Unsere kleine Festiwelt

Die meisten Festivals bilden eine in sich geschlossene Sphäre. Die Gesellschaft kann sich hier mühelos zurückentwickeln. Ein Beweis dafür ist das merkwürdige Sozialverhalten zeltender Großstädter bei einer Open-Air-Massenveranstaltung wie der Fusion. Tausende pilgern dorthin alljährlich, um einer Parallelgesellschaft beizutreten.

Was treibt Menschen dazu, sich zu Tausenden in behelfsmäßigen Nylon-Behausungen auf Kuhwiesen anzusiedeln, sich tagelang nur von Toast, Bier und Schmelzkäse zu ernähren und den stündlich fortschreitenden Übergang vom Menschen zum Tier als zu begrüßendes Erlebnis zu verbuchen?

Was nach crazy Ufosekte in Erwartung des letzten Tages klingt, ist vielmehr die Beschreibung eines allsommerlich wiederkehrenden Phänomens: der Festival-Saison. Von Mai bis Oktober kann man sich, vorausgesetzt das Freizeit-Budget lässt dies zu, jedes Wochenende auf einem anderen Acker dieser und benachbarter Republiken niederlassen.

Der Himmel auf Erden

Überall wird gerockt. Ob am Ring, See, im Park, unter Linden, im Grünen, in der Kaserne, im Moor – der Kreativität bei der Namensgebung scheinen bisweilen Grenzen gesetzt. Angebote findet man jedoch quer durch alle musikalischen Genres hindurch. Die subkulturelle Nische, der man sich zuordnet, kann noch so winzig und elitär sein – auch für sie gibt es ein jährliches Festival, um sich und seinesgleichen zu feiern.

So ein Festival muss für Sozio- und Anthropologen der Himmel auf Erden sein. Wo sonst kann man im Zeitraffer das menschliche Siedlungsverhalten untersuchen? Es entstehen kleine Zeltstädte mit Nachbarschaften. Und natürlich die daraus resultierenden Zwiste und Freundschaften.

Die Regeln des Zusammenlebens werden nicht nicht schriftlich fixiert, aber bei Übertretung gibt es trotzdem Sanktionen (Beispiel: “Pinkelst du mir nachts an mein Zelt, lass ich mir auch was einfallen!” oder ähnliches). Schlicht, ein Mikrokosmos mit höchst interessanter Dynamik.

Vom Großstädter zum Höhlenmenschen

So scheint es fast, als könne man auf diesen Veranstaltungen den Prozess der kulturellen Evolution von Höhlenmensch, Ackerbau, Viehzucht, Handel, Städtegründung, Hygiene und Demokratie im Rückwärtsraffer beobachten. Man ist der Natur ausgeliefert, ernährt sich schlecht und wäscht sich wenig.

Nach drei Tagen auf einem Festival-Zeltplatz bleiben einem von 10.000 Jahren Kulturgeschichte nur noch Hunger, Durst, Schlafbedürfnis und Spieltrieb. Letzterer wird von den verkleideten und mitunter bemalten Zeitgenossen ausgelebt, die am Abreisetag noch an die Hauptbühne gelehnt ein Nickerchen machen.

Es ist wohl gerade das Erlebnis des zusammen-draußen-Seins, des Ausnahmezustandes und der fehlenden Grenze zwischen Tag und Nacht, welches einen jedes Jahr aufs Neue die Strapazen auf sich nehmen lässt. Zeitlich und räumlich begrenzte Barbarei gegen Eintrittsgeld. Ein Spaß!

7 Kommentare zu “Unsere kleine Festiwelt

  1. Mich erinnern diese Beschreibungen auch an die Zeit, in der die Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet und an die Szenarien, die sich auf den Straßen nach den Partien zutragen, speziell nach gewonnen Spielen der DFB-Auswahl.

    Man hat den Eindruck: Hier entlädt sich was. Die Leute brauchen ein Ventil. Weil sie sonst so über die Maße zivilisiert sich verhalten müssen.

  2. Ich finde mich ganz wieder in diesem Text, danke! Auf der Seite der Leute, die sich dieses Treiben anschauen, mit geweiteten Augen, etwa ungläubig und am liebsten von ganz weit weg.

  3. Ich konnte das Festivalwesen noch nie vestehen. Seitdem ich hier in der Provinz jedes Jahr von einem Goa-Fest heimgesucht werde, noch weniger. Besonders erstrebenswert erscheint mir die Rückentwicklung zum Höhlenmenschen nicht zu sein. Der Text ist aber trotzdem schön geschrieben!

  4. zu viel zivilisation? soll das ein witz sein? wir leben ohnehin schon in einer unzivilisierten zivilisation — siehe die ganzen kriege, das ganze elend…

  5. schön und gut aber mich würde intzeressieren ob die autorin tatsächlic vor ort war oder einfach nur abgeschrieben hat — von den bildern, die halt so hier und dort rumgeistern von festivals

  6. Ja, die Autorin hat schon so manches Fesival besucht. Und natürlich wurde das ganze auch ein wenig überzeichnet. Aber glaub mir, nach drei Tagen Force Attack kommt man doch recht erschüttert nach Hause.

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