Möglichkeitsräume – aber nicht für alle?

In den 1990er Jahren entstanden im leeren Zentrum Berlins überraschend viele Möglichkeitsräume und die Subkulturszene der Stadt erlebte eine Blütezeit. Der Filmemacher und Stadtforscher Ben Pohl hat als aktiver Teil dieser Szene die Dokumentation „Nördliche Breite – Östliche Länge“ (2001) gedreht. Im Interview mit Berliner Gazette-Chefredakteurin Magdalena Taube reflektiert er seine Perspektive.

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In Berlin gab es in den 1990er Jahren viel ungenutzten Raum. Wie schätzen Sie rückblickend die damit verbundenen Möglichkeiten ein?

Es ist ambivalent. Auf der einen Seite waren die Möglichkeiten mit den nun leerstehenden Gebäuden im Osten Berlins experimentell umzugehen natürlich großartig. Andererseits konnten nicht alle Bewohner der Stadt diese Chancen nutzen.

Wer hat profitiert?

Die neuen Nutzer der frei gewordenen Räume konnten durch niedrige Mieten, Fördermittel, Solo-Selbstständigkeit oder Transferleistungen auf Subsistenzniveau ihr Überleben sichern und sich dem Experimentierfeld neuer Lebens- und Arbeitsweisen widmen. Sie waren somit in der Lage sich ihre eigenen Möglichkeitsräume zu bauen. Während der 1990er Jahre schossen beispielsweise in Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain unzählige informelle Wohn-Arbeits-Atelier-Projekte aus dem Boden. Bis heute bleibt die Frage offen, ob diese Experimentierfelder von den Akteuren genutzt werden konnten, um damit neue ökonomische Modelle und Lebensweisen des städtischen dauerhaft zu etablieren.

Wer blieb draußen?

Wer wusste, wie man Fördermittel beantragt, mit wem man verhandelt, welche Rechtsformen man wählt, hatte gute Chancen auch ohne ökonomisches Kapital seine Lebens-, Wohn- und Arbeitsvorstellungen umzusetzen. Dass vor allem gut ausgebildete junge Europäer die Mehrzahl dieser Akteure in den 1990ern stellte, ist nicht verwunderlich.

Dabei wurde Erfolg nicht monetär, sondern vor allem anhand von Reputation gemessen, eine wichtige Währung in den kulturökonomischen Netzwerken. Auch bildete sich in diesen Netzwerken eine große Menge sozialen Kapitals, was durch die „mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens“ (Pierre Bourdieu) entstand. Der durch die neuen Nutzer und Bewohner produzierte Raum sozialer Beziehungen und Symbole erhöhte zugleich den Gebrauchswert dieser Stadtbezirke.

Während viele der Akteure diese Experimentiermöglichkeiten nutzen konnten um kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital zu akkumulieren, blieben andere große gesellschaftliche Gruppen außen vor. Aufgrund von Alter, Sozialisation, Mangel bestimmter Fähigkeiten oder familiären Verbindlichkeiten blieb vielen die Ko-Produktion dieser Möglichkeitsräume schon damals verwehrt.

Was bleibt?

Der Ausschluss großer Teile der Bevölkerung von diesen Räumen und Prozessen sollte uns zu denken geben, wenn wir über die Zukunft der Stadt als Ressource nachdenken, sowie auch über die gesellschaftliche Verantwortung einer „kreativen Szene“.

Anm.d.Red.: Das Foto ist ist ein Standbild aus Ben Pohls Dokumentation „Nördliche Breite – Östliche Länge“ (2001), die am 19. Mai im BQV-Auftaktworkshop „Prekär/Produktiv“ vorgestellt wird – als offenes Projekt: Im BQV dokumentiert Pohl alle Veranstaltungen; so entstehen Kurzclips, die via berlinergazette.de im Internet verfügbar gemacht werden und außerdem in seinen neu entstehenden Dokumentarfilm einfließen, der die Szene aus heutiger Sicht porträtiert.

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