Berlin in Aufruhr: Wie aus einem Intendantenwechsel ein Kulturkampf geworden ist

Der Intendantenwechsel an der Berliner Volksbühne sorgt für neue Unruhe. Die Fronten verhärten sich: Auf der einen Seite die Belegschaft der Volksbühne, die sich in einem offenen Brief gegen den neuen Chef wandte, auf der anderen Seite der designierte Intendant und seine UnterstützerInnen, die den Streit ebenfalls an die Öffentlichkeit tragen. Wohin soll das alles noch führen? Thomas Martin, Hausautor der Volksbühne, berichtet aus dem Inneren.

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Vermutlich hat niemand erwartet, dass ein Theaterstreit – einer nur von vielen – zum Kulturkampf avanciert. Und was, das sollte man sich auch gleich fragen, wird die Steigerung dessen sein, am Ende noch ein Klassenkampf? Der Kampf spiegelt eine Krankheit der Epoche, und sie speist sich aus den Viren der Systemkonfrontation des letzten Jahrhunderts. Der Krankheitsverlauf zeigt sich derzeit schriftlich an. Zuletzt im Offenen Unterstützer- und Entgegnungsbrief, den Haus-der-Kunst-Direktor Okwui Enwezor an Berlins Kulturbürgermeister Müller im Namen wirkungsmächtiger Museumsleute, Architekten und anderer schrieb.

Wo sich 25 theaterfern global agierende Kulturakteure (cultural actors), deren Namen programmatisch für Kulturgestaltung und -Überlieferung einstehen, für einen der ihren in die Bresche werfen, agiert auf der Gegenseite ein über 100 Jahre altes Stadttheater mit seiner Belegschaft. Man muss nicht den bekannten Terminus vom „Panzerkreuzer vor dem Alexanderplatz“ bemühen, um den militanten Gehalt dieser Auseinandersetzung zu verdeutlichen. Der Ton der Briefe tuts.

Elite der Kulturgestalter vs. störrische Theaterangestellte?

Kritik und Kommentar, Politik und Publikum schaukeln sich in der Resonanz wechselseitig hoch. Die Elite der Kulturgestalter sieht aus der Exzellenzperspektive ihrer Funktionen auf das kleingeistige Häuflein störrischer Theaterangestellter herab. Weltsprache Englisch gegen Stammeslaute deutsch. Dass die zur Neutralität verpflichtete Hand der Politik in Gestalt der Kulturstiftung des Bundes hier ebenfalls unterzeichnet, legt den Verdacht auf eine politisch gewollte Umstrukturierung der Volksbühne nahe. Wo nicht auf eine ABM-Investition für einen auf dem Globus neu zu installierenden Kurator.

Auffällig und zahlreich kommentiert ist die Lücke im System. Es geht bislang, soweit es Dercons Seite angeht, kaum um Konkretes. Das mal als „volksbühne berlin“, mal als „volksbühne plus“ betitelte Programm ist den Begriff nicht wert. Zu reden wäre bestenfalls von einem theoretisch verbrämten Überbau, von einer Handvoll Namen unterfüttert. Wobei die Zahl der bislang in Rede stehenden Künstler der Zahl der kommenden Spielstätten entspricht, es sind fünf.

Chris Dercons und Marietta Piekenbrocks im April 2015 über die Webseite der Senatskanzlei verbreitetes Konzept ist so allgemein wie unklar und wohlfeil. Wo Formulierungen wie „Bauhausbühne“, „programmatische Achse“, „Strategieräume“, unter der Überschrift „kollaboration als modell“ großgeschrieben werden, wird außer „global verbreiteten Verkaufsfloskeln“, wie die Süddeutsche Zeitung meint, wenig konkretes benannt noch belegt.

Wofür steht die Volksbühne?

Dass das „Ende der Ära Castorf mit einem Epochenwechsel“ zusammenfalle, „der die darstellenden Künste mit neuen globalen Themen konfrontiert und in digitale Medien expandieren lässt“, bezeichnet einerseits einen Akt der politischen Willkür, ist andererseits alles andere als neu. Gerade die Volksbühne hat unter Frank Castorfs Intendanz die neuen globalen Themen aufgegriffen und sich ihnen mit der Entwicklung neuer Formen gestellt, unter anderem auch digital.

„Globalisierung und Medialisierung stellen Theaterhäuser und Museen vor Herausforderungen, die ihre traditionellen Aufgaben übersteigen. Als Orte der Präsentation und der Selbstvergewisserung haben sie viel institutionelles Wissen aufgebaut und müssen nun erleben, dass Strukturen und Erfahrungen das innere Betriebssystem belasten können, wenn es darum geht, auf kulturelle, ökonomische und demographische Veränderungen dynamisch zu reagieren. Dieser Transformationsbedarf wird in Berlin besonders intensiv diskutiert. Mit der Gründung des Humbold(!)forums und der Neuausrichtung der Volksbühne werden von der Hauptstadt modellhafte Orientierungen und Impulse erwartet.“ Mit den zitierten Sätzen bewirbt Marietta Piekenbrock ihr Projektseminar „berlin-college / laboratorium für gegenwart / sommersemster 2016“.

Mag sein, dass die Strukturen der Volksbühne die Subventions- und Kulturpolitik der Stadt Berlin belasten. Dagegen hat sich das Betriebssystem der Volksbühne den von Piekenbrock aufgefahrenen Herausforderungen als gewappnet und effizient erwiesen. Fröhlich, melancholisch, grausam, selbstzerfressen, langatmig, kurzweilig, sinnlos, tiefschürfend und vor allem weltweit. Dieses Betriebs- oder Antriebssystem ist die Voraussetzung der erfolg- und einflussreichsten Theatergeschichte unserer Zeit.

Es paart Wirkung mit Erfolg und hat eine kaum überschaubare Deutungsebene im Kielwasser erzeugt, die der Kritik genügend Arbeit bringt und ihren Adepten erst recht. Um einen von Richard Sennett (auch er Unterzeichner des pro-Dercon-Briefs) geprägten Terminus zu gebrauchen: die Strukturen der Volksbühne ändern sich im Rahmen einer „flexiblen Spezialisierung“. Sie reagieren auf Notwendigkeiten einer globalisierten Kulturwirtschaft, indem sie nach wie vor einen großen künstlerischen Freiraum in der Produktion ermöglichen. Die in diesem Freiraum arbeitenden Künstler und ihre Arbeiten, die am Rosa-Luxemburg-Platz entstehen sind bekannt.

Konkrete Geschichte, berlin-spezifisch

Ein für das Theater wesentliches Thema ist der unter den Prämissen des Neoliberalismus global zirkulierende Kunst- und Kulturmarkt. Es geht um diesen Platz am Markt. Dass er bislang, ohne Profit abwerfen zu müssen und von Steuergeldern subventioniert, so ertragreich am Rosa-Luxemburg-Platz behauptet werden konnte, ist ein Glücksfall für die Kunst, für die Politik mithin. Und er erzeugt natürliche Begierden.

Der Glücksfall hat mit Geschichte zu tun. Der sozialdemokratische Hintergrund, aus dem die Volksbühnenbewegung erwuchs, die 1914 zum Bau des Theaters am damaligen Bülowplatz auf dem zum großen Teil planierten Einzelhandel des Scheunenviertels führte, die Geschichte dieses umkämpften Areals, sind wesentlich mit der Wirkungsmacht der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz verbunden. Die Geschichte, ihre Ereignisse und ihr Theater sind konkret. Sie sind Berlin-spezifisch. Und sie wirken, um den abgenutzten Terminus noch einmal aufzugreifen, global.

Kein deutsches Theater, möglicherweise kein Theater weltweit, wirkt derart tiefgreifend. Das betrifft die ästhetischen Innovationen so sehr wie den Einfluss auf die Sehgewohnheiten des lokalen und internationalen Publikums. Was um so bedeutender ist, da es der ostdeutsche Intendant Castorf war, der wie kein anderer in entgegengesetzten politischen Systemen sozialisierte Künstler unterm damals (1992) schwer renovierungsbedürftigen Dach der Volksbühne zusammenführte.

Lilienthal, Marthaler, Kresnik und Schlingensief allen anderen voran. Dass jetzt ausgerechnet eine sozialdemokratisch gelenkte Kulturpolitik dieses Berliner Spezifikum allen Eigenheiten beraubt, kann nur als historischer Treppenwitz verstanden werden. Sie beansprucht seit April 2015 eine „Weiterentwicklung der Volksbühne“ und kann weder Notwendigkeit noch Formen noch Inhalte dieser Weiterentwicklung bieten. Naheliegend die Vermutung, dass die Volksbühne in ihrer jetzigen Gestalt der Politik nach wie vor ein Dorn im Auge bzw. ein Reißzahn im Arsch ist, um einen weiteren Offenen-Brief-Autor zu zitieren.

Einladung zur offenen Austragung von Konflikten

Die Differenz zwischen unterschiedlichen Erfahrungen lassen sich schwer diskutieren. Um von Biographien zu reden: Was mich angeht, ist die geplante Umformung der Volksbühne ein Eingriff in meine Biographie. Zu der dieses Theater, das seit seiner Gründung durch die Volksbühnenbewegung mehr als nur ein Theater ist, gehört. Ich war 14, als ich Jürgen Goschs „Leonce und Lena“ sah, die mehr als alles, was ich zuvor und lange danach sehen konnte, das Lebensumfeld des Totalitarismus, aus dem ich kam, zur Disposition stellte: absurd, tragikomisch, dadaesk.

Formal extrem, wütend, wild. Erschreckend. Eine Einladung zur offenen Austragung von Konflikten. Dass Kunst eine Waffe sein kann, verstand ich zum erstenmal anders, subversiv. Seitdem begleitet mich und begleite ich dieses Theater. Über lange Strecken von außen, seit einigen Jahren von innen. Während der restlichen Jahre der DDR war die Volksbühne Instanz einer alternativen Republik, danach eine Insel der Utopie, die Freiräume der Kunst ermöglicht hat, die – und kleiner lässt es sich für mich nicht sagen – das Leben lebenswert machen.

Der Freiraum, in dem vor einem Prisma historischer Gegebenheiten die Gegenwart verhandelt wird, ist bedroht, wenn zugunsten eines Kompensationsgeschäfts der Standort Volksbühne mit seinen unverwechselbaren Entwicklungsmöglichkeiten vernachlässigt wird. Die Auslieferung der Volksbühne an einen weltweit zirkulierenden Gastspielbetrieb, der am Rosa-Luxemburg-Platz lediglich Station macht – Einkaufen Präsentieren Weiterverkaufen – wäre ein solches Kompensationsgeschäft. Genaugenommen ein Roll Back hin zu kunstmarktwirtschaftlichen Vorhaben der frühen 90er Jahre, denen die Volksbühne damals entging. Der spezifische Standort würde seine Eigenheiten verlieren, übrig bliebe lediglich die Hülle, die dann bestenfalls den Marktwert einer historisch aufgeladenen Location mit Retrochic hätte.

Unablässiger Kampf

Die Metamorphosen der Volksbühne, die mehr als an anderen Theater von innen heraus gestaltet wurden – ungeheure Entwicklungen, ungeahnte Krisen, nie erwartete Erfolge, nicht abzusehende Konflikte, Zusammenbrüche, Wiederauferstehungen, das Scheitern, die Chancen, die Scheidungen, die alten und die neuen Allianzen – all das, was Namen von Künstlern, Titel von Stücken und Aufführungen trägt, ist mit diesem Ort und seiner Historiographie verbunden. Ich brauche das Wort Tradition nicht gern, doch hier habe ich es neu verstanden. Das Tradierte besteht nur fort, indem es sich erneuert, heißt, indem man es sich unablässig erkämpft.

Sollte es auch eine materialistische Binsenweisheit sein, hier muss sie mit Walter Benjamin ins Feld geführt werden: „Vergangenes historisch artikulieren heißt …, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern.“ Die Überlieferung muß dem Konformismus, der sie verwertet, jedesmal aufs Neue abgerungen werden.

Dass es ein ideologischer Feldzug ist, sieht man mit Abstand vielleicht besser. Es müssen nicht immer Heuschrecken sein. Man muss nicht, nein bloß nicht, Vergleiche aus dem Tierreich bemühen, aber natürlich, sie drängen sich auf. Ein Schwarm vergoldeter Karpfen, das sich um ein letztes Frischwasserspundloch drängt. Im Fall des Stadttheaters am Rosa-Luxemburg-Platz, das eine letzte nicht gentrifizierte Lokalität inmitten einer gentrifizierten Gegenwart ist, ein treffendes Bild. Ein Bild, mit dem ein Freund, der, nachdem er einige Aufführungen an der Volksbühne gesehen hatte, zurück in Los Angeles, den hiesigen Kulturkampf kommentiert. Dass die Briefform in diesem Kampf zu Ehren kommt, kann als Gruß an die Epoche der Briefschreiber gelten, in der das Stadttheater sich zu dem entwickelte, was es auszeichnet: eine Gegenrepublik zu sein.

Erschwerter Dialog

Und ja, natürlich auch: Es geht um Macht! Der moralisierende, von weit her und von oben klingende Ton der „besorgten Kulturakteure“ erinnert zunächst an das bekannte Zitat, das vom vor Jahrzehnten auch an der Volksbühne wirkenden Brecht kommt. Moral, ja, aber Fressen geht vor. Für die Globalen: „First comes food, then comes the morals.“ So gesehen sind die Unterstellungen, die von „Rechtsmißbrauch“ und „Mißbrauch des Privilegs öffentlich Angestellter“, um eine „persönliche Vision zu vernichten“, bis hin zum Vorwurf des „engstirnigen und selbstsüchtigen Putschversuchs“ nur verständliche Gegenschläge, wo es um nicht weniger als um alles geht.

Die in sich verdrehte Komik der Behauptung eines Putschversuchs gegen eine noch längst nicht installierte Macht, die Gleichsetzung einer „association with museums“ mit „Konsenskultur“, wird nicht von den Mitarbeitern der Volksbühne sondern von Dercons Unterstützern erzeugt. Der hochmütige Ton, in dem jenes „Ich mach dich weltberühmt!“ anklingt, wenn darauf hingewiesen wird, dass der Museumsmann Dercon die Reputation der Volksbühne stärken und verbessern würde, erschwert den Dialog zusätzlich.

Dass die Bildende Kunst, die Begriffe Museum und Archiv an eben diesem Theater durchaus willkommen sind und Neuartiges und Umstrittenes hervorbringen, zeigten die Arbeiten von Jonathan Meese, Hannah Hurtzig, Richard Wright, Gregor Schneider und Paul McCarthy. Zeigten auch die die Grenzen von Performance, Schauspiel und Bildender Kunst übereinanderschichtenden Arbeiten von Vegard Vinge, Ida Müller, Ragnar Kjartansson und Markus Öhrn.

Das Prinzip der Volksbühne

Die Volksbühne ist ein Theater, dessen Grundlage die Literatur ist. Sie ist ein Sprech-, gelegentlich ein Brülltheater. Sie ist ein Autorentheater, an dem auf der Basis literarischer Vorgaben dramatische Texte entwickelt werden. Wo dieses Theater auf „Schock, Separation und Aggression“ (Dercon) reduziert wird, ist das Missverständnis eklatant. Ebenso, wo die Wahrnehmung von Neuem in der Kunst ausschließlich über ihre digitale Verbreitung erfolgen soll; sie verrät das Einzigartige des Theaters, das sich im Augenblick seiner Darstellung durch leibhaftige Schauspieler auf einer Bühne vor leibhaftigem Publikum vollzieht.

Ein Theater, das sich als Gesellschaftsmodell unter allem gesellschaftlichen Druck als flexibel, widerständig und progressiv verhalten konnte, muss, wenn es überleben will, die Chance zur inneren Verjüngung nutzen. Die Volksbühne, als Theater wie als Markenzeichen, hat gezeigt und zeigt, dass es sie nutzen kann. Die Chance ist ein Prinzip. Brecht hat dieses Prinzip als „Episches Theater“ benannt und beschrieben. Eine offene Produktionsweise, die den historischen Moment, die Biographien und die Probleme eines Probenprozesses in die Darstellung einbezieht. Frank Castorfs und René Polleschs Arbeiten haben dieses Prinzip im Sinn der Wahrhaftigkeit weiterentwickelt.

Der Schauspieler auf der Bühne tritt als Existenz in Erscheinung, der Zeitraum der Aufführung ist zugleich künstlich wie existentiell. Daß es nicht ausschließlich an der Volksbühne entwickelt werden kann, zeigen die zahlreichen Gastinszenierungen an so gut wie allen großen Bühnen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Dennoch ist der Ursprungsort in Gefahr. Insofern ist die Politik gut beraten, die Volksbühne an jene zu überstellen, die befähigt sind und sich berufen fühlen, dieses Theater aus seiner Geschichte heraus und mit seiner Geschichte weiterzuentwickeln. Wer immer das sein wird, er oder sie im Singular oder im Plural wird eine ungeheure Arbeit zu verrichten haben. Ein Konzept für diese Arbeit steht aus.

Und wer kämpft nun?

Die politischen, ideologischen, finanziellen, strukturellen Zwänge, Freundschaft, Hass, Intrigen, sich ändernde Arbeitsprozesse und Allianzen, stellen im Kontext seiner Kunstproduktion ein einmaliges Versuchsfeld dar. Das dialektische Verhältnis von künstlerischer Stabilität (die Krisen bekanntlich nicht ausschließt) zum Älterwerden und zur Kraft der Verjüngung ist hier erprobt worden und sollte weiter geprobt werden können. Das über Generationen weiterzuentwickeln, wäre die Herausforderung der man sich stellen sollte, Politiker wie Künstler.

Dem Volksbühnenorganismus sollte sein Standort dafür belassen werden. Für Dercons Modellbühne ist ein bereits neutralisierter Ort, ein entkernter Großbetrieb, ein entmietetes Theater oder ähnliches, der angemessenere. Ein funktionierendes Stadttheater ohne Not in einen zum Großteil auf Gastspiele spezialisierten Durchgangsbetrieb umzuwidmen, führt zur anhaltenden Ausdünnung der Stadttheaterlandschaft nicht nur Berlins. Ist die subventionierte Produktionsstätte Volksbühne tot, wird sie kein Haushalt dieser Stadt je wieder mit wieviel Millionen auch immer zurück ins Leben befördern. Diese Zäsur wird die endgültige sein.

Am Ende ist die Politik gefordert – doch wer will angesichts einer überforderten Personage von dort Hilfe erwarten? So bleibt der Vorwurf, bleibt die Forderung nach Revision einer Fehlentscheidung. Sie richten sich an eine blinde, fehlgeleitete oder gar nicht agierende Berliner Stadt- und Kulturpolitik, die nicht nur an der Abschaffung ihrer eigenen Deutungshoheit, die weit folgenschwerer an der Abschaffung Berlins als spezifischer Kulturstadt, als Hauptstadt, ja als Stadt überhaupt, arbeitet. Eine Weltstadt als Vorgarten eines Rings globaler Superstädte, wie sie der hiesigen Politik vorzuschweben scheint, ist der sicherste Weg, Berlin, das nach der Abwicklung seiner Industriestandorte wenig mehr als seine Kultur und Geschichte besitzt, in die Bedeutungslosigkeit zu führen.

Es sollte nicht wie große Landstriche auf dem Territorium der ehemaligen beiden deutschen Staaten zu Freilichtmuseen zurechtgestutzt werden. Dasselbe gilt für die Theaterlandschaft, die im deutschen Osten vielerorts zu sogenannten Theaterkonglomeraten zusammengeschrumpft wurde, letztes Beispiel Rostock, nächstes Beispiel, wer weiß. Tatsache ist, dass 25 Kunstarbeiter die Volksbühne verlassen müssen, damit – vielleicht – 25 neue kommen. Eine Garantie, dass die restlichen 200 bleiben, gibt es nicht. Ja, es geht um Macht, um Geld, um Arbeit, um die Kunst und wo und wie man sie ausübt. Es geht um die Macht.

Anm. d. Red.: Weitere Beiträge zum Thema finden Sie in unserem Schwerpunkt Wem gehört die Bühne des Volkes? Das Foto stammt von Magdalena Roeseler und steht unter der Creative Commons Lizenz cc by 2.0.

2 Kommentare zu “Berlin in Aufruhr: Wie aus einem Intendantenwechsel ein Kulturkampf geworden ist

  1. (english below)

    An Okwui Enwezor, Ulrich Wilmes, Hans Ulrich Obrist, Rem Koolhaas, Hortensia Völckers, Jacques Herzog, David Chipperfield, Bernd Scherer, Thomas Weski, Richard Sennett, Alexander Kluge, Adam Szymczyk, Manthia Diawara, Dirk Snauwaert, Peter Saville, Matthias Mühling, Christine Macel, Phillipe Parreno, Konstantin Grcic, Susanne Gaensheimer, Sabine Breitwieser, Friedrich Meschede, Anne Teresa de Keersmaeker, Kasper König, Carolyn Christov-Bakargiev

    und an die Volksbühne

    Zu Beginn des Jahres wurde Chris Dercon vom Berliner Senat als neuer Intendant der Volksbühne verpflichtet. Der Chef eines der größten und vornehmlich auf Städtetourismus ausgerichteten internationalen Ausstellunghäuser übernimmt ein Städtisches Theater, das verglichen mit der Tate nicht groß, nicht effizient ist, aber – im Gegensatz zu einem eher routinierten Ausstellungsprogramm – einen Überschuss an spezifischer Bedeutung produziert. Man hat diesen Überschuss auch oft genug “Mehrwert an symbolischen Kapital” genannt, und man weiß dann ebenso um den Appetit, den das Business auf diesen Mehrwert hat, um sich zu verlebendigen, indem es seinem Expansionszwang folgt.

    Auf den letzten Protestbrief des Ensembles der Volksbühne folgte ein Brief zur Unterstützung des neuen Intendanten, größtenteils initiiert und unterzeichnet von den internationalen Kuratorenkollegen seiner Generation. Der Brief behauptet, dass die Proteste gegen Dercon sich doch hauptsächlich auf den Missbrauch von senatorischer Macht beziehen, verfasst von einer engstirnigen, nur an ihren eigenen Privilegien interessierten Gruppe. Der Brief beklagt auch “the lack of decorum in the reception of the appointment”, vermisst das Minimum an Höflichkeit gegenüber dem neuen Intendanten – eine Blamage für Berlin, als globaler Standort.

    Währenddessen hat sich im lokalen Berlin längst ein geflügeltes Wort verbreitet, wenn man etwas als großspurig und ignorant abtun will: “Ich mache dich weltberühmt.” Es wird kollportiert, dass Chris Dercon René Pollesch dieses ungebetene Versprechen gegeben haben soll in der Kantine des Theaters. Ebenso soll er auf sein wohl ganz exzellentes internationales Adressbuch verwiesen haben. Vielleicht ist das alles Gossip, aber letztendlich ist es genau diese machtbewusste Umgangsform, die KünstlerInnen – meistens etwas dezenter – von globalen Kuratoren kennen.

    Es geht uns aber nicht um Parteinahme in einer Personaldebatte, auch nicht um ein Plädoyer für eine identitäre Abgrenzung der einzelnen Künsten. Was in der bisherigen Debatte kaum erwähnt wurde, ist die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen. In diesem Sinne erinnert es fast eine Freudsche Fehlleistung, wenn im Statement der internationalen Kuratoren “the privilege conferred by public employment to defeat an individual’s vision” besonders vorgeworfen wird.

    Nicht nur deswegen finden wir es an der Zeit, dass wir von KünstlerInnenseite aus nun ebenfalls einen Brief schreiben, sondern weil dieses unfriendly Take Over etwas Exemplarisches an sich hat. Es führt uns den Paradigmenwechsel vor Augen, der beide Bereiche – bildende Kunst und Theater – betrifft, darin dem Branding von Berlin als internationaler Hub der Creative Class folgend.

    Wenn wir sagen, dass seit Ende der 90er Jahre sich die bildende Kunst zum Flagship neoliberalen Kulturverständnisses entwickelt hat, dann meinen wir nicht die Frage der Finanzierung, sondern die Subjektivität der Akteure selbst. Wir haben es heute meistens nicht mehr mit einzelnen KuratorenInnen und KünstlerInnen zu tun, sondern mit Managern und Factories, beide ausgelaugt vom Soll globaler Präsens und ihrer Anforderung, die Leere internationaler Prestigearchitekturen vollzumachen. Wir haben es mit einer professionalisierten Verselbständigung von Arbeitsteilungen und Techniken zu tun. Sie treten oft an die Stelle von Inhalten. Wir haben es wie in allen Industrien mit einer universellen Existenzangst zu tun, die den Akteuren im Nacken sitzt: dieses Verschluckt werden vom globalen Rauschen, das die Verausgabung überflüssigem Anlagenkapital verursacht. Es gibt deswegen nun viele “Teams” und “Studios”, die für Künstlersubjekte arbeiten, aber das nicht, um ein Kollektiv zu bilden, sondern eben angestellt, isoliert, hierarchisiert und konkurrent.

    Wir haben es mit der zum Modewort gewordenen Diagnose Burnout zu tun, weil Ausbeutung bis zur Erschöpfung für alle Akteure ubiquitär geworden ist. Letztendlich zählen wir hier also all das auf, was alltäglich in jeder anderen Industrie auch los ist. Aber wir erinnern uns daran, dass dieser Bereich genau so wie Theater das Selbstverständnis hatte, andere Möglichkeiten, zu leben, zu denken und zu empfinden, als Forderung, Praxis, Konterkarierung von Macht oder Lüge aufzustellen.

    In Bezug auf das Theater wollen wir erwähnen, daß theatrale, zeitbasierte, performative Arbeitsweisen im Kunstbereich exponentiell zu seiner Neoliberalisierung zugenommen haben – ja, das zentrale Ausdrucksmittel dieser Epoche geworden sind. Denn ´gute Performanz´, Liquidität der Produktion und der Umgang mit Menschen als Ressourcen gehören zum Tugendkatalog dieser Form von Ökonomie, ebenso wie die Attribute der Unmittelbarkeit, des Ephemeren, die Betonung des Ereignisses sowohl zentral für die Performance- wie von Dienstleistungsökonomie sind. Es gehört zu der eingeübten kritikalen “Ambilvalenzfunktion” von Kunst, dass Performance sich oft als Instrument einer institutionskritischen Metareflexion über immaterielle Arbeit versteht, während die eigenen Arbeitsbedingungen exakt deren Entrechtung entsprechen. Man kann von einer Industrialisierung sprechen, die auf Schichtarbeit, Outsourcing, Entqualifizierung und Wiederholung beruht. Und tatsächlich trifft man in den Ausstellungsräumen immer häufiger auf performatives Prekariat, die dem Zeit- und Objektstatus des Museums und seiner Besucher ausgeliefert sind. Dies betrifft einerseits die Löhne und Verträge, aber auch die Würde und Selbstachtung der einzelnen PerformerInnen. “Der Allgorytmus ist die Antwort darauf, dass zeitgenössische Performances immer größer dimensioniert werden, weil sie sich mit größerem Ausstellungsräumen und längeren Laufzeiten konfrontiert sehen.” schreibt Claire Bishop, und sie bescheibt eine Arbeit von Tino Seghal in den Turbinenhalle der Tate, in dem die Performer – nun Bestandteil der smarten Haustechnik geworden – in ihren Bewegungsclustern sich an dem Wechsel des Lichtsystems orientieren. *Von daher wirkt die Übernahme eines Theaters sehr konsequent.

    Es geht uns nicht um das Ausmalen weitere Horrorszenarien über das künftige Programm der Volksbühne oder eines Lean Managment Theater, wie erfolgreich im HAU vollzogen. Und wir können auch nicht die “Reform” der Volksbühne als so oft zitierte “schöpferische Zerstörung” sozialer Zusammenhänge abtun. Warum – so fragen wir uns – wirkt die bevorstehende Reform so exemplarisch wie eine Exekution?

    Die Volksbühne ist nicht nur eines der wenigen glücklichen Beispiele für die gegenseitige Inspiration von ost- und westdeutscher Kultur in einer ansonsten binnenkolonialistischen Politik. Sie führt definitiv ein geschichtliches Wissen fort als Handwerk, Gemeingut und als politische Arena einer linken Intellektualität, und das seit ihrer Gründung. Sie ist der Ort der langfristigen Ensembles, die mit ihrer Kollektivität eben nicht nur Starregisseure kreierten, sondern heterogene Gebilde von ganz unterschiedlichen Charakteren und Attitüden. Es ist diese Kultur der langfristigen, gemeinschaftlichen – und geistreichen – Produktion, es ist diese soziale und intellektuelle Rhizomatik als gesellschaftliches Programm und als geschichtliches Gedächtnis, das zerstört werden soll.

    Der Kunstbereichs der letzten Jahrzehnte zeigt zu dieser Exekution seine effizienten Instrumente.

    Berlin, im Juli 2016

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    To Okwui Enwezor, Ulrich Wilmes, Hans Ulrich Obrist, Rem Koolhaas, Hortensia Völckers, Jacques Herzog, David Chipperfield, Bernd Scherer, Thomas Weski, Richard Sennett, Alexander Kluge, Adam Szymczyk, Manthia Diawara, Dirk Snauwaert, Peter Saville, Matthias Mühling, Christine Macel, Phillipe Parreno, Konstantin Grcic, Susanne Gaensheimer, Sabine Breitwieser, Friedrich Meschede, Anne Teresa de Keersmaeker, Kasper König, Carolyn Christov-Bakargiev

    and the Volksbühne

    Earlier this year, Chris Dercon was appointed the new director of the Volksbühne by the Berlin Senate. The head of one of the largest international exhibition venues, which is mainly geared to city tourism, will take charge of a municipal theatre that, in comparison with Tate, is not large, not efficient, but – as opposed to a rather routine exhibition programme – produces a surplus of specific meaning. This surplus has often enough also been called “surplus of symbolic capital”, and one then also becomes aware of the appetite that business has for this surplus in order to enliven itself by following its coercion to expand.

    The last protest letter by the ensemble was followed by a letter supporting the new director, largely initiated and signed by international curator colleagues of his generation. The letter claims that the protests against Dercon are mainly aimed at the abuse of senatorial power, written by a narrow-minded group interested only in their own privileges. The letter complains about “the lack of decorum in the reception of the appointment” and misses a minimum of politeness towards the new director – a disgrace for Berlin as a global location.

    Meanwhile, a saying has spread in local Berlin for cockily and ignorantly dismissing something: “I’ll make you world famous.” It is said that Chris Dercon made this unsolicited promise to René Pollesch in the theatre’s cafeteria. He also allegedly referred to his arguably quite excellent address book. Maybe that’s all gossip, but in the end it is precisely this power-conscious behaviour that artists are familiar with – usually in a subtler form – from global curators.

    But we are not interested in taking sides in a leadership debate, and also not in calling for an identitarian delimitation of the individual arts. What has hardly been mentioned in the debate so far is the precarisation of working conditions. In this sense, it almost reminds one of a Freudian slip, when the international curators in their statement particularly attack “the privilege conferred by public employment to defeat an individual’s vision”.

    Not only for this reason do we find it high time for us, as artists, to write a letter as well. It is also because this unfriendly takeover has an exemplary character. It reveals the paradigm change affecting both fields – fine art and theatre – and following the branding of Berlin as an international hub of the creative class.

    When we say that fine art has become the flagship of the neoliberal understanding of culture since the end of the 1990s, we mean not only the question of financing, but also the subjectivity of the actors themselves. Today, we are usually dealing not with individual curators and artists, but with managers and factories, both exhausted by the desired target of global presence and its demand to fill the void of international prestigious architectures. We are facing the divisions of labour and techniques taking on a professionalised momentum of their own. They often replace contents. As in all industries, what we have is a universal, existential fear breathing down the neck of the actors: being absorbed by the global noise caused by the expenditure of superfluous investment capital. That’s why there are now so many “teams” and “studios” for which the artist-subjects are working, but not to form a collective. They are instead employed, isolated, hierarchized and compete with each other.

    We are dealing with the diagnosis of burnout that has become a fashionable word, because exploitation all the way to exhaustion is now ubiquitous for all actors. What we are ultimately talking about here is something that takes place daily in every other industry as well. But we call to mind that this field, just like theatre, once had the self-understanding of demanding other possibilities of living, thinking and feeling as a practice to counter power and lies.

    In regard to theatre, we would like to mention that theatrical, time-based and performative modes of working in the field of art have increased exponentially to its neo-liberalisation – yes, they have become the crucial expressive means of this era. Because ‘good performance’, the liquidity of production and the treatment of humans as resources belong to the catalogue of virtues of this form of economy, just as the attributes of immediacy, the ephemeral, the emphasis on the event have become central for both the performance and service economies. It belongs to the practiced, critical “function of ambivalence” of art that performance is often understood as an instrument of institution-critical meta-reflection on immaterial labour, while one’s own working conditions precisely correspond with their disenfranchisement. One can speak of an industrialisation that is based on shift work, outsourcing, de-qualification and repetition. And indeed, in exhibitions spaces one increasingly encounters a performative precariat that is at the mercy of the time and object status of the museum and its visitors. This applies both to wages and contracts and to the dignity and self-esteem of the performers. “The algorithm responds to the increased scale of contemporary performance as it confronts larger exhibition spaces and longer exhibition durations,” writes Claire Bishop on the work of Tino Seghal in the Turbine Hall of Tate, in which the movement clusters of the performers – now part of the smart building services – are oriented towards the variations in lighting. Therefore, taking charge of a theatre appears quite logical.

    We are not interested in painting further horror scenarios regarding the future programme of the Volksbühne or a lean management theatre, as it has been successfully achieved at HAU. Furthermore, we cannot dismiss the “reform” of the Volksbühne as the often cited “creative destruction” of social contexts. We ask ourselves: Why does the imminent reform appear as exemplary as an execution?

    The Volksbühne is not only one of the few fortunate examples of mutual inspiration between East and West German culture in an otherwise domestic colonising politics. It definitely prolongs historical knowledge as craft, commons and as the political arena of a leftist intellectuality – it has done so ever since its foundation. It is the venue of long-term ensembles that do not create star directors with their collectivity, but heterogeneous structures of the most diverse characters and attitudes. It is this culture of long-term, collective – and intellectually stimulating – production, this social and intellectual rhizomatics as a social programme and historical memory that is to be destroyed.

    The art field of the past decades provides the efficient instruments needed for this destruction.

    Berlin, July 2016

  2. Ich muss gestehen, dass ich auf die Debatte und den Brief gegen Chris Dercon ähnlich reagiert habe, wie es die Unterzeichner des neuen Briefes sehen.

    Was ich dennoch spannend finde ist die stark identitäre Haltung der Volksbühne-Beschäftigten.

    Es wäre schön, wenn es aus der Volksbühne ein “konstruktives Misstrauensvotum” gäbe, nicht nur einen Abwehrreflex gegen Renners Mann, der sich an allem und jedem stoßen mag und von Projektionen gegenüber dem Charmeur getrieben ist, und ich glaube dieser Beitrag geht in die richtige Richtung. Die Mitarbeiter der Volksbühne müssen selbst verdeutlichen wie sie sich gerne erneuern wollen und wohin sie gerne wollen, und wie sie sich vom Rest der Theaterlandschaft weiterhin abgrenzen wollen.

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