Tage der Gelassenheit

In meinem Alltag wimmelt es von Beschleunigungszwaengen. Der Druck der Zeit ist omnipraesent und er setzt ein am sehr fruehen Morgen, um kurz vor vier. Gewohnheitsmaessig stelle ich meinen Wecker auf 4.05 Uhr, doch ich scheine von der Idee absorbiert zu sein, dem Weckerklingeln zuvorzukommen: In aller Regel werde ich zehn Minuten vor der geplanten Zeit wach – und zwar hellwach! Es reisst mich foermlich aus dem Schlaf, der zwar tief und gut, aber mit knapp fuenf Stunden eher kurz ist. Jeden Morgen dasselbe: Ich kann es nicht erwarten, den Herausfoderungen des Tages zu begegnen und mich, nach hocheffizient beschleunigter Morgentoilette, an den Schreibtisch zu setzen. Der ganze lange Tag ist strikt durchgeplant, zeitstreckenweise minutioes. Auf Gaengen durch unsere Wohnung frage ich mich stets, was ich unterwegs noch erledigen koennte: vielleicht – sprichwoertlich >by the way< – die in der Ecke liegende Wollmaus entfernen, der Huendin frisches Wasser in den Napf fuellen?

Bislang befinde ich mich in jenem Stadium, in dem ich Beschleunigungszwaengen nachgebe. Ich tue dies gewiss nicht unreflektiert, jedoch kommt es mir vor, als liessen sich zahlreiche Alltagshandlungen immer noch ein Stueckchen effizienter, ein Quaentchen schneller erledigen. So lange ich dieser Ueberzeugung anhaenge, werde ich wohl so weitermachen. Handelte ich anders, haette ich das Gefuehl, meinen Alltag nicht bewaeltigen zu koennen. Das Heimtueckische daran: Hinter diesem Handlungsmuster verbirgt sich eine Steigerungsspirale, denn der relative Erfolg meiner Alltagsabwicklung forciert die Neigung, immer mehr immer schneller zu erledigen.

Woher ruehren diese Beschleunigungszwaenge? Eine Antwort darauf ist schnell gegeben: Zeit ist kostbar, weil sie eine limitierte Ressource ist. Unser aller Leben ist endlich, das steht fest. Je schneller wir leben, desto mehr Handlungen koennen wir in unsere begrenzte Lebenszeit pressen. Anders ausgedrueckt: Je schneller wir leben, desto weniger versaeumen wir; rein rechnerisch faellt bei einem schnellen Lebensstil die Kluft zwischen [tatsaechlich] Realisiertem und [potentiell] Realisierbarem geringer aus als bei einem langsamen Lebensstil. Dass das eine durchaus verlockende Vorstellung ist, liegt auf der Hand.

Fuer mich als Nachwuchswissenschaftlerin spielt Zeit eine zentrale und zugleich hoechst ambivalente Rolle: Auf der einen Seite tun nicht nur, aber eben auch Nachwuchswissenschaftler gut daran, die Zeit nicht aus dem Auge zu verlieren – ein einziges exemplarisches Stichwort: >Hoechstbeschaeftigungsdauer bis zum Abschluss der Promotion< –, auf der anderen Seite ist unsere Arbeit durch ein hohes Mass an Zeitvergessenheit [zumindest auf Zeit] gekennzeichnet. Wer ein Promotionsvorhaben verfolgt, verbringt einige Jahre seines Lebens mit diesem Projekt. Nicht selten gilt: Durchdachte wissenschaftliche Ergebnisse beduerfen langer Zeit. Hier ticken die Uhren anders als in manch anderen Lebensbereichen. Sie ticken tendenziell langsamer. Apropos Uhrenticken: Unsere Uhren moegen – technisch betrachtet – identisch ticken. Auf unser [inneres] Zeiterleben trifft dies gewiss nicht zu. Zeiterleben haengt nicht nur davon ab, in welchem Kontext Zeit [v]erlebt wird, sondern Zeiterleben und mithin auch Zeitpraktiken sind eine sehr subjektive Angelegenheit. So ist davon auszugehen, dass manche Menschen, beispielsweise religioese, Zeit anders erleben und folglich auch anders mit Zeit umgehen als Nichtreligioese. Erinnert man sich an Max Webers Abhandlung ueber die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus, so liegt die Vorstellung nahe, dass Protestanten im Allgemeinen schneller leben [muessen], sich vielleicht auch getriebener fuehlen als etwa Katholiken. Diese Hypothese lag einer meiner ersten Zeitstudien zugrunde. Im Rahmen der Datenerhebungen erfasste ich konsequenterweise auch die Konfessionszugehoerigkeit der von mir befragten Personen. Das ueberraschende Ergebnis: Die [statistisch signifikanten] Unterschiede hinsichtlich einer Vielzahl von den Befragten zu bewertenden zeitthematisch relevanten Aussagen hielten sich in engen Grenzen. – Woran mag dies liegen? Ich schaetze, dass die reine Abfrage der Konfessionszugehoerigkeit kein ausreichender Indikator fuer echte Religiositaet – mehr? – ist. Wer heutzutage Protestant ist, ist nicht notwendigerweise glaeubiger und praktizierender Protestant. Seine Haltung zu Arbeit und Leben mag sich in der Folge kaum unterscheiden von jenen, die konfessionslos sind. Das ist wohl kaum eine Behauptung, die die Kirche[n] erfreut, aber ich fuerchte, sie ist empirisch tragfaehig. Um den Einfluss echter Religiositaet auf Zeiterleben und Zeitpraktiken untersuchen zu koennen, muss meiner Meinung nach der [eventuell] erklaerenden Variablen Religiositaet mehr Aufmerksamkeit zuteil werden, als dies in den meisten Studien – meiner eigenen eingeschlossenen – der Fall ist. Auf dem Trockendock der Theorie gehe ich davon aus, dass genuine Glaeubigkeit zu einer lebenszeitlichen Gelassenheit verhelfen kann, von der wir alle traeumen.

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