen muss man trainieren. Für die Teilnahme am grenzenlosen Spiel braucht es wahre Erziehung. Das grenzenlose Spiel verlangt eine ständige Neuinterpretation der Vergangenheit.

Der Spieler in grenzenlosen Spielen versucht nicht seine Mitspieler zu kritisieren, kontrollieren, manipulieren oder sogar deren Spiele zu verhindern, sondern er beginnt statt dessen Aktionen auf eine solche Weise, damit die anderen Spieler durch ihre Aktionen auf seine antworten können. Auf diese Weise zeigt der Spieler grenzenloser Spiele auf, wieso es nie darum geht einen irgendwie perfekten Zustand zu erreichen innerhalb des Spiels, sondern nur darum das Spiel offen zu halten.

Innerhalb des begrenzten Spiels dient Sexualität vor allem der Reproduktion, den Gefühlen oder bestimmten inszenierten, weil nachgeahmten, theatralischen Verhaltensmustern. Sexualität im unbegrenzten Spiel ist etwas, das sich aus einer Summe von zusammen findenden Umständen ergibt die niemand kontrollieren kann. Verführung ist nach Carse ein begrenztes Spiel, welches der Ausformung einer durch akzeptierte Regeln sich definierenden Gesellschaft zugrunde liegt, denn es sieht den Partner als Objekt, das es zu gewinnen gilt. In diesem Bereich der geschickten Täuschungen findet keine wahre Begegnung zwischen Menschen statt. Die Begegnung ist etwas, das sich durch die Umstände anbahnt und eben nur ein offenes Spielen mit den Umständen ermöglicht die wahre Begegnung und die Liebe.

Liebe eröffnet sich einem erst, wo man bereit ist nicht länger die Umstände kontrollieren zu wollen und sich vertrauend dem unbegrenzten Spiel des Lebens überlässt. Dann, erst dann wird Sexualität selbst zu einem offenen Spiel welches die Partner nicht zu bloßen Werkzeugen ihrer eigenen Begierden werden lässt.

Wir beginnen uns eine transformierte Gesellschaft vorzustellen zu können, in der die Liebe wirklich gelebt werden kann, weil die Beziehungen zwischen den Menschen nicht länger dem Besitzdenken untergeordnet sind, sondern sich als Teil der sozialen Kreativität aus den jeweiligen Umständen authentisch ergeben können. Bei der gelebten Liebe lernt man sich selbst und andere Menschen gleichzeitig besser kennen. Dies auch gerade in dem jeweiligen offenen Umgang mit Sexualität. Wie schreibt Carse so treffend: “Bei der unendlichen Sexualität treffen sich die Partner mit ihren Begrenzungen, nicht innerhalb dieser. Sie erwarten durch die Begegnung wirklich transformiert zu werden, und deswegen werden sie auch transformiert.”

Die protestantische Ethik hat ein allgemeines Prinzip der Funktionsweise von Gesellschaft hervorgebracht und als Verhaltensnorm in die Individuen eingepflanzt. Sie beherrscht das Verhältnis der Menschen zu ihren Körpern, zu ihren Leidenschaften und zu ihrem Leben, das sie ökonomisieren. Postwachstum, Postkapitalismus, Solidarische Ökonomie oder Gemeinwohl Ökonomie meint letztendlich nichts anderes eigentlich, als eben den Ausbruch aus dieser von unserer gegenwärtigen Welt aus Sprache und Zeichen festgesetzten bürokratischen und letztendlich selbstzerstörerischen Lebensform.

Meshworks und die Auflösung von Mythen die uns im alten Weltbild gefangen halten

Wie Manuel Delanda in seinem Buch “A Thousand Years of Nonlinear History” (1997) aufzeigen konnte, haben bislang sich in unseren Gesellschaften Netzwerke vor allem in Bezug auf traditionell gewachsene Hierarchien ausgebildet. Wächter in zentralen Positionen – Priester, Direktoren, Vorstände, Professoren etc. – bestimmten den Zugang zu Machtzirkeln und deren Einflusssphären. Netzwerke, in denen es wenig Austausch mit anderen sozialen Schichten gibt, und in denen die Teilnehmer deswegen sozial und ökonomisch aufeinander besonders verwiesen sind, bleiben geschlossene Netzwerke. Netzwerke mit einer Offenheit und gemischten Dichte assoziiert man dem entgegen allgemein meist nur mit der sogenannten bürgerlichen Mittelschicht.

Eine notwendige ganzheitliche Wissenschaft setzt nun dort an, wo untersucht wird auf welche Weisen es in Gesellschaften zur Bildung von Hierarchien kommt. Wir können in diesem Sinne auch von einer Wissenschaft der hierarchischen Wirkungen sprechen, die eben die Umwandlung von Information in Energie und Materie in Bezug auf jeweilige Vorgänge der Ausbildung und der Wirkungsweisen von Hierarchien beobachtet.
Nach Delanda zeichnen sich Meshworks dadurch aus, dass sich in ihnen heterogene Komponenten ausdrücken können, ohne dass es sofort zu Formen von Vereinheitlichung kommt

So betrachtet können wir sagen, dass soziale Netzwerke sich immer dann beginnen auszubilden, wo Hierarchien und Meshworks eine bestimmte Strukturdynamik vorgeben. Wenn Menschen sich mehr in formalen Organisationen bewegen, als in informellen Netzwerken, hat dies eine prägende Wirkung auf die Art wie sie miteinander agieren und dies hat wiederum eine konstituierende Wirkung auf das jeweilige vorherrschende Weltbild.

Eine neue nichtlineare und holistische Wissenschaft, die solche Vorgänge weder allein von der Mikroebene (dem konkreten Verhalten einzelner Individuen, wie es die Literatur zum Beispiel tut), noch allein von der Makroebene aus untersucht (den Gesetzmässigkeiten von Märkten, Klassenkämpfen und Gesellschaftssystemen etc.), sondern gleichzeitig alle nur möglichen Perspektiven mit einbezieht und diese immer wieder erneut sich über Feedback gegenseitig kommentieren lässt, wird in der Lage sein das Prinzip des Teilens und andere geistige Prinzipien, Regeln und Gesetze zu beweisen.

Jacques Ellul gibt in seinem Buch “Propaganda” (1962) fünf Mythen an, die das Individuum in den westlichen Gesellschaften heutzutage eingebunden halten in einem bestimmten Menschen- und Weltbild, auf das Propaganda so geschickt wie möglich einzugehen hat: Die kollektiven Mythen von der Arbeit, des Strebens nach Glück, der Nation, der Jugend, und des Helden.

Es gilt diesen fünf Mythen zu begegnen, sie zu durchschauen und dadurch zu erneuern. Und zwar in der Art, dass die Mythen dann eben der jetzigen allgemeinen Propaganda entgegen laufen, so dass ein Weltbildwechsel im Sinne einer Wirtschaft in Dienste aller Menschen sich durchsetzt.

Die meisten Menschen sind durch ständige Propaganda in den Medien nicht nur in Japan so angepasst, das sie völlig die Kontrolle über die eigenen persönlichen wahren Interessen verlieren und sich ganz externen Impulsen unterwerfen. Die Individualität wird in einem Masse psychologisch unterdrückt, so das die Menschen einfach unter allen möglichen Bedingungen bereit sind einfach weiter zu leben, da die Propaganda den Menschen eine ausreichend starke künstliche Realität anzubieten vermag. Wenn man einen Begriff gebraucht ist es notwendig zu definieren in welchen Kontext man ihn verwendet, das tun die Kommentare in den Medien so gut wie nie und können dadurch die Menschen die nicht wissen was Sache ist zu ihren Zwecken manipulieren.

Anm.d.Red.: Das Foto oben zeigt zwei Geflüchtete vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) in Berlin; die Filiale des Amtes in Berlin-Moabit war kürzlich wegen Überfüllung geschlossen worden. Aufgenommen September 2015 von Krystian Woznicki, Creative Commons Lizenz, cc by nc. Der Text ist ein Auszug aus dem demnächst erscheinenden neuen Buch von Thorsten Wiesmann “Die Transformation der Gesellschaft”.

6 Kommentare zu “Von Chronos zu Kairos: Auf dem Weg zum Geschichtenerzählen in Netzwerken

  1. Stellt die Sprache nicht aber all zu oft die eigentliche Verschwörung gegenüber dem Kairos dar? Liefert sie uns nicht unzählige Ausreden, nur um nicht wirklich Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie versucht uns zum Beispiel einzureden es gehe darum Verantwortung zu übernehmen für die Probleme, die die Gesellschaft erzeugt. Dabei ginge es nur darum Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Wer versucht die von der Gesellschaft erzeugten Probleme zu lösen verstrickt sich nur immer weitergehend in diesen. Wird jedoch wirklich von jemanden Verantwortung für seine eigenen Handlungen übernommen, werden dadurch nicht die angeblichen Problem der Gesellschaft gelöst, sondern die Grundlagen dessen, was zu diesen Problemen in der Gesellschaft überhaupt führte, werden transformiert.
    In diesem Sinne Sprache anzuwenden, um mit ihr kollektiv in die Eigenverantwortung zu kommen, darum ginge es in kommenden Poetik und Literatur.

  2. @#3: Sprache und alles was sich mit ihr entwickelt hat, macht das menschliche Sein aus, ist Kultur. Nur wenn Sprache grundsätzlich in Frage gestellt werden kann und somit auch deren Inhalte/Bedeutungen, ergeben sich Ansätze für utopische Visionen in einer kommenden Poetik und Literatur. Eine Möglichkeit dazu könnte sein, Sprache auf abstrakte Zeichen zu reduzieren und damit der Kunst zu unterwerfen. Sie verlöre damit ihren kulturellen Nimbus und wäre nur noch Material/Werkzeug. Wie Töne der Musik, der sie sich näherte oder sogar wieder vereinte. Aus Tönen und Lauten ist Sprache doch entstanden. Interessante Verbindungen hat Roland Barthes mit seiner Semiotik aufgezeigt, wo versucht wird, Sprache aus dem kulturellen Kontext herauszuheben.

  3. @horst A. Bruno: Sprache im Leben “grundsätzlich in Frage zu stellen”, das ist doch wie während des Fluges den Motor auszuwechseln. Die Methode ist seit jeher Theologie, das heißt das Umformen und Ordnen von Zeichen. Nur im Rückzug einer Klosterzelle, im Erimitendasein, ist das ganz grundlegende Überdenken möglich, also eben im Hangar. Ansonsten bleibt uns nur die Kiste sauber in der Luft zu halten.

  4. @Kofi: Es waren Mönche in Klöstern oder gar Eremiten, aus deren Höhlen und Kammern Bewegungen und Utopien entstanden, die die Welt veränderten und weiter führten – den Menschen das Feuer brachten.

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