Verweigerte Zeitgenossenschaft

Seit etwa zwanzig Jahren beschaeftigen sich einige Ethnologen/Anthropologen mit dem Thema Zeit, nicht nur weil Zeit ein interessanter Forschungsgegenstand ist, sondern weil uns – im Zusammenhang mit der postkolonialen Kritik unserer Disziplin – aufgegangen ist, dass Zeit wesentlich, konstituierend ist, sowohl in unseren Forschungspraktiken als auch in dem Diskurs ueber andere Kulturen [also auch deren >Zeiten<], den wir auf Grund unserer Forschungen formulieren. Mit anderen Worten, nicht ueber die Zeit der Anderen als Vorstellung moechte ich an dieser Stelle sprechen, sondern darueber, wie wir Ethnologie als Wissen von anderen in der Zeit und durch Zeit gewinnen [oder verspielen]. Sich ueber diese Fragen Klarheit zu verschaffen, scheint mir ein dringendes Anliegen, ja eine Bedingung, produktiven Nachdenkens ueber >globale Entwicklungspolitik und interkulturelle Kommunikation< zu sein.

In meinem Buch >Time and the Other: How Anthropology Makes its Object< [1983] habe ich die Behauptung aufgestellt, dass sich der Ethnologie/ Anthropologie das Problem Zeit auf eine grundlegende, radikale Weise in der Form eines Widerspruchs stellt. Seine Elemente lassen sich ziemlich einfach formulieren; die Konsequenzen der Aufrechterhaltung des Widerspruchs haben nicht nur mich seit Jahren beschaeftigt; Moeglichkeiten seiner Aufhebung zu bedenken und zu praktizieren ist fuer mich die Aufgabe der postkolonialen Anthropologie. Hier ist der Widerspruch, ungefaehr wie ich ihn damals formulierte: Seit sich die Kulturanthropologie von einem szientistischen, naturgeschichtlichen Ideal abgewendet hat, ohne den Anspruch, eine empirische Wissenschaft zu sein, aufzugeben, gehen wir davon aus, dass die sogenannte Feldforschung nicht nur, aber im wesentlichen, auf Kommunikation mit denjenigen beruht, die wir erforschen. Ethnographisches Wissen wir nicht gefunden und gesammelt, sondern dialogisch produziert, gemacht. Kommunikation und Dialog sind dabei in erster Linie erkenntnisstheoretische, nicht moralische, Begriffe. Nicht das Ideal machtfreier Konversation ist gemeint [aber natuerlich nicht verworfen], sondern die Bedingung der Moeglichkeit von Wissensproduktion. Was heisst das? Schon immer hat die Anthropologie von Feldforschern Beherrschung der >Eingeborenen< - Sprache gefordert und ihnen participant observation, teilnehmende Beobachtung, als >Methode< empfohlen. Auch Zeit hat man als wichtig erkannt; eine Periode von ungefaehr eineinhalb Jahren [mehr als ein jaehrlicher Zyklus] galt fuer Feldforschung als optimal. Aber erst, nachdem die antipositivistische Kritik gegriffen hatte, kamen wir dazu, Zeit als Anwesenheit [presence] des Feldforschers in einer anderen Gesellchaft/Kultur radikal zu hinterfragen. Mit den Denkmitteln, die wir vor allem der Phaenomenologie und dem Begriff der Intersubjektivitaet verdanken, kamen wir zu der folgenden Einsicht: Ethnologisches Wissen beruht darauf, dass Gespraeche stattfinden. Tatsaechliche, nicht imaginaere, Dialoge sind nur moeglich, wenn die Teilnehmer in der gleichen Zeit agieren. Es handelt sich dabei um eine Gleichzeitigkeit, die nicht, oder nicht nur, physikalisch gegeben ist [als Synchronie], sondern sozial geschaffen wird. Mit anderen Worten, Anerkennung von Gleichzeitigkeit, oder besser: Zeitgenossenschaft [coevalness] ist eine epistemologische Bedingung anthropologischer Forschung. Nun zum Widerspruch. Wenn man den anthropologischen Diskurs - einfacher gesagt: wie wir ueber diejenigen, die wir als unsere Zeitgenossen erforschen, reden und schreiben - kritisch untersucht, stellt es sich heraus, dass wir unseren Forschungsgegenstand, andere Voelker und Kulturen, systematisch [dh. nicht nur gelegentlich] als zeitlich von uns entfernt, also ungleichzeitig beschreiben. Wie im Einzelnen gezeigt werden kann, beruhte der anthropologische Diskurs als formuliertes Wissen ueber lebende Gesellschaften auf einer Verneinung oder Verweigerung ihrer Zeitgenossenschaft [ich nenne das Allochronie]. Wir schrieben ueber Sammler, Jaeger, Hirten und Bauern und nannten sie Wilde oder Primitive, Naturvoelker oder Stammesgesellschaften. Dies sind Attribute, die in gaengigen Begriffen wie Entwicklung und Modernisierung [und ich meine auch in Globalisierung] nicht nur mitschwingen, sondern diese weiterhin [inhaltlich und erkenntnistheoretisch] bestimmen. Wir sind hier und jetzt, sie sind dort und damals: Eine raum-zeitliche Logik, die eben nicht nur Logik bleibt, sondern als eine politische Kosmologie unseren Umgang mit der so genannten Dritten Welt, aber auch mit Minderheiten und Migranten in unseren eigenen Gesellschaften praegt. Der Gedanke der Verweigerung von Zeitgenossenschaft im anthropologischen Diskurs ist gewoehnungsbeduerftig. Deshalb moechte ich ihn mit zwei Bespielen konkretisieren. Das erste belegt einen Topos, den wir seit den Anfaengen der Anthropologie immer wieder finden. Es geht darum, dass Zeitgenossenschaft mit den Voelkern, denen wir begegnen, nicht moeglich ist, weil der Ethnologe immer schon zu spaet kommt, sie nicht mehr in ihrer authentischen Form antrifft. Mit anderen Worten, Gegenwart wird als Vergangenheit erfahren.Verweigerung von Zeitgenossenschaft wird dann oft ins Tragische erhoben [und damit sozusagen entschuldigt], gerade wenn kritische Beobachter diese Form der Ungleichzeitigkeit als Auswirkung kolonialer Unterdrueckung erkennen [einer meiner amerikanischen Kollegen, Renato Rosaldo, nannte dieses Sentiment treffend imperialist nostalgia]. Hier als Beispiel eine poetische Version, die der bereits zitierte Leo Frobenius diesem Topos gegeben hat. Er beendet sein Buch >Das sterbende Africa. Die Seele eines Erdteils< mit diesem Aufruf an die Afrikaforschung: Grabt! /Aber achtet darauf, dass die Scherben nicht euch begraben./ Erlebt! / Unter jenen, die durch uns sterben. / Sterben muessen. / Erlebt es vor ihrem Tode./ Damit ihr die Wiederaufstehung verstehen lernt! Die letzte Zeile ist natuerlich das Interessanteste and dieser ansonsten stereotypischen Aussage: Damit ihr die Wiederaufstehung verstehen lernt! Hatte Frobenius eine Vorahnung von Ereignissen und Prozessen, die uns Anthropologen eines Tages die Gleichzeitigkeit Afrikas sozusagen aufzwingen sollten? Mit dieser Frage komme ich zu meinem zweiten Beispiel, besser gesagt, zu einer Beobachtung rezenter Entwicklungen in der Afrika-Forschung, die in den achtziger Jahren sichtbar wurden. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Problem war die theoretische Erfassung der kolonialen Situation. Fast alle Studien, die sich mit sozialem Wandel und Modernisierung beschaeftigten, gingen davon aus, dass in der Begegnung von Tradition und Modernitaet die sogenannten primitiven oder Stammesgesellschaften gefaehrdet und zumeist zum Untergang verdammt waren. Diese Erwartung konnte, z.B. in einer religioes-missionarischen Perspektive als Sieg ueber die Macht Satans, oder allgemein-saekulaer als Triumph der Zivilisation ueber Barbarei gesehen werden. Dabei wurde der aufgeklaerten Anthropologie die Bewahrung von Tradition [zumindest als Wissen von ihr] zugewiesen. In einem Wettlauf mit der Zeit stuerzten sich die Ethnographen auf das Studium verschwindender Dorfkulturen. Damit wurde Ungleichzeitigkeit nicht nur nicht ueberwunden, sondern als theoretische Voraussetzung weiterhin zementiert. Gleichzeitige Prozesse der Verstaedterung wurden als essentiell pathologisch - krankhaft oder krank-machend - praesentiert; Afrikaner konnten Modernitaet erleiden aber nicht schaffen. Gerade das Beispiel Afrikas zeigt uns aber: Der wissenschaftliche Nachweis und selbst die Anerkennung einer afrikanischen Gegenwartskultur und ihrer globalen Praesenz ist im besten Fall ein erster Schritt zu einer politischen Anerkennung von Zeitgenossenschaft. Nie war die aesthetische Anwesenheit Afrikas in fast allen Teilen der Welt staerker als heute; nie aber auch die Verweigerung von Zeitgenossenschaft im politischen und wirtschaftlichen Umgang mit fast dem gesamten Kontinent. Ist das, was ich aesthetische Anwesenheit nannte harmlos und damit ihre Anerkennung folgenlos? Oder ist auch diese Art von Zeitgenossenschaft vom Standpunkt politischer und oekonomischer Interesssen, die behaupten, in der so genannten Globalisierung ihre Legitimation zu haben, subversiv? Ist vielleicht die faktische Anwesenheit von Angehoerigen anderer Kulturen in unseren Staaten gerade deshalb so >problematisch,< weil sie Zeitgenossenschaft als Gefahr mit sich bringt – d.h. als Gefahr fuer die wissenschaftlichen und ideologisch-politischen Konstruktionen der Ungleichzeitigkeit, mit denen wir Rationalitaet und Legitimitaet begruenden?

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