Paradoxes Politikum: Warum die System-Relevanz von Care-Arbeit nicht länger zu verschleiern ist

Angela Merkel hat sich in ihrer großen TV-Ansprache am 18. März bei all jenen bedankt, die “den Laden am Laufen halten”. Der “Laden” ist bei dieser inzwischen zum geflügelten Wort gewordenen Wendung nichts weniger als die Nation, die Wirtschaft, das System. Wie nun im größeren Maßstab deutlich geworden ist, spielt hier Care-Arbeit eine besonders große Rolle. Die Wissenschaftlerin, Aktivistin und Kuratorin Christine Braunersreuther ergründet, warum es erst jetzt zu dieser Einsicht kommt und welche politischen Folgen sie haben könnte. Ein Interview.

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In der ‘Corona-Krise’ wird unverhofft all jenen Wertschätzung zu teil, die sonst wenig Beachtung finden und entsprechend unter miserablen Bedingungen arbeiten müssen.

Ja, das große DANKESCHÖN… Ich weiß nicht, ob in Deutschland auch um 18 Uhr von den Balkonen geklatscht wurde für die Systemerhalter*innen. Hier hat das langsam aufgehört, weil von den Betroffenen und Unterstützungsverbänden viel Kritik kam an dieser immateriellen Anerkennung. Die ist sehr typisch für Care-Arbeit. Care-Arbeit ist nämlich nicht nur Arbeit aus Liebe, sondern sehr häufig Arbeit gegen Liebe – und sonst nichts oder nicht viel. Wenn Care-Arbeit nicht komplett unbezahlt im „Privatsektor Haushalt“ stattfindet, dann ist sie – egal in welchem Beruf – prekär bezahlt. In der medizinischen Pflege ebenso wie in der Kinderbetreuung oder eben der 24-Stunden-Hausbetreuung.

Unter den Bedingungen des aktuell gegebenen ‘Quarantäne-Nationalismus’ ist der Lob irreführend. Der Quarantäne-Nationalismus setzt auf eine strikte Ausgrenzung aller, die nicht zum national begründeten Wir gehören. Doch wo kommen eigentlich die ganzen ArbeiterInnen her, die im Care-Sektor von Ländern wie Österreich und Deutschland tätig sind und “den Laden am Laufen halten”?

Die 24-Stunden-Betreuer*innen, über und für die ich sprechen kann, kommen sowohl in Deutschland als auch in Österreich großenteils aus Osteuropa bzw. Südosteuropa. Ihre genauen Herkunftsorte sind regional unterschiedlich. Einerseits hängt es davon ab, welche Länder grenznah erreichbar sind. So kommen in Berlin die meisten Betreuer*innen aus Polen, in Wien aus der Slowakei (übrigens auch viele medizinische Pfleger*innen in den Kliniken), in der Steiermark gibt es Betreuer*innen aus Slowenien. Frauen aus Bulgarien und Rumänien sind dagegen überall vertreten, aber sie kommen aus verschiedenen Orten. Das hat meistens mit der Mundpropaganda unter Nachbar*innen zu tun, wie Agenturen oder Personen weiter empfohlen werden. Nur wenige Betreuer*innen kommen aus Staaten, die nicht dem Schengen-Raum angehören. Die anderen dürfen als EU-Bürger*innen aufenthaltsrechtlich hier arbeiten, können aber mit ihrer Tätigkeit kein Recht auf Daueraufenthalt erwirken, weil sie transnational tätig sind – also ihren Wohnsitz im Ausland behalten.

In der Süddeutschen Zeitung etwa heißt es, “in ganz Europa gefährdet die Pandemie die Versorgung alter Menschen zu Hause, weil Pflegekräfte nicht mehr zu ihnen können – oder das jeweilige Land fluchtartig verlassen haben Richtung Heimat.”Uns wundert daran zweierlei: Erstens, die Abwälzung der politischen und wirtschaftlichen Verantwortung in aktuellen Problemlagen auf die Pandemie. Zweitens, dass hier die Vorgeschichte ausgeblendet wird. Kurz gesagt, ist die aktuelle Care-Krise nicht vor allem darauf zurückzuführen, dass der Schengen-Raum als “grenzenlose” Zirkulationssphäre konstruiert worden ist, die die Bewegungen von Waren begünstigt, während sie die Bewegungen von Menschen konditioniert. Und zwar dahingehend, dass sie als mobile Arbeitskräfte so prekarisiert werden, dass Sektoren wie der Pflegebereich kurz und klein gespart werden können. Anders gefragt, lenkt die aktuelle Debatte nicht vom eigentlichen Problem ab, nämlich der neoliberalen Umstrukturierung, die das Schengen-System ermöglicht?

Eigentlich müsste an dem Zitat noch eine dritte Sache wundern. Die SZ hätte ja auch schreiben können: „Hurra, endlich können die alten Menschen in Osteuropa wieder durch ihre Angehörigen betreut werden.“ Tut sie aber nicht – und merkt selbst vermutlich noch nicht einmal, dass sie damit einem klassischen balkanistischen Stereotyp aufsitzt. Den Begriff Balkanismus hat Maria Todorova für die spezielle Form der rassistischen Abwertung der Regionen und der Menschen Osteuropas geprägt. Aber wie man sieht, ist er kaum im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Wie sonst könnte es passieren, dass einer renommierten Tageszeitung nicht auffällt, dass sie die alten Menschen in der Hälfte Europas einfach vergisst und diese Ländern nur als Herkunftsländer der Betreuer*innen, also der Dienstleister*innen, betrachtet?

Kein Wunder, dass diese Form der transnationalen Auslagerung von Care-Arbeit wissenschaftlich als Neokolonialismus bezeichnet wird. Umgangssprachlich wird oft auch von „neuer Sklaverei“ gesprochen. Diese Bezeichnung finde ich jedoch unangemessen, da sie die rassistischen Gräueltaten der Sklaverei euphemistisch ausblendet. Doch was den Systemen ähnlich ist, ist dass sie die Menschen hinter der Dienstleistung vergisst. Wenn in Zusammenhang mit Care-Arbeit von Vulnerabilität gesprochen wird, dann ist damit meist nur die Verletzlichkeit der Betreuten gemeint. Von den Betreuer*innen will man nur, dass sie ein großes Herz und viel Geduld haben – über ihre Verletzlichkeit macht man sich aber keine Gedanken. Das liegt nicht allein im Balkanismus begründet. Sondern auch maßgeblich im Wesen der Care-Arbeit: als unsichtbare Arbeit bezeichnet, wird sie von „guten Geistern“ verrichtet.

Das beantwortet eigentlich auch schon beide Punkte eurer Verwunderung: Die Problemlage lässt sich nur deshalb so leicht auf die Pandemie abwälzen, weil sie vorher völlig unter dem Deckel des prekären aber doch laufenden Systems gehalten wurde. Und natürlich hat das eine Geschichte – viele sogar. Schön ist die vom ehemaligen österreichischen Bundeskanzler, der seine Schwiegermutter von einer irregulären Kraft aus der Slowakei betreuen ließ. Das wurde 2006 investigativ aufgedeckt. Das Hausbetreuungsgesetz, das die reguläre Arbeit von 24-Stunden-Betreuer*innen regelt, wurde 2007 verabschiedet.

Das Schengen-System, dass das ununterbrochene Fließen Waren, Rohstoffen, Daten und Menschen gewährleisten soll, trägt maßgeblich zu der Illusion vom “reibungslosen Kapitalismus” bei. Eine Illusion also, die nicht zuletzt die Entwertung von Care-Arbeit möglich macht. Schließlich ist dort, wo alles mehr oder weniger von selbst läuft, keine menschliche Arbeit erforderlich, wenigstens aber kann sie als nicht systemrelevant gelten. Wenn sich nun im Moment der ‘Corona-Krise’ genau diese Illusion als ebensolche zu erkennen gibt, dann liegt das auch daran, dass Länder wie Ungarn, aus Gründen der nationalen Sicherheit, die Durchreise verweigern – und Care-ArbeiterInnen nicht mehr wie gewohnt von beispielsweise Bulgarien mit dem Bus nach Österreich kommen. Um das Problem zu umschiffen, werden nun eigens Flugzeuge gechartert – das Hindernis für den ungestörten Fluss soll also überflogen werden. Auf diese Weise wird plötzlich sehr viel mehr investiert und augenscheinlich auch sehr viel dafür getan, dass die Arbeitsbedingungen “stimmen”. Doch stellt sich die Frage: sind die Arbeitsbedingungen jetzt tatsächlich wunschgemäß optimiert worden?

Nein, die Bedingungen sind kein bisschen verbessert worden. Von Optimieren sind wir hier weit entfernt, selbst wenn großzügig verlautbart wird, dass Flüge und Unterkunft bezahlt werden. Von den Betreuer*innen wird erwartet, dass sie vor Dienstbeginn zwei Wochen in Quarantäne verbringen. Unbezahlt, in 3-4-Bett-Zimmern mit teilweise fremden Menschen. Danach noch einmal zwei Wochen Quarantäne in ihren Herkunftsorten. Das sind vier Wochen unbezahlte Arbeit. Dafür bekommen sie einen Bonus von 500 €. Das ist noch weniger, als sie sonst im Monat verdienen. Der Durchschnittsverdienst einer Betreuer*in liegt bei 1.000 €, wovon jedoch knapp 300 € an Sozialversicherung abgehen. Abgesehen davon, dass sich niemand fragt was passiert, wenn sich in einem der Quarantäne-Hotels das Virus ausbreitet.

Diese Unterkünfte werden von der Wirtschaftskammer bezahlt. Das ist keine so großzügige Leistung, wie immer getan wird. In Österreich arbeitet ein Großteil der regulär tätigen Betreuer*innen auf selbständiger Basis. Unter den EPUs (Einpersonenunternehmen) machen sie die größte Gruppe aus. Sie sind damit auch für den höchsten Teil der Wirtschaftskammerbeiträge verantwortlich, für die sie sonst kaum Leistung erhalten (einige Bundesländer wie die Steiermark bilden hier eine Ausnahme). Die Betreuer*innen haben sich ihre Unterkunft damit längst selbst bezahlt.

Dass die Betreuer*innen meist selbständig tätig sind, ist der Regelung durch das oben erwähnte Hausbetreuungsgesetz zuzuschreiben. Selbständigkeit hat den Nachteil, dass dafür keine arbeitsrechtlichen Standards anzuwenden sind. Anders wäre der Beruf nicht möglich: über Wochen hinweg Arbeitszeiten von 22-24 Stunden ohne Ruhetage…. In Deutschland gilt diese Regelung nicht, dort müssen Betreuer*innen von den Familien angestellt werden. Da kommt es dann zu so absurden Dienstzeiten wie: 7:00 – 7:30 Frühstück herrichten. 7:30 – 8:00 Pause, 8:00 – 8:30 Frühstück abräumen und Zähne putzen. 8:30 – 9:00 Pause usw., damit die 40-Stunden-Woche nicht überschritten wird. Sarkastisch ausgedrückt: da ist wirklich nicht mehr sehr viel Reibungsfläche im neoliberalen Kapitalismus. Die vielen irregulär Arbeitenden sind da noch gar nicht erwähnt. In Deutschland ist – geschätzt – die Zahl der irregulären Arbeitsverhältnisse in diesem Care-Sektor wesentlich höher, da viele Familien nicht bereit oder ökonomisch in der Lage sind, Betreuer*innen anzustellen.

Ebenfalls auffällig an der aktuellen Medienerzählung ist, dass es heißt, dass Care-ArbeiterInnen “nicht zur Arbeit kommen können” (also passiv betroffen sind). Sollte nicht auch die Frage gestellt werden, ob sie denn überhaupt unter den aktuellen Bedingungen zur Arbeit kommen wollen?

Dass das nicht passiert, liegt ebenfalls in der entmenschlichten Sicht auf sie als unsichtbare Dienstleister*innen begründet – und ist somit fast logisch. Die Menschen hinter den Dienstleister*innen werden nur im persönlichen Kontakt gesehen – also wenn die Rumänin nett zur dementen Oma sein soll. Zum Teil werden in diesem persönlichen Kontakt auch die Bedürfnisse der Betreuer*innen wahrgenommen. Institutionell wird die Existenz solcher Bedürfnisse im kapitalistischen Care-Markt ausgeblendet. Anders könnte und würde dieses prekäre System nicht funktionieren.

Genauso fragt niemand, ob die Care-Arbeiter*innen zur Arbeit kommen können. Hauptsache, die internationale Care-Kette funktioniert. Doch was ist mit den persönlichen Care-Ketten der Betreuer*innen? Was tun sie, wenn ihre Kinder keine Schule haben und sie nachmittags nicht zur Großmutter gehen dürfen, weil die zur Hochrisikogruppe gehört? Werden die in einen Flieger steigen um sechs Wochen im Ausland Care-Arbeit zu leisten? Und wenn nicht, wovon sollen sie dann die nächste Miete bezahlen?

Care-Arbeit basiert auf einer direkten, oft persönlichen Verbindung zu einer Person, die in große Not geriete, wenn es zum Streik oder zur Arbeitsverweigerung käme. Anders als etwa in Italiens Logistik-Sektor , erscheint der Streik und die Arbeitsverweigerung daher als weniger gangbare Option.

Doch, natürlich wäre ein Streik gangbar! Care-Arbeit ist allerdings schwieriger zu bestreiken, weil es dafür eine größere Solidarisierung braucht. Für 24-Stunden-Betreuer*innen in Österreich gilt das in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist es schwierig, sich untereinander zu solidarisieren. Dass sie selbständig sind macht es quasi unmöglich, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Der ÖGB hat mit Vidaflex einen Versuch gestartet, eine Versicherung mit gleichzeitiger gewerkschaftlicher Unterstützung, u.a. bei Streiks, für die selbständigen Betreuer*innen zu etablieren. Der Ansatz ist an sich gut. Ein Mitgliedsbeitrag von 25 € dafür klingt zunächst nicht hoch – aber bei ihrem Verdienst von 700 ist das den meisten Betreuer*innen trotzdem zu viel. Dennoch sind die Betreuer*innen ganz gut vernetzt – obwohl sie sich aufgrund ihrer knapp bemessenen Turni kaum sehen. Die Facebookgruppe der rumänischen Betreuer*innen hat beinahe 35.000 Mitglieder. Darin findet ein reger Austausch statt. Das hat unter anderem dazu geführt, dass ausbeuterisch agierende Agenturen oder überteuerte Fahrtdienste niemanden mehr finden. Zu den Maßnahmen zur Corona-Pandämie wurden darin viele Informationen ausführlicher und besser weitergegeben, gerade auch zur Situation der Eingeflogenen. Und es hat eine Solidarisierung mit den unbezahlt Betreuenden und Pflegenden Familienangehörigen stattgefunden. Das ist gut – und sollte nicht unterschätzt werden.

Darüber hinaus wichtig wäre aber auch Solidarität durch die Betreuten bzw. deren Familien. Wäre die stark, wäre durchaus ein Streik möglich. Das haben etwa die Streiks von Kindergartenpädagog*innen gezeigt, die von Eltern unterstützt wurden. Schließlich wäre es doch im Interesse Aller, wenn die Betreuer*innen hochmotiviert und ökonomisch gut versorgt wären. Das können aber natürlich nicht Privatpersonen finanzieren, da muss das staatliche Sozialsystem greifen und entweder mitfinanzieren oder, was langfristig unbedingt notwendig wäre, alternative Formen der Altersbewältigung bereit stellen, die etwa auch gegen das Riesenproblem der Vereinsamung wirksam sind. Generationenübergreifendes Wohnen und WGs sind Modelle, deren Umsetzung in Skandinavien schon gut erprobt ist. Hier wurde deren Umsetzung jedoch bewusst verschlafen – weil das System wie es ist ja eh funktioniert, auf den Schultern der Betreuer*innen.

Ein anderer Punkt ist, dass Care-Arbeiter*innen Streiks oft nicht zugetraut werden. Das liegt nicht zuletzt an der schlechten Bewertung ihrer Arbeit. Ein (monetärer) Wert wird ausschließlich der Produktionsarbeit zugeschrieben, während die Care- und Reproduktionsarbeit unter ökonomischen Gesichtspunkten nie wirklich Beachtung fand. Langsam aber endlich bewegt sich hier etwas in der Kritik. Es ist zu hoffen, dass die es aus der Blase der feministischen Ökonominnen hinaus schafft und dann auch politisch Beachtung findet. Denn den Betreuer*innen selbst ist der Wert ihrer Arbeit sehr wohl bewusst.

Die mit zahlreichen Streiks verbundenen Arbeitskämpfe in den 1970er Jahren haben gezeigt, wie beispielsweise weibliche Reinigungskräfte in Großbritannien praktisch rund um die Uhr wie Maschinen arbeiteten – nachts Büros putzten und tagsüber Haus- und Pflegearbeiten verrichteten – und dabei praktisch ohne Schlaf auskommen mussten. Heute stellt die “low pay economy” ein vergleichbares Problem dar, wie sich in Anlehnung an Angela McRobbie feststellen ließe. Denn in der Niedriglohnwirtschaft werden Teile der Bevölkerung mit langen Arbeitszeiten “eingekerkert”, was bedeutet, dass es kaum oder gar keine Chancen auf berufliche Weiterbildung, Freistellung oder Höherqualifizierung gibt. Gilt dies nicht im besonderen Maße für den Care-Sektor und inwiefern öffnet bzw. verstellt dies Wege in die Politisierung?

In den Gesprächen mit Betreuer*innen habe ich erfahren, dass es kaum Erwartungen zu Weiterbildungsmaßnahmen gibt, die Motivation zur Weiterbildung aber trotzdem sehr hoch ist. Allerdings werden aufgrund der Arbeitssituation meist informelle Wege dafür genutzt. Deutschkurse etwa werden kaum in Anspruch genommen, stattdessen wird mit den Betreuten, sofern die das wollen, gelernt und geübt was geht. Auch Online-Angebote sind sehr beliebt. Manche Hausärzt*innen haben auch bereits begonnen, Betreuer*innen in medizinischen Tätigkeiten zu schulen – und dies zu bestätigen. Für die Ärzt*innen ist es eine große Entlastung, wenn sie nicht wegen jeder Spritze kommen müssen und für die Betreuer*innen ein wichtiger Aspekt in ihrem Portfolio, der ihnen bessere Bezahlung garantiert, da sie dann auch Fälle mit höherer Pflegestufe übernehmen können.

Die Politisierung verhindern eher die Selbständigkeit und die Transnationalität. Viele Betreuer*innen verhalten sich am Arbeitsort sehr zurückhaltend, da sie ständig im Bewusstsein sind, in einem fremden Land zu sein. Sie kennen weder das Rechtssystem noch die politischen Strukturen und wollen sich nicht aktiv einarbeiten, da sie ja noch nicht einmal eine Aufenthaltsberechtigung haben. Ähnlich wie die so genannten „Gastarbeiter*innen“ der 1960er und 70er-Jahre werden sie als Gäste behandelt und fühlen daher natürlich auch so. Und Gäste werden in der Regel nicht politisch aktiv. Insbesondere nicht Gäste aus Osteuropa. Denn den Balkanismus haben ja nicht nur Westeuropäer*innen internalisiert. Der hatte und hat natürlich auch Auswirkungen auf Osteuropäer*innen, die nun oft das Gefühl haben, sich dem neoliberalen westeuropäischen Kapitalismus anpassen zu müssen, der ihnen so lang und intensiv als Ideal vorgegaukelt wurde.

In Hong Kong haben Krankenschwestern während der ‘Corona-Krise’ mit Streik gedroht. Dies könnte als ein Indikator für die neue Verhandlungsmacht des Care-Sektors angesehen, den zunehmend viele AkademikerInnen und JournalistInnen ebenfalls begreifen und zum Anlass nehmen, Hoffnung in der aktuellen Krise zu schöpfen. Was bedeutet es, laut nach “einer neuen Welt nach dem Virus” zu schreien, die es dem Care-Sektor ermöglicht, eine wirkliche Verbesserung der Löhne, der Arbeitsbedingungen und nicht zuletzt der Möglichkeit zu erkämpfen, mehr Qualifikationen zu erwerben? Und was bedeutet es, dies gemeinsam zu tun – über jene Grenzen hinweg, die die ArbeiterInnen von jenen trennen, die über sie forschen und für sie sprechen?

Das bedeutet zunächst einmal sich kritisch mit sich selbst und dem eingespielten System auseinanderzusetzen. Denn die internationale Care-Kette beginnt nicht selten bei genau den Akademiker*innen und Journalist*innen, die ihre Berufe nur deshalb ausüben können, weil sie Care-Arbeit externalisieren und dabei soziale Ungleichheiten ignorieren. Denn kurzfristig ist es einfacher und oft auch kostengünstiger, sich Au-Pair-Mädchen und Altenbetreuer*innen aus Osteuropa zu organisieren – zu Löhnen, die weit unter dem westeuropäischen Niveau liegen. Wäre immer so gedacht worden, gäbe es heute vermutlich noch nicht einmal Kinderbetreuungseinrichtungen. Daher ist es wichtig, dass sich insbesondere Akademiker*innen und Journalist*innen als Fürsprecher*innen sehen und politische Forderungen aufstellen und laut werden. Ich fordere und stehe hier für einen akademischen Aktivismus!

Als in Österreich durch die vorherige Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ eine Indexierung des Kindergeldes für Beschäftigte, deren Kinder im Ausland gemeldet sind, vorgenommen wurde, gab es dazu relativ viele Medienberichte. Zum einen, da diese Maßnahme nach wie vor EU-rechtlich umstritten ist. Viel häufiger fand jedoch die Ungerechtigkeit an den Betroffenen Erwähnung. Seither bekommen etwa Bulgar*innen nur mehr die Hälfte dieser Pauschale – die aber für sie eine wesentliche und oft nötige Aufwertung ihres Verdienstes darstellt. Schon damals ging eine Welle der Angst um, dass es zur Betreuungskrise kommen könnte. Unberechtigterweise, wie ich vorher schon hätte sagen können, da ein Großteil der Betreuer*innen keine Kinder in anspruchsberechtigtem Alter mehr haben. Dennoch fand ich das große Feedback, das sich u.a. in Zeitungs-Foren spiegelte, positiv. Politisch hat es trotzdem nichts bewegt. Weder die Übergangsregierung noch die derzeitige Koalition aus ÖVP und Grünen haben diese umstrittene Kürzung bisher rückgängig gemacht.

Ich hoffe, dass durch die Betreuungskrise während der Corona-Pandämie zumindest ein wenig mehr Bewusstsein dafür aufgekommen ist, dass es diese Betreuungskräfte gibt, und zwar sehr viele davon, und dass sie zu eigentlich unwürdigen Bedingungen arbeiten, und dass endlich politisch positive Maßnahmen zur Verbesserung der Betreuungssituation unternommen werden.

Anm.d.Red.: Die Fragen stellte die Redaktion der Berliner Gazette. Das Bild oben stammt von Rachel Young und steht unter einer Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 2.0).

3 Kommentare zu “Paradoxes Politikum: Warum die System-Relevanz von Care-Arbeit nicht länger zu verschleiern ist

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