Von Last und Lust der Selbstdarstellung: Unterricht im Fach Lebenskunst

Foto von Krystian Woznicki (by-nc-sa)
Ob auf Facebook oder im Bewerbungsgespräch: Selbstdarstellung ist zur ökonomischen Ressource geworden, die bei Jugendlichen gleich welchen Hintergrunds vorausgesetzt wird. Das Berliner Gazette-Projekt „Lebenskünstler” ging diesem Thema mit künstlerischen Experimenten an drei Berliner Bildungseinrichtungen nach und wurde nun im Mixed Up Wettbewerb für einen Preis nominiert. Der Medienjournalist Niklas Hofmann hat das Projekt begleitet und blickt in einer Reportage darauf zurück.

Noch bevor die Aufnahmesession beginnen kann, gibt es ein erstes Problem. Was war doch gleich die Hausaufgabe gewesen? „Wir sollten Dinge mitbringen, die Geräusche machen,“ antwortet Fahad, „Aber wie Sie wissen, sind wir in einer Hauptschule, und keiner hat etwas mitgebracht.“ Nun ja, auch dieses Hindernis wird irgendwie überwunden. Einige Minuten später sitzt Fahad also vor dem Mikrofon des Musikers und Komponisten Dirk Dresselhaus und „macht Geräusche“, und zwar indem er eine Fonduegabel auf einer Dose Wasabinüsse reibt.

Auch die anderen Schüler der Klasse 10a der Röntgen-Schule in Berlin-Neukölln, die nun nacheinander in das in einem Lehrerzimmer improvisierte Aufnahmestudio treten, schütteln mit Stiften gefüllte Etuis, trommeln auf Gießkannen, knüllen Tüten zusammen, und klappern mit dem Tafelzirkel. Simultan dazu verfremdet Dirk Dresselhaus, eine kleine deutsche Indie-Ikone der Neunziger und später unter dem Namen Schneider TM als Elektromusiker zu Anerkennung gekommen, die dissonanten, aber teils sehr rhythmischen Klänge mit eigenen Soundeffekten – und ist mit dem so entstandenen Klangteppich am Ende höchst zufrieden; zufriedener, wie er später sagen wird, als mit manchem, was er zuletzt selbst im Studio produziert hat. Das klinge doch wie Karneval in Rio.

Arbeit an der Selbstdarstellung

Einige der Neuköllner Kids reagieren da eher ungläubig. „Ganz ehrlich, das ist sinnlos,“ meint Violeta am Ende ihres musikalischen Einsatzes jedenfalls erst einmal. „Warum?“ fragt Dirk Dresselhaus, „Ich lebe davon, zum Beispiel.“ – Schon wieder was gelernt. Denn was die 10a da an diesem Dezembertag erlebt hat, ist für sie Unterricht. Nicht in Musik, sondern im Fach Lebenskunst. Man könnte auch sagen: Im Fach Selbstdarstellung. Was natürlich erst mal klingt, als stamme die Idee aus der düster-dystopischen Vision einer Schönen Neuen Westerwellewelt.

Aber es ist ja wahr: Ganz und gar selbstverständlich setzt die Gesellschaft voraus, dass junge Menschen heute als Verkäufer ihrer selbst aufzutreten haben, ganz unabhängig davon, welche beruflichen Erfolgschancen dem einzelnen beschieden sein mögen. In den Bewerbungstrainings der Jobcenter gelten da keine grundsätzlich anderen Prinzipien als sie die Karriereratgeber zukünftiger Führungskräfte vorgeben. Und zugleich wird gerne unterstellt, dass es ohnehin zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen der Teenager von heute gehöre, sich in Social Networks vor zighunderten vermeintlicher Freunde ins rechte Licht zu rücken; dass ihre Rollenmodelle womöglich die Kandidaten bei „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s Next Topmodel“ seien, denen stets eingeschärft wird, wie hart sie noch „an sich“ arbeiten müssten, was ja vor allem heißen soll: An ihrer Außenwirkung.

Künstlerische Selbsterkundung

In dieses Spannungsfeld zwischen Last und Lust der Eigenpräsentation ist der Verein Berliner Gazette (der sich sonst in Veranstaltungen und einem Online-Magazin netzkulturellen Themen widmet) mit dem Projekt „Lebenskünstler“ vorgestoßen, das durch künstlerische Experimente an drei Bildungseinrichtungen der Hauptstadt über fünf Monate hinweg zu ergründen versucht hat, wie der Alltag der Schüler zwischen Facebook und Bewerbungsgespräch „von ökonomischen Handlungen im Allgemeinen und von (Eigen-)Werbung im Speziellen geprägt wird“.

Teilgenommen haben neben dem Hauptschulzweig der Neuköllner Röntgen-Schule ein Oberstufenzentrum für Wirtschaftsabiturienten im benachbarten Kreuzberg und die private Wirtschaftshochschule SRH in Charlottenburg. Bei ihren Selbsterkundungen standen den Schülern vier Kreative zur Seite – neben Dirk Dresselhaus waren das der Regisseur Joerg Offer, die Fotografin Antje Majewski und der Programmierer und Illustrator Marcel Eichner – die als freischaffende Künstler eben auch stets beides sein müssen, Lebenskünstler und Selbstverkäufer.

Die Früchte dieser Begegnungen wurden im Kunstraum Kreuzberg am Berliner Mariannenplatz öffentlich präsentiert, sind unter der Adresse lebenskuenstler-projekt.de aber auch im Netz zu sehen. Bei der Vernissage vor einem Kreuzberg-typisch gemischten Publikum aus Galerievolk, Männern mit Fahrradkurier-Rucksäcken und studentisch wirkenden Spaniern füllen die Schüler der Röntgen-Schule die letzten Stuhlreihen. Laut johlend beklatschen sie die gezeigten Filme – auch eine Ausstellungseröffnung, da haben sie schon recht, ist schließlich die pure Selbstdarstellung. Neben den mit Dresselhaus erarbeiteten Soundcollagen haben sich die Jugendlichen auf Fotografien in Szene gesetzt, in kleinen Aufsätzen versucht, ihre eigene Rolle als Lebenskünstler zu bestimmen, und kurze filmische Selbstporträts produziert.

Nicht dass diese Filme nun durchgängig Kandidaten für den Kurzfilm-Oscar wären. Fingerübungen in Sachen Coolness sind dabei, manche starke Pose, aber eben auch sehr Persönliches, über ferne Heimatländer, den Zusammenhalt mit den Freunden oder die eigene Mulitilingualität. Das gilt zum Beispiel für das Video von Abaseen, dem in Kanada aufgewachsenen Sohn paschtunischer Eltern, oder auch für das von Antonia mit ihren französischen, deutschen und polnischen Wurzeln. Beide sind Studenten der SRH.

Ethnisch ist die Studentenschaft hier eher noch bunter gemischt als die in Neukölln und auch im Style und im Musikgeschmack mancher der jungen Männer liegt Charlottenburg ganz dicht bei Neukölln. Aber der Besuch der Privathochschule ist durchaus kostspielig. Diplomaten- und Unternehmerkinder gehören zu den Studenten. Englisch ist Unterrichtssprache, jeder hier bringt seinen eigenen Laptop mit in die Klasse. Und manche der Wirtschaftsstudenten mochten nach den ersten Sitzungen den Sinn dieses Projekts, das bei ihnen im Unterrichtsmodul „Profilbildung“ angesiedelt wurde, partout nicht mehr einsehen; sie wurden dann getrennt weiter unterrichtet.

Foto von Sarah Curth (by-nc-sa)
Ihre Kommilitonen sind dabeigeblieben, sind wohl auch gerne dabeigeblieben, aber als ihnen Dirk Dresselhaus im Dezember in ihrem Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz erklärt, wie er einst seine Low-Budget-Musikvideos produziert hat, da müssen manche der Business-Studenten erst noch ihr Fremdeln mit einer künstlerischen Position überwinden, die so offensichtlich auf Charttauglichkeit und planbaren kommerziellen Erfolg pfeift.

An anderer Stelle waren es auch die Schüler und Studenten, die die Grundprämissen der Projektveranstalter gehörig ins Wanken brachten. Das Thema Facebook zum Beispiel, das hatte der Türöffner sein sollen, sagt Krystian Woznicki, zusammen mit Sarah Curth der Leiter dieses Projekts bei der Berliner Gazette, jedoch: „Die Annahme, dass alle Jugendlichen ganz selbstverständlich damit umgehen, hat sich nicht bestätigt.“

Freundesammler und Facebook-Aussteiger

Nicht nur, dass längst nicht alle Schüler untereinander vernetzt waren. In allen beteiligten Klassen fand sich auch ein harter Kern an Social-Network-Abstinenzlern und richtiggehenden Gegnern. Komplexere Fälle gab es, wie den zwischenzeitlichen Facebook-Aussteiger, der das Gefühl gehabt hatte in seinen 2000 Online-Freundschaften zu ertrinken, und der jetzt im zweiten Anlauf nur noch ganz ausgewählte Kontaktanfragen bejaht. Und genauso seinen Gegenpart, der problemlos Hunderte von „Freunden“ auf seiner Facebook-Seite verwalten kann, indem er sie in vier bis fünf Hierarchieebenen einordnet, bis hinunter zum engsten Kreis seiner wahren Freunde. Keine Rede jedenfalls davon, dass hier irgendwem die Unterscheidungsfähigkeit zwischen der Flüchtigkeit von Online-Bekanntschaften und den Beziehungen im wahren Leben verloren ginge.

Und manchmal ist das Berliner Gazette-Team auch auf recht fertig ausgebildete Lebenskünstler gestoßen. Ali etwa, aus der 10a der Röntgen-Schule. Grafikdesign ist das Hobby des 17-Jährigen, und eigentlich auch schon mehr als nur das. Fotos von seinen Freunden oder von sich selbst, zum Beispiel beim Kickbox-Training geschossen, nimmt er und bearbeitet Figuren und Hintergründe am Computer, bis sie aussehen wie Screenshots aus Playstation-Spielen. Die Resultate vermarktet und verkauft er dann über Myspace, offenbar nicht ohne Erfolg. Auf die Schule hingegen „achtet er nicht so ganz“, nun gut, schon ein bisschen auf die Noten, aber die Schule ist im Sommer eh vorbei. Und dann macht er das, was er machen will, seit er 15 ist: Zurückgehen nach Beirut, die Stadt, aus der er erst 2003 nach Deutschland gekommen ist, und in die libanesische Armee eintreten. Die Freunde in Berlin, die wird er natürlich trotzdem behalten, es gibt ja MSN und Facebook.

All das erzählt ein schüchtern lächelnder Ali in einem Video-Interview, das Krystian Woznicki mit ihm geführt hat. „Die jungen Leute von heute sind schon erstaunlich,“ hat einer der Leser auf der Seite der Berliner Gazette darunter geschrieben: „Kickboxen, Fußball, Grafikenmachen, Berlin, Beirut, alles ganz easy. Von Zukunftsangst steht in diesem Gesicht nichts geschrieben.“

Anm. d. Red.: Neben Berichten und Interviews im Radio (u.a. Radio Fritz/Trackback) und Tageszeitungen (u.a. Berliner Zeitung) sind auch Beiträge über das Seminarprojekt „Lebenskünstler” in Periodika erschienen, darunter:

9 Kommentare zu “Von Last und Lust der Selbstdarstellung: Unterricht im Fach Lebenskunst

  1. fast unglaublich, was da alles zusammengekommen ist. ich habe selten so einen facettenreichen bericht gelesen. es macht spaß darin zu “blättern”.

  2. Wirklich gut gelungene Beschreibung dieses vielschichtigen Projekts. Mir gefällt, dass der Ton nicht ins zeitungstypische Gestaune über Hauptschulen verfällt und es sprachlich schafft, die Widersprüche und Spannungen zu beschreiben, anstatt nur Klischees aufzukochen. Eine Sache ist mir jedoch aufgefallen, die Schüler der Röntgenschule werden an einer Stelle als “Kids” beschrieben – hier sehe ich eine sprachliche Falle, in die bei der Beschreibung des Milieus (Hauptschule in Berlin-Neukölln) häufig getappt wird. Was macht die SchülerInnen der Hauptschule zu “Kids”?

  3. Stark finde ich diese Einsicht: “Und zugleich wird gerne unterstellt, dass es ohnehin zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen der Teenager von heute gehöre, sich in Social Networks vor zighunderten vermeintlicher Freunde ins rechte Licht zu rücken; dass ihre Rollenmodelle womöglich die Kandidaten bei „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s Next Topmodel“ seien, denen stets eingeschärft wird, wie hart sie noch „an sich“ arbeiten müssten, was ja vor allem heißen soll: An ihrer Außenwirkung.”

  4. Toller Artikel! Für mich (da ich das Projekt mit Krystian geleitet habe) ist vor allem spannend, “Lebenskünstler” nach fast einem halben Jahr noch einmal Revue passieren zu lassen – durch den Blick eines Außenstehenden, der uns ab und zu begleitet hat. So bekommt man nochmal eine ganz andere Sicht auf die gemeinsame Arbeit.

  5. Pingback: Webschau Juni 2011
  6. @Leander Kathmann: Ich weiß gar nicht, ob die Konnotationen des Wortes allgemein so negativ sind (und sein Gebrauch hier so unangebracht). Aber ich denke, ich verstehe den Einwand.

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