Spannungen aushalten

Aristoteles sagte: >Der Mensch ist ein Gesellschaftstier.< Jede Biographie, und gibt sie sich noch so intellektualistisch, ist ganz besonders durch Freundschaften gepraegt. Die Entscheidung fuer den Aufbau, die Fortsetzung und wohl mehr noch fuer den Bruch mit einer Freundschaft konturiert unsere Lebenswege – in der wechselseitigen Zuneigung ebenso wie im Streit. Ich weiss nicht, ob Freundschaften, die auf gemeinsamen Abstraktionen basieren, besser oder interessanter sind. Sie sind nur anders. In meiner Kindheit in Hamburg-St. Pauli und in Altona habe ich mich oft mit meinen besten Freundinnen gehauen. Das war unter den Maedchen bei uns normal – und hoechst ritualisiert. Ich fuehlte mich dabei meistens unwohl. Aber sicher habe ich dabei nicht weniger gelernt als spaeter im Beruf – das Studieren der Anderen; das Antizipieren der naechsten Bewegung; schliesslich die Faehigkeit, von mir und meiner Lage und meinen Unzulaenglichkeiten zu abstrahieren. In der Anthropologie sind das alte Themen. Pierre Bourdieu nannte die solcherlei intuitiv erlernten Wissensformen >sens pratique< – den brauchte ich spaeter waehrend meiner Ausbildung zur Industriemechanikerin und heute noch genauso in der Wissenschaft.

Natuerlich gab es aber auch spaeter die klassischen Jugendfreundschaften, deren absolute Bedingungslosigkeit und vollkommene geistige Uebereinstimmung wohl nur in dieser Zeit moeglich ist. Wir lasen z.B. J.D. Salingers >Faenger im Roggen<. Meine Englischlehrerin auf der gymnasialen Oberstufe war fuer mich ein wichtiges Vorbild. Bei ihr lasen wir >The lonelyness of the long distance-runner< von Alan Silitoe. Ihr Erscheinen im Unterricht war immer ein Auftritt. Sie wirkte wie eine russische Ballettlehrein, strenger schwarzer Knoten, sehr feine, fast harte Zuege und von einer unglaublichen Intelligenz; ja sprachlichen und geistigen Brillanz. >Ihr muesst lesen, ihr muesst lernen!< befahl sie gerne; besonders vehement nach dem dritten Glas Rotwein, das wir bei ihr in ihrem Haus in einem Hamburger Vorort tranken, und fuehrte uns dann zu ihrem beeindruckenden Buecherregal. Sie hatte Recht. Ich habe gerade einen Aufsatz von Djuna Barnes gelesen, in dem sie schreibt: >Wir sollten mit siebzig geboren werden und anmutig in die Jugend hinabtapern.<
Als ich nach dem grossen Streik 1995 nach Frankreich ging, um zu verstehen, warum solche Bewegungen dort moeglich sind [und in Deutschland nicht], wurde es zwangslaeufig notwendig, Handeln und Reflexion zu vereinen: Ich musste die Sprache erlernen, die ich zuletzt zehn Jahre zuvor nur durch basale Schulkenntnisse erworben hatte. In dem gewerkschaftlichen Bezirk, in dem ich damals verkehrte, hiess das gefluegelte Wort: >Die Arbeiter muessen Franzoesisch lernen!< Wenn man die Sprache eines Landes lernt, sie benutzt und rezipiert, kommt man garnicht mehr umhin, ein komplexes Bild von der Gesellschaft zu entwickeln, die diese Sprache benutzt. Das fuehrt zwangslaeufig dazu, dass sich auch der Blick auf die eigene Gesellschaft veraendert. Das Thema der Beobachtung durchzog auch diese Phase, die sehr lehrreich fuer mich war. Im Zuge dieses, damals noch sehr privat betriebenen, Gesellschaftsvergleiches wurde die Frage der Vermittlung, des Verstehens bedeutsam fuer mich.

Je laenger ich in der Wissenschaft taetig bin, desto differenzierter gestaltet sich der Blick auf das, was entlang der sozialen Klassenstellung als Mangel oder gar Armut bezeichnet wird. Die Hoffnung, dass soziale Umwaelzungen, zumindest fuer einen gewissen Zeitraum, tradierte Ansprueche auf geistige Emanzipation in Frage stellen, motiviert mich nach wie vor. Geblieben ist eine erhoehte Aufmerksamkeit in Bezug auf die Moeglichkeiten von Wissensaneignung; auch von Kreativitaet und ihrer Anerkennung. Es muss immer darum gehen, die Akteure, die Menschen in ihrem Tun ernst zu nehmen – eine Betroffenheits-Soziologie, die auf Mitleid beruht, ist nichts weniger als selbstlos. Walter Benjamin hat einmal gesagt: >Die Moral ist ein schlechter Ratgeber.< Das trifft ganz besonders auf die Soziologie zu.

Dabei ist der Diskurs ueber >das Gemeinsame< ebenso doppeldeutig wie der ueber die >Differenz<. Die Soziologie ist Ende des neunzehnten Jahrhunderts angetreten, das Gemeinsame ausfindig zu machen; also das, was die Zugehoerigkeit zu einer Gesellschaft bzw. einer Gemeinschaft ueberhaupt ausmacht. Dafuer hatte sie sich eine Menge Aerger von ihren Nachbardisziplinen eingefangen – nicht ganz zu Unrecht, denn einige Soziologen hatten den nicht geringen Anspruch, den Menschen an und fuer sich, seine Geschichte und sein Werden zu erklaeren. Seit dem Ende des bipolaren politischen Systemkonflikts ist es insbesondere in Deutschland en vogue, dekonstruktivistische Perspektiven einzunehmen, die in Frankreich ab 1960 unerlaesslich waren, um sich vom Strukturalismus zu emanzipieren. Dieser Einbruch, der auch eine erhoehte wissenschaftliche Selbstreflexion erforderte, war sehr wichtig. Doch die [immerhin fast vierzig Jahre alte!] Kritik enthebt die heutige Soziologie nicht von ihrem Verallgemeinerungs- und Uebersetzungsanspruch; der ist uns trotzdem geblieben. Die Gegensatzspannung zwischen Gemeinsamkeit und Differenz muessen wir aushalten und produktiv herausarbeiten – in der Hoffnung, damit der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer naeher zu kommen.

Skepsis gegenueber den grossen gesellschaftlichen Entwuerfen ist ein Reflex auf den Zahn der Zeit. Richard Sennett hat juengst eine Trilogie ueber das Handwerk begonnen. Ich habe sie noch nicht gelesen, doch die Idee ist mir sympathisch, weil sie – wohl eher pragmatistisch und an einem Produktionsgedanken festhaltend denn nostalgisch – relativ urspruengliche Prinzipien versucht, auf die Komplexitaet der Gegenwart zu uebertragen. Ich denke, die Soziologie kann dazu beitragen, solche Zusammenhaenge zu denken und damit einen Beitrag dazu zu leisten, konkrete Orte und Institutionen zu schaffen oder zu fuellen, in denen sich die unterschiedlichsten Personen und Gruppen zusammenfinden und austauschen koennen. Stadttheater scheinen dafuer eine geeignete, sicher nicht die einzige, Plattform zu bieten.

Die Berliner Volksbuehne ist dafuer das Paradebeispiel. Die Leitung, die 1992, kurz nach der deutsch-deutschen Vereinigung die Volksbuehne uebernommen hatte, erkannte ganz richtig, dass sie eine besondere historische Chance hat und sie hat sie ergriffen. Denn das Ende des Staatssozialismus bedeutete zugleich Erleichterung wie Vakuum. Das grosse Gemeinschaftsideal war nun – mit dem Ende der staatlich verstetigten kommunistischen Utopie nicht nur diskursiv, wie in den 1960er Jahren in Frankreich, sondern massgeblich sozial und kulturell zusammengebrochen. Letztlich operierte die Volksbuehne exakt auf dieser Schwelle zwischen Gemeinschaft und Differenz. Wenn es einer Institution gelingt, innerhalb dieser Schwelle ein breites Band an Handlungsmoeglichkeiten bereitzustellen, und zugleich Themen zu setzen, dann kann sie >Beduerfnissynthesen< schaffen, wie Helmut Schelsky das nannte. Das hatte die Volksbuehne nach 1990 erkannt. Heute gibt es moeglicherweise andere Formen, die all das wahrscheinlich noch viel besser umsetzen und von denen wir retardierten Wissenschaftler noch nichts wissen. Das ist der Moment der Hoffnung, der im Nicht-Wissen liegt.

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