Vergänglichkeit archivieren

Nationalbibliotheken sammeln das schriftliche Kulturerbe ihrer Nation. Sie sammeln es, sie bewahren es fuer die Ewigkeit und sie machen es ihren Benutzern zugaenglich. Diese Aufgabe erfuellt auch die Deutsche Nationalbibliothek. Am Gruendungsort Leipzig beginnt die Sammlung schon seit 1913, in Frankfurt am Main nach Kriegsende 1947 und in Berlin wird seit 1970 im Deutschen Musikarchiv alles gesammelt, was mit Musik zu tun hat. Mit den Jahren ist viel Material zusammengekommen, denn der gesetzlich fixierte Sammelauftrag verlangt, alles zu sammeln, was in Deutschland erscheint und dazu die Literatur des Auslandes, soweit sie einen Bezug zu Deutschland hat.

Ueberall auf der Welt beobachten Nationalbibliotheken die wachsende Bedeutung des Internet fuer die Verbreitung von Texten. Onlinepublikationen treten neben gedruckte Veroeffentlichungen, oftmals vor diese und manchmal bleibt es auch bei der Netzpublikation; eine gedruckte Fassung erscheint gar nicht. Die Berliner Gazette ist ein Beispiel fuer diese Entwicklung. Dass sich in diesem Bereich ein nicht unwichtiger Teil der Kultur abspielt, ist mittlerweile unbestritten.

Im vergangenen Jahr ist der Sammelauftrag der Deutschen Nationalbibliothek um Netzpublikationen erweitert worden. Jetzt gilt es, Methoden und Verfahren zu entwicklen, mit denen Veroeffentlichungen im Internet gesammelt werden koennen. Gedrucktes laesst sich leichter handhaben: Das Pflichtexemplarrecht beschert der Bibliothek zwei Exemplare von allem, was in Deutschland erscheint.

Die Top-Level-Domain .de umfasst rund 10 Millionen Websites. Nicht alles wird dem kulturellen Erbe zuzurechnen sein und es werden, analog zur Sammlung gedruckter Veroeffentlichungen, Einschraenkungen vorgenommen werden muessen. Gesammelt wird, was von oeffentlichem Interesse ist. Dazu werden private Homepages in der Regel nicht zaehlen. Natuerlich wird es feststehende Kriterien geben, was zu sammeln ist und was nicht. Eine fallweise Entscheidung waere nicht nur aufgrund der Menge unmoeglich. Einer solchen Bewertung steht auch entgegen, dass fuer eine unbekannte Zukunft gesammelt wird. Wer wollte heute entscheiden, was morgen, uebermorgen oder in ferner Zeit benoetigt wird? Diese Einschaetzung bezoege immer geistige Stroemungen der aktuellen Zeit ein. Eine fuer alle Zukunft konsensfaehige Beurteilung waere kaum moeglich.

Es bleibt der formale Weg: Eine Verordnung wird in diesem Fruehjahr den gesetzlichen Sammelauftrag konkretisieren. Rein Geschaeftliches wird dabei herausfallen, rein Privates ebenso. Zwischen diesen beiden Polen wird gesammelt – so, wie es seit vielen Jahren mit gedruckten Veroeffentlichungen Aufgabe und gute Uebung der Nationalbibliothek ist.

Buecher sammelt man, stellt sie in ein klimatisiertes Magazin und dort ueberdauern sie lange. Auch die ersten Druckstuecke der Menschheitsgeschichte sind heute noch ohne Weiteres benutzbar, im Sinne von anzuschauen. Soweit sich die Kenntnis der verwendeten Schrift und der Sprache erhalten haben, koennen alte Texte gelesen und verstanden werden wie am Tag ihrer Herstellung. Netzpublikationen stellen, genau wie elektronische traegergebundene Veroeffentlichungen, andere Anforderungen. Sie benoetigen Rechnerumgebungen mit speziell fuer sie konzipierten Betriebssystemen, auf denen Anwendungsprogramme ausgefuehrt werden, die ihrerseits elektronische Werke erst benutzbar machen. Mit dem technischen Fortschritt ueberholen sich die Voraussetzungen fuer die Nutzung der aelteren Veroeffentlichungen; elektronische Datentraeger sind in ihrer Haltbarkeit und Zuverlaessigkeit dem klassischen Traegermedium Papier weit unterlegen.

Um elektronische Publikationen angemessen behandeln zu koennen, werden sie in ein Langzeitarchivierungssystem eingespielt. Das gibt es in Grundzuegen schon und es wird weiter entwickelt. Fuer alle dort aufgenommenen Veroeffentlichungen ist bekannt, welche Bedingungen fuer eine Wiedergabe erfuellt sein muessen. Die Aufgabe, die Wiedergabe der gesammelten Werke in Zukunft zu ermoeglichen, wird dadurch fassbarer, sie ist systematisiert und sie kann gezielt angegangen werden. Ein Museum muesste versuchen, die gesamte historische Benutzungssituation mit Originalgeraeten zu erhalten. Die Nationalbibliothek als Wissensspeicher und Gedaechtnis der Nation bewahrt mit diesem Archivierungssystem die Inhalte und macht sie zugaenglich.

Nach vielen Jahren Vorbereitung hat die Deutsche Nationalbibliothek im vergangenen Jahr einen um Netzpublikationen erweiterten Sammelauftrag erhalten. Die Grundzuege der Aufgabe sind klar. Im laufenden Jahr wird praezisiert werden, was zu sammeln ist und was nicht. Gleichtzeitig werden die Verfahren fuer die Sammlung und Archivierung elektronischer Publikationen erarbeitet werden. In diesen Fragen werden wir am Ende des Jahres wesentlich weiter sein als heute. Die vollstaendige Sammlung des Internets – und sei es auch nur des deutschen oder deutschsprachigen – bleibt hingegen eine Aufgabe, die noch nicht einmal gestellt wurde.

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