Subjekt ohne Gott: Das Andere und das Nichts

Was hält das geistige Band im Menschen zusammen, wenn nicht die Rückbindung zu Gott? Der freie Philosoph, Kurator und Berliner Gazette-Autor Marcus Steinweg findet in seinem Streifzug das Andere und das Nichts.

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Das Denken nach dem Tod Gottes muss von der Unmöglichkeit des Menschen seinen Ausgang nehmen, von einem originär entleerten Subjekt, einem ursprünglich zersplitterten Cogito, dessen Aufgabe fortan in der Konfrontation dieser Leere und Zersplitterung liegt, statt in der Bemühung um einen substanzialen Anfang und eine begründete Finalität. Rufen wir uns die berühmten Sätze Foucaults in Erinnerung: „In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist zu denken.“

Es ist klar – und Deleuze unterstreicht dies –, dass dieses Denken, das sich im Raum der Leere erhebt, indem es Gott und die überlieferten Humanismen samt der ihnen kompatiblen Subjektkonzeptionen hinter sich zu lassen versucht, ein neues Bild des Denkens zu entwerfen“ beginnt: „eines Denkens, das sich nicht mehr von außen dem Undenkbaren oder dem Ungedachten entgegensetzt, sondern es in sich selber ansiedelt und eine wesentliche Beziehung mit ihm eingeht.“ Offenbar geht es um ein Denken, das sich als primordiale Geöffnetheit auf das Undenkbare und Ungedachte begreift, ein Denken, das sich der Leere und seinen Grenzen nicht einfach widersetzt, da es sie als für sich elementar und konstitutiv begreift.

Der Mensch und das Ungedachte

Es geht um ein Denken, das um seine originäre (oder „archaische“) Verbindung mit dem Ungedachten weiß, das man das „Unbewusste“ nennen kann, um es mit „dunklen Mechanismen“ und „gestaltlose[n] Determinationen“ zu assoziieren. „Der Mensch und das Ungedachte“, schreibt Foucault, „sind auf archäologischer Ebene Zeitgenossen.“ Offensichtlich handelt es sich um ein Denken, das sich von der Illusion seiner Allmacht befreit hat, nicht um sich dem Phantasma totaler Impotenz hinzugeben, dem Narzissmus der Ohnmachtsanbetung, der nichts als Indiz luxuriöser Selbstviktimisierung und Denkfaulheit darstellt, wie sie sich oft in der Feier der eigenen Schwäche und Verletzbarkeit manifestiert, sondern um beides zugleich zu konfrontieren, den Objekt- wie den Subjektstatus des Subjekts, sein Vermögen der Rezeptivität wie der Spontaneität, oder, heideggerisch gewendet: sich selbst als geworfenen Entwurf.

Im Subjekt kreuzen sich die Dimensionen einer radikalen Passivität und einer hyperbolischen Aktivität. Das Subjekt ist der Schauplatz dieser Kreuzung. In ontotopologische Kategorien übersetzt, heißt dies: das Subjekt ist der Ort, an dem die Zukunft in die Vergangenheit interveniert und die Vergangenheit die Zukunft determiniert. Intervention und Determination sind streng kompossibel, so sehr sie einander auszuschließen scheinen. Foucault überantwortet das Denken seiner unbestimmten Zukunft wie seiner komplexen arché, einem Ungedachten, das „voll im Denken enthalten“ ist. Zitieren wir diesen wichtigen Abschnitt:

Die Entfaltung des Nichts im Subjekt

„Das Ungedachte (welchen Namen man ihm auch geben mag) ruht nicht im Menschen wie eine gewundene Natur oder eine Geschichte, die sich ausgebreitet hätte; es ist in Beziehung zum Menschen das Andere: das brüderliche Andere, der Zwilling, nicht von ihm geboren, nicht in ihm, sondern neben ihm und gleichzeitig in einer identischen Neuheit, in einer zufluchtlosen Dualität. Diese dunkle Fläche, die man gern als ein teuflisches Gebiet in der Natur des Menschen deutet und gewissermaßen als von seiner Geschichte besonders gesicherte Festung betrachtet, ist mit ihm auf eine ganz andere Weise verbunden. Sie ist ihm gleichzeitig äußerlich und unerlässlich: ein wenig der Schatten, den dieser Mensch beim Auftauchen im Wissen trägt; ein wenig wie der blinde Fleck, von wo aus es möglich ist, ihn zu erkennen. Auf jeden Fall hat das Ungedachte ihm als stumme und ununterbrochene Begleitung seit dem neunzehnten Jahrhundert gedient. Da es im Grunde nur ein insistentes Double war, ist es nie für sich selbst in autonomer Weise reflektiert worden. Das, dessen Anderes und Schatten es ist, hat ihm die komplementäre Form und den entgegengesetzten Namen gegeben. Es ist das An sich gegenüber dem Für sich in der Hegelschen Phänomenologie gewesen, es ist das Unbewußte für Schopenhauer gewesen. Für Marx war es der entfremdete Mensch, in den Analysen von Husserl das Implizite, das Unaktuelle, das Sedimentierte, das Nichtausgeführte: auf jeden Fall die unausschöpfliche Unterlage, die sich dem reflexiven Denken als die wirre Projektion dessen, was der Mensch in seiner Arbeit ist, bietet, die aber ebensowohl die Rolle des im Vorhinein bestehenden Hintergrundes spielt, von wo aus der Mensch sich selbst sammeln und sich zu seiner Wahrheit bringen muß.“

Es überrascht, dass Foucault diesen gespenstischen Nebenmenschen erst im neunzehnten Jahrhundert auftauchen sieht, als wäre das Denken nicht von Anfang an von einem phantomatischen Double begleitet, das der sokratische daimon sein kann, oder, zu allen Zeiten in denen es sich (problematisch genug) männlich interpretiert, die Figur weiblicher Assistenz.

“Der Mensch ist ein Gott für den Menschen”?

Um nicht von all den Tieren zu sprechen, die das Subjekt heimsuchen, um es seiner animalischen Herkunft zu versichern, die, wie jedes Verdrängte, die Präsenz eines Phantoms erhält. Entscheidend ist, das sich im Subjekt oder neben ihm, in äußerster Nähe zu ihm, etwas Nichtsubjektives aufhält oder befindet, ein einmal blindes oder stumpfes, ein ein anderes Mal hellsichtiges, ein immer aber seine Präsenz einklagendes Element. Man könnte es als das Elementare selbst adressieren, als Chaos oder wilde Natur, als vorsubjektive Schicht ungeordneter Materialität und als dionysisch-archaischer Ungrund, der kein Denken zur Ruhe kommen lässt, denn er appelliert an jedes Denken gedacht zu werden, solange ihm der Status des Ungedachten entspricht. Es ist wohl so, dass jedes Denken, jedes Subjekt, „bereits in seinem eigenen Sein aus sich selbst ‚herausgetreten‘“ ist. In ihm öffnet sich eine Kluft, sodass es begreift, das sich selbst zu denken – Selbstbewusstsein zu sein, sich selbst denkendes Denken –, bedeutet, sich diesem Spalt oder diesem Riss zuzuwenden, dieser Wunde, die sich nicht schließt.

Anm.d.Red.: Der Verfasser dieses Textes hält am 30.10.2011 in der n.b.k. einen Vortrag (“Philosophie des Subjektes”) im Rahmen der Ausstellung Kunst und Philosophie, die er gleichfalls kuratiert hat. Das Foto oben stammt aus Tanaka Takahiros Foto-Essay.

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