Terror im Hintergrund: Der Film “Zama” und die Schlüsselfragen der “conditio latinoamericana”

Lateinamerika, die letzte Dekade des 18. Jahrhunderts: Don Diego de Zama sehnt sich nach Europa, einen Ort an dem er noch nie gewesen ist, der Ort aus dem seine Vorfahren stammen. Für ihn der Hort der “Zivilisation”. Gleichzeitig sind es die europäischen Kolonialherren, die den Kontinent terrorisieren. “Zama”, der jüngste Film der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel, behandelt die wichtigen Schlüsselfragen der “conditio latinoamericana”. Die Filmkritikerin Cristina Nord kommentiert.

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Sehnt man sich nach Schnee, obwohl man nie welchen gesehen oder berührt hat, obwohl die größte Kälte, die man je erlebt hat, die ist, die tropischer Sturzregen mit sich bringt? In einer Szene von „Zama“, Lucrecia Martels neuem Spielfilm, preist die Hauptfigur, Don Diego de Zama (Daniel Giménez Cacho), die Schönheit des Schnees, den Reiz einer weißen, unberührten Oberfläche, und er schwelgt in einer Fantasie von eleganten russischen Damen in Pelzen.

Seine Erzählung ist so anschaulich, dass man den Atemhauch vor den Gesichtern der Damen zu sehen und den Flausch ihrer Pelze zu fühlen glaubt. Doch Don Diego de Zama hat Europa oder Russland nie betreten, er ist ein criollo, ein in der südamerikanischen Kolonie geborener Beamter der spanischen Krone, und während er vom Schnee erzählt, rinnt ihm der Schweiß übers Gesicht.

Ungewohntes Setting

Für Martel ist Zama das erste period piece ihrer Karriere. Die argentinische Regisseurin wurde 2001 mit „La ciénaga“ international bekannt. „La niña santa“ und „La mujer sin cabeza“ folgten; seit „La mujer sin cabeza“ sind fast zehn Jahre verstrichen. Eine Zeit, in der sich Martel mit dem Vorhaben trug, Héctor Germán Oesterhelds Science-Fiction- Comic „Eternauta“ fürs Kino zu adaptieren. Sie ließ den Plan fallen.

Als sie auf Antonio Di Benedettos Roman „Zama“ (1956) stieß, fasste sie den Entschluss, ihn in einen Film zu verwandeln. Neuland bedeutet dies nicht nur wegen des für ihr Oeuvre ungewohnten historischen Settings, das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, sondern auch, weil bisher Salta, die Region in Nordargentinien, in der die Regisseurin aufwuchs, Schauplatz ihrer Filme war.

„Zama“ dagegen ist in einem Gebiet angesiedelt, das heute zu Paraguay gehören würde: ein Außenposten der spanischen Kolonie, an einem Fluss gelegen, es gibt Dünen, schroffe Sandsteinformationen, Erdpyramiden. Nachdem die ersten zwei Drittel des Films verstrichen sind, bewegt sich „Zama“ von dem Außenposten und dessen unmittelbarer Umgebung fort und erkundet – teils in spektakulären Totalen – ein sumpfiges, von Palmen bestandenes Gebiet. Als Augenzwinkern lässt sich lesen, dass Don Diego de Zama, der seine Versetzung mit aller Macht und ohne jeden Erfolg herbeiwünscht, nicht nach Buenos Aires möchte, sondern nach Lerma, eine Stadt in der Provinz Salta.

Das Kino hat keinen Begriff von Universalität

Sich mit den geographischen und topographischen Details von „Zama“ zu befassen, liegt insofern nahe, als das Regionale für Martel einen besonderen Reiz besitzt, wie sie in einem Interview mit José Teodoro im „Film Comment“ unterstreicht: „Ich glaube, das ist eine Welt, von der bisher noch kaum erzählt wurde. Indem ein Film sich für das Regionale interessiert, gewinnt er eine Besonderheit – auf der visuellen Ebene wie auf der der Geräusche. Mir scheint, dass im Kino ein Begriff von Universalität nicht existiert.“

Es geht in „Zama“ – und zwar auf allen Ebenen – um Dezentralisierung. Die Hauptfigur des Films sitzt an dem Außenposten fest, und je mehr sie in die Wege leitet, um fortzukommen, umso aussichtsloser ist dieser Wunsch. Martel, in Salta großgeworden, verfilmt einen Roman von einem Schriftsteller, der in Mendoza lebte. Beides ist weit weg von der Metropole Buenos Aires.

Buenos Aires wiederum ist weit weg von Europa. Trotz dieser Entfernung richteten sich zu Kolonialzeiten und auch danach die Projektionen, das Begehren, die Einbildungskraft auf Europa, die criollos blickten sehnsüchtig über den Atlantik nach Madrid oder Paris und träumten von Schnee, statt sich auf die Subtropen einzustellen.

Wirklichkeit anerkennen

Viele lateinamerikanische Romane und Essays kreisen um diese tief sitzende Widersprüchlichkeit. Einer der Schlüsseltexte der argentinischen Nationalliteratur, „Facundo“ (1845) von Domingo Faustino Sarmiento, feierte den Sieg der Zivilisation, der europäischen Ideen, über das als barbarisch wahrgenommene Hinterland. Bei Sarmiento war die Dichotomie von Zivilisation und Barbarei intakt, es war klar, wer auf welcher Seite stand, und man kann den Roman als ein südamerikanisches Pendant zum nordamerikanischen frontier-Mythos verstehen.

Ein Jahrhundert später, bei Di Benedetto wie auch bei anderen Autoren, hat sich die Perspektive verschoben. Der Kubaner Alejo Carpentier zum Beispiel schrieb mit „El reino de este mundo“ (1949) und „Los pasos perdidos“ (1953) fast zur selben Zeit wie Di Bendetto Romane, die die spezifische lateinamerikanische Wirklichkeit mit ihren indigenen, afrikanischen und europäischen Anteilen anerkennen wollten, statt sich kulturellen oder intellektuellen Moden und Modellen aus Europa zu verschreiben.

Dies ist ohnehin zum Scheitern verurteilt, wobei sich die Vergeblichkeit des Unterfangens umgekehrt proportional zur Menge und zur bis heute anhaltenden Hartnäckigkeit der Versuche verhält. Schlimmer noch: Die, die im Namen der Zivilisation agierten, taten dies mit einer Gewalttätigkeit, die sie zu Barbaren machte, was sie wiederum auf die Indígenas und die Schwarzen rückprojizierten.

Unvertraut und irritierend

Das Faszinierende an Martels Film ist nun, dass die Regisseurin all diese Schlüsselfragen der lateinamerikanischen conditio in die Mikrostruktur, in die Bilder und die Geräusche ihres Filmes hineinverlagert. Gemeinsam mit Rui Poças, dem Kameramann, und Guido Berenblum, dem Tondesigner, legt sie eine große Sensibilität an den Tag. Berenblum arbeitet virtuos mit akusmatischen Geräuschen, wodurch er Gesehenes und Gehörtes in eine unvertraute, irritierende Beziehung setzt. Zahlreiche Vögel und Insekten singen, trillern, zirpen hors champs, Dialoge oder innere Monologe gleiten wie Echos von irgendwoher durch die Szenen.

Poças wiederum komponiert so, dass die Bilder ihr Zentrum verlieren. Oft kann man nicht gut erkennen, was im Hintergrund geschieht, weil es im Unscharfen oder im Halbdunkel liegt. Zugleich aber merkt man, dass dieses Geschehen wichtiger sein könnte als das, was im Vordergrund zu sehen ist. Viele Szenen spielen in dunklen, verschachtelt wirkenden Innenräumen, die sich, statt dem Blick Halt zu geben, nach hinten oder zur Seite – durch Türen oder Fenster – auffalten; in anderen Szenen sind die Bilder so angeordnet, dass viele Elemente in sie hineindrängen, auch dies etwas, was den Überblick schwierig macht.

Möbel stehen im Hof vor der Tür, ein prächtiges Bett vor einer Holzhütte; Tiere besetzen Bilder und Räume, ein Lama, ein Pferd, ein Hund, eine Herde Ziegen. Oder Menschen, die normalerweise diskret hors champs ihren Arbeiten nachgehen: die Diener oder Sklaven. In „Zama“ beanspruchen sie Fläche im Bild und lenken vom Zentrum des Geschehens ab. Aber was ist das Zentrum? Das Geplänkel zwischen Doña Luciana (Lola Dueñas) und Don Diego de Zama – oder nicht doch die angedeutete, nicht auserzählte Lebensgeschichte der Sklavin Malemba?

Die Gewalttätigkeit derer, die die spanische Krone vertreten, setzt Martel nicht direkt ins Bild; wie sehr sie den Alltag prägen, wird trotzdem spürbar, wenn abgeschnittene Ohren um den Hals eines Gouverneurs baumeln oder die Rede von Malembas versengten Fußsohlen ist. Dann wieder gibt es Momente in „Zama“, in denen das koloniale Unterfangen beinahe wie eine Groteske erscheint: wie ein langsamer, trauriger Slapstick in zu warmen Kleidern und unter stinkenden, schmutzigen Perücken.

Anm. d. Red.: Lesen Sie in der Berliner Gazette auch Krystian Woznickis Beitrag über “Zama”: Hinter dem Rücken des Kolonialherren. Die Bilder sind Filmstills aus “Zama”. Der Text liegt in gedruckter Form im “Filmblatt 12” (Grandfilm) vor.

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