Tod in Venedig: Marmor, Müll und Mittelmeer

Am Eingang der Lagunenstadt Venedig lösen Touristen ein verheißungsvolles Ticket: Verwinkelte Gassen, imposante Bauten und alte Brücken entfalten besonders bei hohen Temperaturen einen narkotischen Zauber. Doch Traum und Alptraum liegen dicht beieinander. Wie es einem westlichen 1980er-Jahre-Wohlstandskind mit leichtem Übergewicht bei einer Erkundungstour ergeht, malt die Autorin und Netzaktivistin Julia Schramm aus.

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Der Marsch ist anstrengend.Er führt durch enge Gassen. Es riecht nach den Exkrementen der letzten Jahrhunderte. Der Geruch vermischt sich mit Teer und Müll. Wir durchqueren Häuserfluten, retten uns ins Schattenlöcher vor der erbarmungslosen Sonne, ersehnen die klimatisierte Systemgastronomie herbei. Taschenhenkel einer neuen, aber umständlichen Handtasche schneiden ins schwitzende Fleisch. Lederimitat reibt sich in geweitete Poren hinein und die verdammte Eitelkeit rächt sich abermals.

Stimmen der Mitmarschierenden versinken im dumpfen Allerlei des Moments, Schwindel macht sich breit. Der Kopf ist nur beinah leer, die Beine schmerzend, haben wir die Ansprechbarkeit verloren, so torkle ich über eine Brücke, von der ich glaube, dass sie gänzlich gülden ist, doch wirklich nur restauriert mit Goldfarbe. Sonst stünde sie wohl nicht mehr da und wäre von den bettelnden Massen, die uns begleiten, mit ihren Säckeln und Tassen, mir die Tränen in die Kehle treibend, abmontiert worden. Gliedmaßen fehlen, Kleidung zerrissen, zerschlissen, und die immerwährend traurigen Blicke, erinnern unangenehm daran, in was für einer unbarmherzigen Welt wir leben müssen, wie gut es dem einen geht, welche Privilegien er genießt und dass er die Ressourcen dieser Erde gerade auf die billige Kopie einer Designerhandtasche verschwendet hat.

Ohnmächtig von Mitleid und Ekel vorm Selbst befangen schmeiße ich das Geld für mein Mittagessen in einen der verbeulten Plastikbecher, die mir direkt, frontal, fordernd ins Gesicht gehalten werden. Würden sie mich jetzt ausrauben, wäre ich ihnen nicht mal böse, auch wenn das Prinzip der Wohlfahrt nur ein billiges Herrschaftsinstrument ist, das ich ablehnen sollte.

Ich japse, bei meinem Tod in Venedig, der doch nicht dort ist, ich seufze, um das Ende der Besichtigung einer italienischen Stadt zu erflehen, die an meinen Aschenbach-Nerven zerrt. Die Reisegruppe nähert sich einem Dom, sagen sie. Die Reisegruppe kommt zur ersten Etappe, versprechen sie. Die Reisegruppe hat noch viel zu bestaunen, beschwichtigen sie. Ich seufze. Mit letzter Kraft nun schleppe ich mich durch die sonnengetränkten Gassen. Ich schwitze. Ich leide. Erwarte das Ende.

Wie das halt so ist als westliches Wohlstandskind der 80er mit leichtem Übergewicht auf einem Fußmarsch über sieben Kilometer in der prallen Sonne. Stöhnend lehne ich mich an eine Steinmauer, bevor ich mich um eine Ecke schleppe, hinter der sich ein Anblick verbirgt, der mir alles zurück gibt. Vor mir breitet sich eine Kathedrale aus, deren gleißende Aura mich durchdringt.

Sie leuchtet kalkfarben vor dem trüben Frühlingshimmel – scheint freischwebend. Die Pracht erdrückt mich und lässt die Tränen aus der Kehle frei. Begierig sauge ich die in den Gewölben versteckte Geschichte ein. Ich sehe Menschen: Ihre Hoffnungen, ihre Sorgen der letzten Jahrhunderte in diese Kathedrale strömen, beten, leiden, jubeln. Hauch von Weltgeist durchströmt mich, den ich mir so oft wünsche, zutiefst gebannt von Übermacht, Doppeldeutigkeit, die sich jetzt vor mir auftut, was vorher verschlossen war.

Vor mir stehen hunderte Jahre Geschichte, verpackt in Marmor und Gold, Hoheiten verstrichener Zeit, gefasst in meterhohe Decken und Gemälde. Es ist angenehm kühl im Tempel der Sühne, Unterdrückung und Versklavung atmen wir, Luft, die katholisch schmeckt. Ein Symbol für das Blut und Leid vieler, für ein System der Unterdrückung, für Lügen und Strafen. Ekel und Gestank und Müll. Weihrauch und Katholizismus. Katharsis. Doch das nur für einen Ablass.

Anm.d.Red.: Das Foto oben stammt von Alex Dram und steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

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