Transnationales Kulturarchiv

Wenn in deutschen Medien von Sprache und Globalisierung die Rede ist, geht es zumeist um die wachsende Dominanz des Englischen. Doch auch im Bereich der Sprache gilt, was Globalisierung im Ganzen charakterisiert, naemlich ihre gleichzeitige Tendenz zu Homogenisierung und Heterogenisierung, zur Vereinheitlichung und zur Ausdifferenzierung und Neuvermischung. Diese Tendenzen existieren gleichzeitig, ohne sich deshalb jedoch gegenseitig aufzuheben oder sich auszugleichen. Was dabei herauskommt, ist ein Spannungsfeld asymmetrischer Entwicklungen, an der auch die deutsche Sprache teilhat.

Globalisierung bedeutet zum Beispiel, dass Sprachen heute auf neuen Wegen zirkulieren, die Migration und Medien ihnen eroeffnet haben. So taucht die deutsche Sprache in dem Film >Guenese Yolculuk< [Reise zur Sonne] an unerwarteter Stelle auf. Der Film spielt in der Tuerkei und verbindet eine politische Geschichte ueber Repressalien gegen Kurden mit einer Geschichte ueber tuerkisch-kurdische Liebe und Freundschaft. Mitten in diesem Film, der von Istanbul nach Ostanatolien zieht und auf den ersten Blick wenig mit Deutschland zu tun hat, gesteht ein schuechterner Jugendlicher, der kein Deutsch spricht, seiner Freundin das erste Mal seine Liebe - auf Deutsch. Durch dieses scheue, von dem Jugendlichen heimlich auswendig gelernte >Ich liebe Dich< wird Deutsch fuer einen kurzen, bewegenden Moment die Sprache einer Liebe in Anatolien. Dieses Deutsch ist nicht gebunden an Nationalitaet und Ethnizitaet, sondern gerade ein Moment, in dem erdrueckende ethnische Zuschreibungen utopisch umgangen werden. Wer beim Stichwort Sprache und Globalisierung den Blick vom Englischen nicht abwendet, wird solche Momente und vor allem eine solche Assoziation des Deutschen - als utopische Sprache der Liebe - nicht finden koennen. Waehrend diese Liebeserklaerung nicht auf Ethnizitaet verweist, ist sie gebunden an Migration. Die Freundin wird auf Deutsch adressiert, denn sie ist eine der Rueckkehrerinnen aus Deutschland, eine so genannte Remigrantin. Durch diese Remigration ist auch die deutsche Sprache mitgewandert, und so wie das Tuerkische und Kurdische trotz aller Anfeindungen unumkehrbar eine neue Heimat in Europa gefunden haben, so ist auch Deutsch sozusagen zu einer tuerkischen und kurdischen Sprache geworden. Solch ein Phaenomen wirft ein neues Licht auf den Zusammenhang von Sprache, Ethnizitaet und Identitaet. Es unterstreicht, dass Sprache und Identitaet durchaus einen Bezug zueinander haben, dass jedoch deshalb noch lange nicht festgeschrieben ist, welche Sprache zu welcher Identitaet in welcher Beziehung steht und welche Identitaeten durch Sprachen ueberhaupt produziert werden. In der Literatur aeussert sich dieser komplexe Zusammenhang auf vielfaeltige Weise durch die Zunahme mehrsprachiger Formen und Konstellationen. So verarbeitet der Schriftsteller Galsan Tschinag die Geschichten seines lange als Minderheit in der Mongolei lebenden Nomadenstammes, der Tuwi, auf Deutsch. Seine Romane konstituieren ein einmaliges literarisches Archiv des kulturellen Gedaechtnisses der Tuwi, jedoch tun sie dies auf Deutsch. Was bedeutet es, dass eine rein muendlich existierende Tradition in einer zentralasiatischen Minderheitssprache in die geschriebene Literatur uebergeht in einer vollkommen unverbundenen zentraleuropaeischen Sprache? In diesem Fall ist die Globalisierung des Deutschen das Resultat politischer Topographien. Tschinag kam in den sechziger Jahren als Student in die sozialistische Bruderrepublik DDR und wurde dort allmaehlich zu einem deutschsprachigen Autor und blieb es auch nach seiner Rueckkehr in die Mongolei. So nomadisiert die deutsche Sprache literarisch durch die Welt und wird zum transnationalen Kulturarchiv. In Deutschland jedoch hatte und hat man immer noch Schwierigkeiten Globalisierungen der deutschen Sprache und Literatur als solche wahrzunehmen und anzuerkennen, insofern sie bedeuten, dass die deutsche Sprache kein exklusiv deutscher Besitz ist und dass es auch nicht bloss um eine >Bereicherung< der deutschen Sprache und Kultur geht, sondern um Rekonfigurationen, die grundsaetzliche Fragen ueber Sprache, Kultur, Ethnizitaet und Identitaet stellen. Es war sicher kein Zufall, dass ich die erste Gelegenheit, mich mit solchen Fragen anhand deutschsprachiger Minderheitenliteratur zu beschaeftigen an einer Universitaet in New York fand. Als ich wieder in Deutschland war und um einen Schein fuer meine germanistischen Hausarbeiten aus den USA bat, mochte der zustaendige Dekan eine Arbeit ueber Emine Sevgi Oezdamars Erzaehlungen >Mutterzunge< und >Grossvaterzunge< nicht so recht als deutsche Literatur anerkennen. Er war nicht in der Lage, diese Texte als Beispiele literarischer Einwanderung und Neukonfiguration der deutschen >Muttersprache< zu sehen, auch wenn sie auf Deutsch verfasst waren. Diese und aehnliche Erfahrungen bewegten mich dazu, die Migration meiner Familie transatlantisch zu wiederholen. So gehoere ich zu einer wachsenden Zahl von mehrsprachigen Gastarbeiterkindern, die zu Germanistinnen geworden sind und sich in den USA der Forschung der deutschsprachigen Kultur und Literatur widmen.

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