Im Reich des größeren Übels: Troikapolitik, Griechenland-Debatte und Ukraine-Konflikt

Verbündet sich Tsipras jetzt mit Putin? Der hierzulande skandalisierte Besuch des griechischen Premiers in Moskau verdeckt einen blinden Fleck: Troikapolitik, Griechenland-Krise und der Ukraine-Konflikt hängen miteinander zusammen. Zeit für eine Zwischenbilanz und einen Blick hinter die medialen Kulissen. Welche Sprache formt die öffentliche Wahrnehmung der Krise? Was passiert indes politisch im Hintergrund? Der Diskursanalytiker und Sozialwissenschaftler Jürgen Link kommentiert.

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Angela Merkel hat bei und nach ihren Gesprächen mit Alexis Tsipras in Berlin deutlich diplomatischere Töne angeschlagen als Wolfgang Schäuble. Dieser Unterschied im Ton zeigte sich auch gegenüber einem von mir initiierten Appell, den ich zusammen mit offenen Briefen und allen Signaturen zum jeweiligen Zeitpunkt vor den Gesprächen in Berlin an beide geschickt hatte: Das Schäuble-Ministerium stellte sich tot, während das Kanzleramt immerhin mit einem (unverbindlichen, standardisierten, aber leicht konkretisierten) Echo reagierte.

Nun könnte man natürlich unterstellen, es handle sich bei dieser Differenz im Ton um eine arbeitsteilige Vorstellung wie in Brechts “Gutem Menschen von Sezuan”: Merkel die gute Shen Te, Schäuble der böse Vetter Shui Ta (wobei bekanntlich beide nur verschiedene Masken der gleichen Person sind). Aber selbst wenn es so wäre, würden die beiden Masken eine für unsere Kultur fundamentale Differenz symbolisieren: die nämlich zwischen normal und anormal.

Schäuble symbolisiert – im Einklang mit der Mehrheit der Mainstreammedien – bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er die griechische Regierung (und insbesondere ihren Finanzminister Varoufakis) überhaupt nicht als normale demokratische Politiker anerkennt, sondern als je nach Lage dumme Schüler (etwa als er in der berühmten Pressekonferenz in Brüssel so tat, als habe er Varoufakis geduzt wie ein deutscher Vorarbeiter der 1960er Jahre seinen griechischen Gastarbeiter) oder als erpresserische Provokateure.

Wie dem auch sei, so trug der Ton beim Berliner Gipfel dazu bei, die Grexit-Drohung eine Zeitlang aus den Schlagzeilen zu nehmen – wie sich nach Ostern zeigte, war das aber wirklich nur ein Bühneneffekt, während in der auch von Merkel beschworenen „Realität“ der umgetauften Troika nicht die geringste Kompromissbereitschaft (Übergangskredit) zu erkennen ist.

Von Troikas Gnaden

Im Unterschied zur Regierung Tsipras, die deutschmedial ja stereotyp als „links-rechte“ (wenn nicht gar als „tiefrot-braune“ wie einmal in der FAZ) ausgeflaggt wird, galt die vorherige Regierung Samaras-Venizelos als durchaus normal. Das ist höchst paradox, da es sich nicht bloß ebenfalls um eine rechts-linke Regierung handelte (wie ja übrigens auch unsere eigene Groko), sondern um eine Notstandsregierung ohne eigene Souveränität und von Troikas Gnaden, die e-mails der Troika in Gesetze verwandeln musste und das auch tat.

Diese Troikapolitik war einer Brüningpolitik zum Verwechseln ähnlich – mit dem einzigen Unterschied, dass Brüning sich nicht direkt, sondern nur indirekt seine Notverordnungen von den Gläubigern diktieren ließ, also noch mehr Souveränität wahrte. Dennoch sieht es so aus, als ob ein Teil der Berliner und Brüsseler mediopolitischen Klasse das Projekt verfolgen würde, die alte, „normale“ (also troikahörige) griechische Regierung wieder an die Macht zu bringen. Das wäre dann ein mit friedlichen, also finanziellen, Waffen herbeigeführter „Regime Change“.

In aller Öffentlichkeit forderte etwa Martin Schulz von Tsipras, er solle die ANEL („Unabhängige Griechen“, also die Linksabspaltung von der Nea Dimokratia unter Kammenos) aus der Koalition werfen und stattdessen Potami („Fluss“ unter Stavros Theodarakis) hineinnehmen. Potami aber ist eine Partei, die die „Geldgeber auf keinen Fall vor den Kopf stoßen“ will und die sich insbesondere als radikal „prodeutsch“ geriert. So ist es nicht verwunderlich, dass Samaras (man lese den Insiderbericht von Michael Martens in der FAZ vom 31.3.2015) diesen Regime Change noch erweitern möchte: Zu einer Ganz-Großen-Koalition Theodorakis-Samaras-Venizelos-Ex-Pasok-Flügel von Syriza (unter Hinauswurf des angeblich oder wirklich „linksradikalen“ Flügels von Syriza).

Es ist offensichtlich, dass ein solcher Umschwung nur unter dem erpresserischen Druck der von der umgetauften Troika vertretenen Gläubiger erreichbar wäre. Er würde das Wählerpotential der jetzigen Regierung in vollständige Verzweiflung stürzen und gälte hinfort als Beweis, dass demokratische Wahlen absolut nichts ändern können. Offensichtlich sieht die Schäuble-Richtung ein solches Resultat mit ihrer legendären „Gelassenheit“.

Ukraine, Griechenland und Russland

Gute Beziehungen zu Russland als orthodoxem Bruderland sind sozusagen außenpolitisches „Urgestein“ in Griechenland. Entsprechende enge diplomatische Kontakte wären vor dem infolge der Ukrainekrise neuerlich ausgerufenen Kalten (und bereits Heißen) Krieg keine Sensation gewesen.

Jetzt aber passen solche Kontakte ausgezeichnet in die eben erwähnte „Anormalisierung“ der griechischen Regierung: Jetzt steht sie sogar im Verdacht des „Verrats am Westen“ als Ersatz für den früheren „Vaterlandsverrat“. BILD fragte in blutroten Riesenlettern: „Der Russe oder der Grieche – wer ist gefährlicher für uns?“ (mit Fotos von Putin und Tsipras und parallelen Listen von Untaten der beiden). Ja, wer ist gefährlicher: Achilleus außen oder das Trojanische Pferd im Inneren?

Der Kontext Ukraine-Griechenland ist für die Mehrheit der Mainstreammedien in Deutschland nur unter dem Aspekt „drohender Verrat Athens am Westen“ interessant (etwa durch Blockade weiterer Russlandsanktionen). Das ist nun wirklich unglaublich: Viel näher läge es doch, das Verhalten der internationalen Gläubiger, insbesondere des IWF und der EU, gegenüber der Ukraine und gegenüber Griechenland miteinander zu vergleichen.

Der IWF darf laut seinen Statuten keine Kredite an Länder geben, in denen Krieg, einschließlich Bürgerkrieg, herrscht. Tatsächlich bekommt die neue ukrainische Regierung Kredite in Zigmilliardenhöhe ohne jede harte Kontrolle der Verwendung. Während die Regierung Tsipras schon in ihren ersten hundert Tagen für oligarchische Zustände angeklagt wird, die ihre Vorgänger zu verantworten haben, herrscht in der Ukraine ganz offen ein allbekanntes Oligarchenregime, bei dem es angeblich nur darum geht, gute Oligarchen wie Poroschenko zu belohnen und böse Oligarchen nicht.

Wenn die bösen Oligarchen dann mal kurz durch ihre privaten Milizen Regierungsgebäude besetzen lassen, verlieren westliche Medien schlagartig ihre Neugier. Man stelle sich vor, solche Zustände herrschten in Athen und IWF und EU würden trotzdem keine Kredite sperren! Tatsächlich weigern sich die gleichen Geldgeber, dem Land, das den Begriff „Europa“ erfunden hat, einen Übergangskredit in einstelliger Milliardenhöhe zu gewähren, damit das dortige Schuldenproblem endlich grundsätzlich neu diskutiert werden kann.

Welcher Weg führt aus der Teufelsspirale?

Der eingangs erwähnte Appell hat inzwischen mehr als 1500 Signaturen aus allen deutschgriechischen und philhellenischen Lebenswelten. Er wurde bereits vor den griechischen Wahlen vom 25.1.2015 verfasst und verbreitet. Seine 10 Punkte waren prognostisch so formuliert, dass sie über lange Zeit gültig bleiben würden. Das hat sich in (teils erschreckendem Maße) bestätigt.

Der Appell ging davon aus, dass die unter dem Label „Troika“ implementierte bisherige „Rettungspolitik“ gegenüber Griechenland katastrophal gescheitert ist. Diese Politik bezeichnet der Appell als „Brüningpolitik“, um zu signalisieren, dass gerade in Deutschland sehr konkretes, wenn auch tragisches Wissen um diese Art Krisenpolitik existiert. Wissenschaftlich gesehen, geht es um eine sogenannte Schuldendeflationsspirale (Irving Fisher), wie sie nach übereinstimmender Ansicht der heutigen führenden Krisenökonomen exemplarisch von Brüning durchgeführt und von der Troika gegen alle Warnungen der Experten Griechenland trotzdem verordnet wurde: Mit dem gleichen Resultat einer katastrophalen Arbeitslosigkeit und einem „Tod des Konsums“.

Es gibt nur einen Weg aus dieser Teufelsspirale: einen großen Schuldenerlass (der, wie Varoufakis ständig wiederholt, technisch in verschiedener Form, darunter per Moratorien, Übergangskrediten und differenzierter Zinszahlung, realisiert werden kann). Obwohl es auf die Dauer nur diesen Weg gibt, wurde der neuen Athener Regierung verboten, überhaupt noch von Schuldenerlass zu sprechen. Man sagt, diese Regierung mache sich „lächerlich“, wenn sie beispielsweise an die Hitler-Erpressungs-Anleihe erinnere – tatsächlich ist eine Politik der verbotenen Wörter das allerlächerlichste.

Die mehr als 1500 UnterzeichnerInnen unseres Appells jedenfalls lassen sich keines der Wörter ihres Appells verbieten: Wir halten es gerade jetzt für dringend geboten, wieder und wieder daran zu erinnern, dass die Einäugigkeit der meisten deutschen Mainstreammedien beendet werden und endlich ein zweites, griechisches Auge geöffnet werden muss. Zu den letzten von der alten Regierung zugesagten „Reformen“ gehörte die Privatisierung der 14 profitabelsten griechischen Flughäfen, darunter des kontinentalen Drehkreuzes Thessaloniki, an die mehrheitlich der deutschen Regierung gehörende Firma Fraport.

Für Griechenland wäre das mittelfristig ein großes Verlustgeschäft, weshalb die neue Regierung es stoppen möchte. Es wäre die Pflicht demokratischer Medien, genau zu beobachten, ob die deutsche Politik gegenüber Athen sich etwa als Funktion von Fraport erweist. Gerade jetzt also gilt es, die mediale Quarantäne über Begriffe wie Brüningpolitik, Schuldenerlass oder Fraport zu durchbrechen. Wie man das erreichen kann?

Es liegt jedenfalls keineswegs an der zu großen Komplexität dieser Themen – im Gegenteil ist es sehr viel „komplexer“ (da unmöglich) zu erklären, wieso die Brüningpolitik der Troika, die zu prozentual größerer Arbeitslosigkeit geführt hat als Brüning selbst, und die als Resultat der „Rettung“ die Staatsschuld, bezogen auf das BIP, erhöht (!) hat – wieso diese Katastrophe „auf gutem Wege“ sein soll, wie Schäuble und Kollegen behaupten. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht (bei ZEIT-Online), dass ein bereits fertiges Interview mit mir „von oben“ untersagt wurde – ganz sicher nicht wegen zu großer Komplexität. Ich kann mich auch noch exemplarisch-allgemeinverständlicher ausdrücken als jetzt hier.

Wie der enorme Popularitätserfolg der Troikasatire im Format „Die Anstalt“ (ZDF) beweist, käme es einfach darauf an, dass Medienarbeiter mit „Namen“, am besten mit Star-Status, die Zivilcourage aufbrächten, gegen die impliziten „Orientierungen“ ihrer Redaktion das griechische Auge zu öffnen – und sich bei Stunk an die Konkurrenz zu wenden.

Anm.d.Red.: Jürgen Links Appell sammelt weiterhin Signaturen und kann hier unterzeichnet werden. Der Beitrag entstand auf der Basis von Fragen, die die Redaktion der Berliner Gazette stellte. Mehr zum Thema in unserem Dossier Europakrise. Die Fotos stammen von Magdalena Roeseler und stehen unter der Creative Commons Lizenz cc by 2.0.

2 Kommentare zu “Im Reich des größeren Übels: Troikapolitik, Griechenland-Debatte und Ukraine-Konflikt

  1. Wichtiger klarer Beitrag gegen den deutschmedialen Mainstream, der längst dabei ist, das Grundrecht auf Presse- und Meinungsfreiheit – Art 5 GG – zu verspielen. So wie die Troika – ‘die Institutionen’ – weder demokratisch legitimiert noch kontrolliert ist, erleben wir den Verlust demokratischer Substanz
    in der Berichterstattung über das Land, dem wir nicht zuletzt den
    Begriff der Demokratie verdanken.Erschütternd! Umso wichtiger, dass es Appell gibt und die Berichterstatttung der berlinegazette!

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