Umbruch in Spanien: Digitale Revolution und analoger Wahlkampf in der Provinz

Foto von Joerg Offer
Umbruch in Spanien: Während in der Hauptstadt der arabische Frühling durch die Straßen weht, gibt die Provinz ein anderes Bild ab. Hier kommt es zum Kulturclash zwischen digitaler Revolution und analogem Wahlkampf. Berliner Gazette-Autor Joerg Offer berichtet von vor Ort.

Schon seit endlosen Minuten scheppert diese unnachgiebige Blechstimme durchs Tal. Der Fahrer eines Lautsprecherwagens hat es sich an der Bushaltestelle, oben an der Dorfstraße, gemütlich gemacht. Es ist Mittag, also Zeit für ein paar Drinks an diesem weißen Kleinbus, der zwei Mal wöchentlich zwischen Haltestelle und Tankstelle, am Ortsausgang, Halt macht. Schnaps gibt es dort und Kaffee.

Im Stehen rasch drei Brandy gekippt, ein paar barsche Herrenwitze gekläfft und zum Abschluss einen Cortado, für den besseren Atem und die Fahrtüchtigkeit. Das ist das übliche Programm von Männern jeden Alters, bevor man sich wieder ans Steuer seines Lieferwagens setzt und weiteres Tagwerk ins trübe Auge blicken lässt. Seit einigen Wochen lebe ich in diesem spanischen 8500-Seelenstädtchen. Vierhundert Meter über dem Meer, keine Touristen, keine Industrie, keine besonderen Aufregungen, nur dieser 40 Kilometer lange Blick die Küste entlang. Angenehm. Verschlafen. Zutiefst spanisch. Unspektakulär gar.

Echte Demokratie – jetzt!

Zwanzig Kilometer weiter östlich hingegen, in der flirrenden Regionalhauptstadt hinter dem großen wolkigen Berg, wird seit einigen Wochen demonstriert. Ein wenig zumindest. Wie in vielen Städten des Landes. Democracia Real Ya, Echte Demokratie – jetzt! Eine zutiefst moderne, Twitter und Facebook gestützte jugendliche Revolution, auf der Suche nach einer gerechten Zukunft. Hier in der Region sind fast 45 Prozent der jungen Leute ohne geregelte Arbeit. Dafür überrollt ihr Protest jetzt mittels digitalem Lauffeuer ein völlig überraschtes Land.

Ein im Grunde sehr analoges Land, wie es den Anschein hat. Immer noch krächzt diese monotone Stimme aus den Lautsprechern und verkündet unablässig, das es wohl der Menschen Seelen für immer dem Fegefeuer entrisse, wenn am nächsten Sonntag, bei der so wichtigen Kommunalwahl, an der einzig richtigen Stelle das gottesfürchtige Kreuz gemacht würde. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass der amtierende Bürgermeister, seit fast dreißig Jahren im Amt, das größte irdische Glück für alle sei.

Von Milch und Honig war, so glaube ich, nicht unmittelbar die Rede. Aber fast. Ein Sozialist von altem Schrot und Korn. Sein ernster, riesiger Schädel starrt mich schon seit Tagen von Plakaten an. Ohne Lächeln. Es gibt kein einziges Foto, das den Bürgermeister lächelnd zeigen würde. Niemals. Obwohl er vor vier Jahren zuletzt 73 Prozenz aller Stimmen erhielt, also fast ein chinesisches KP-Wahlmandat. Beruhigend geklärte Verhältnisse.


Straßenschlachten in Madrid, YouTube

Endlich rollt der Parteienscherge mit seiner Propagandabeschallung weiter. Der Brandy würde seinen Heldenmut, auch die entlegensten Winkel mit der erlösenden Botschaft zu verkünden, sicher bestärken und der guten Sache zum verdienten Triumph verhelfen. Seit einigen Tagen schon habe ich Zeit mich an die parteipolitische Beschallung zu gewöhnen. Auch die konkurrierende konservative Partei, sowie ein Bündnis von patriotisch-regionalen Kräften, versucht sich am politischen Klangwerk der Straße. Keine noch so versteckte Laterne ohne Plakate, riesige Transparente allenthalben, Flugblätter in Briefkästen, aber vor allem Krach. Ständig. Vollkommen analoge Strategien beherrschen den Wahlkampf, trotz überall problemlos verfügbarem Internet.

Personenwahlkampf, auf der Straße

Festgefahrene Verhältnisse. Bewährt, erfolgreich, kein seltsamer Online-Schnickschnack. Im Netz ist der allmächtige Bürgermeister nur mittels der Gemeindewebsite präsent. Sonstige Aktivitäten sucht man vergebens. Einzig die konservative Opposition unterhält einen Blog und eine Facebookseite, befüllt mit anklagend weinerlichen Vorwürfen über Verfehlungen des Alleinherrschers. Also ein reiner Personenwahlkampf. Ohne Inhalte. Das Übliche: Die einen kreischen aufgeregt, „es kann so niemals weitergehen“, die anderen behaupten ruhigen Tones das Gegenteil, es müsse haargenau alles so laufen und keinen Deut anders. Das nennen sie dann auf Transparenten vollmundig den „Fortschritt“. Aus alter Gewohnheit.

Am Freitag vor der Wahl der Höhepunkt der politischen Fiesta: Autokorsi. Der Bürgermeister an der Spitze eines Fahnen und Ballon geschmückten, hupenden Trosses von gut einem Kilometer Länge. Alles auf die Straße gebracht, was in irgend einem verwandtschaftlichen Verhältnis oder sonstiger Abhängigkeit steht. Nach dreißig fruchtbaren Jahren im Amt, schließen sich wohl unzählige Freundschaften fürs Leben. Der konkurrierende Blechkreuzzug der Konservativen PP fällt deutlich kleiner aus, in der Opposition ist halt nicht gut Gefälligkeiten erteilen.

Genau das wird dem Alcalde, so nennt man hier die kleinen Fürsten, auch von juristischer Seite vorgeworfen. Klassische Vetternwirtschaft, undurchsichtige Grundstücksverkäufe, mehrfache Behinderung der Polizeiarbeit sowie der Justiz, Intrigen mitsamt Versammlungsverbot für die Opposition per kurzfristiger Verfügung. Die traditionelle Klaviatur kommunalen Intrigenspiels. Virtuos vorgetragen.

Nun könnte man herablassend und achselzuckend reagieren, abwinken und die Wichtigkeit des Ganzen dem eigenen Klopapierverbrauch gleichstellen. Irrtum. Ein spanischer Bürgermeister besitzt, grade in kleinen Kommunen, weitreichende Macht und Verantwortung. Er ist ein kleiner König. Und wird auch so bezahlt. Unser Alcalde hier erhält, alles in allem, ein fünfstelliges Monatsgehalt und schart eine „Verwaltungsregierung“ von zwanzig Menschen um sich. Bei 8500 Einwohnern wohlgemerkt!

Wahlkampfgetöse am heiligen Sonntag

Am Samstag vor dem großen Showdown bleibt es gespenstisch ruhig. Traditionell der „Tag der Besinnung“, ohne Wahlkampfgetöse. Die Demonstrationen der jungen digitalen Revolte sind für heute offiziell untersagt, finden aber letztlich doch statt, ohne Konsequenzen. Natürlich nicht hier im Campo. Ich schlendere durchs Örtchen, betrachte alle Plakate noch einmal sehr eindringlich, das feiste Antlitz des Mächtigen und auch das Profil des Gegenkandidaten. Eine Art Sparkassen-Filialleiter, etwa zwanzig Jahre jünger, etwas farblos und vor allem: Er lächelt sogar ein wenig! Ob das gut gehen kann?

Mein Blick wandert über vor kurzem tadellos geteerte Straßen, neu angelegte Bürgersteige und das im Herbst für viele Millionen erbaute öffentliche Sport- und Freizeitzentrum, samt Schwimmhalle. Unmittelbarer kann Kommunalpolitik nicht vor Augen geführt werden. „Seht her, ich liebe euch alle“, soll es sagen. Ganz handfest und steinern. Dergleichen bleibt hier sicher nicht ungehört.

Den Wahlsonntag verbringe ich als Stimmrechtloser am Meer, weit weg vom Getöse. Kinder, Großmütter, Touristen und auch ich, alle friedlich, fröhlich und erschreckend nüchtern, losgelöst vom Schrecken der Politik. Der Schnapsausschank im Kleinbus hat wohl ebenfalls Feiertag. Erst im Dunkeln kehre ich irgendwann zurück und erfahre durch die Medien, das die sozialistische Regierungspartei PSOE auf kommunaler Ebene landesweit abgestraft wurde. Langsam wird mir Angst und Bange um unseren Stadtvater, den guten Hirten.

Sollte die digitale Revolution auch hier die Verhältnisse auf den Kopf gestellt haben? Nicht auszudenken. Irgendwann in der Nacht dringt das mit Spannung herbeigezitterte Ergebnis zu mir vor. Natürlich auf digitalem Wege. Auf der Website einer spanischen Zeitung: Punktlandung. Exakt 73 Prozent der Stimmen. Wie vor vier Jahren. Demokratie eben. Weit nach Mitternacht teilen sich die Anhänger und Kostgänger unseres Bürgermeisters schließlich noch mit und verkünden die immens frohe Botschaft. Nach alter Väter Sitte natürlich. Ganz und gar analog. Mit einem sehr lautstarken Feuerwerk. Ob es gar exakt 73 Böllerschüsse waren? Lang lebe unser Alcalde!

17 Kommentare zu “Umbruch in Spanien: Digitale Revolution und analoger Wahlkampf in der Provinz

  1. ich habe selbst einige zeit in spanien gelebt und verfolge die ereignisse mit großem interesse. meine frage an herrn joerg offer: wie nehmen die bürger in der provinzstadt das alles wahr? haben sie vielleicht schon gelegeneheit gehabt, mit den menschen vor ort zu sprechen?

  2. Die Wahl des Bürgermeisters halten die meisten hier im Ort natürlich für vollkommen rechtfertigt. Was die Lage im Lande anbelangt, gestaltet sich das alles etwas schwieriger. Zum Einen bestärkt es viele Menschen in ihrem Autonomiegedanken, die auch hier sehr ausgeprägt sind. Sprich: Mehr Eigenständigkeit der Regionen führt zu besseren Zuständen, so die Haltung. Zum anderen ist die Situation der jungen Leute im Lande ja im Grunde tragisch. Man lebt von und in der Familie, protestiert aber gleichzeitig im Grunde gegen sie. Denn der regide Kündigungsschutz spanischer Arbeitnehmer, wie auch das ebenso geartete Mietrecht, macht es unmöglich einen langfristigen Job oder auch eine eigene Wohnung zu erhalten. Also demonstriert man in finaler Konsequenz gegen die eigene Familie, wenn man sich dem Aufbegehren auf den Strassen anschliesst. Ein grotesker Kreislauf. Der Vater besitzt im Idealfall den Job, mit allen Privilegien, den die Tochter oder Sohn bitter nötig hätten. Das gibt dem Ganzen eine sehr eigene Charakteristik. Aber Aggression liegt hier nicht in der Luft. Fast eher schon Fatalismus.

  3. Und noch eine Frage: Ist der analoge Wahlkampf tatsächlich etwas, was nur noch in der Provinz passiert oder hat es eher mit der Unterteilung Kommunalpolitik/ Landespolitik zu tun?

  4. @Joerg: danke für die schnelle antwort. wo genau in spanien bist du eigentlich?

  5. Wahlkampf und Internet: Super finde ich die Beschreibung der Webseite des Alcalde! Nur eine Frage: Warum lächelt er nie???

  6. @Redaktion #5: naja, ein vergleich zwischen hier und dem arabischen frühling, muss schon an der sehr heterogenen zusammensetzung der arabischen bewegungen scheitern. die art und weise der organisation lehnt sich schon sehr stark an alle digitalen bewegungen der letzten jahre an. egal ob arabien oder auch osteuropa… die motivation ist auch eine ähnliche: aufbegehren gegen eine verkrustete obrigkeit, ein undurchlässiges system, wirtschaftliche nöte etc… spanien ist eine demokratie, was wohl einen unterschied zu vielen totalitären staaten im arabischen rum ausmacht.das erwirken von meinungsfreiheit spielt also keine rolle.

  7. schönen Dank für de überraschende und detailreiche Erlebnisreportage, ein anderer Blick auf die Welt, die man nicht kennt…

  8. kein mediending unbedingt. aber auch noch keine massenbewegung der ganzen gesellschaft. ähnlich den arabischen potentaten ist man eher überrascht, das die als so unpolitisch und schweigsam bekannte konsumjugend nun die stimme erhebt und auf…begehrt. ein zunehmend innerfamiliärer konflikt, vor allem in grösseren städten. das wird zu brüchen und verschiebungen führen. insgesamt aber ein zu grosses gesellschaftliches thema und problem, als das man eine schnelle lösung erwarten könnte. was den analogen charakter des wahlkampfes betrifft, scheint es natürlich auch ein charakteristikum der provinz zu sein. allerdings zeigen die wahlergebnisse ja auch deutlich, das es weiterhin vor allem nur stimmenverschiebungen zwischen den beiden grossen parteien zu geben scheint. ein kometenhafter aufstieg politischer alternativen ist noch nicht zu sehen. erst einmal die bestehende regierung abwählen und schauen ob sich was ändert. mehr nicht. sie sollten eine partei gründen, die protestler. sonst verpufft das alles nur unter südlicher sonne.

  9. ich musste beim Lesen unwillkürlich an die jüngsten Bacardi-Werbungen denken: “Deine Offline-Freunde vermissen Dich.” oder “Ausgehen ist das neue Einloggen.”

  10. Toller Bericht, der auch schön zeigt, dass unsere digitales Bild von der Gesellschaft nur ein schöner Ausschnitt ist.

    @Redaktion #6: Analoger Wahlkampf geschieht doch überall noch sehr stark und wird nur durch digitale Mittel ergänzt. Oder?

  11. Ernste Gesichter auf Wahlplakaten wären hier manchmal eine schöne Abwechslung. :) Die Plakate deutscher Parteien kann man meiner Meinung nach oftmals nicht mehr ernst nehmen.

  12. Es ist ein arabischer Frühling in Europa, aber die westlichen Medien unterdrückn die Nachrichten, so dass es keine Massenbewegung wird. Sie haben Angst!Würden sie unzensiert berichten, wäre es in ganz Europa eine Massenbewegung, der Unmut ist überall!Eine andere Welt ist möglich, jetzt!

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