Fremdschäm TV: Die Lindenstraße im Fernsehen 2.0

Fernsehen gibt es mittlerweile nun schon seit mehr als 79 Jahren. 1934 wurden die ersten Sendungen mit Bild und Ton übertragen. Auch heute zählt das Vor-der-Glotze-Sitzen zu den beliebtesten Freizeitaktivitäten der Deutschen. Julia Müller schaut sich das sogenannte Fernsehen 2.0 genauer an. Zwischen Mediathek, Lindenstraße und Social TV beleuchtet sie das Konsumverhalten und ertastet die Zukunft der Mattscheibe.

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Der durchschnittliche Bundesbürger in der Altersgruppe der 3-13-Jährigen konsumiert 96 Minuten Flimmerkiste am Tag. Ab 49 Jahren lässt man sich sogar 580 Minuten berieseln. Insgesamt zappen sich 71,6 Prozent der ab 14-Jährigen mindestens einmal am Tag durch das Programm. Trotzdem oder auch obwohl das Konzept Fernsehen nach fast acht Jahrzehnten immer noch boomt wie sonst kaum ein anderes, wurde es einer “Verjüngungskur” unterzogen. Nun hört es auf den äußerst “kreativen” Namen “Fernsehen 2.0”.

Ich bin nicht über 50 und trage auch keine Kochschürzen wie Mutter Beimer. Auch ihre Liebe für Spiegeleier teile ich nicht. Trotzdem bin ich ein Fan der Lindenstraße. Wovon ich leider kein Fan bin, ist die Zeit zu der die Serie nun schon seit sage und schreibe 28 Jahren über den Bildschirm flimmert: Sonntagabend, 18:50 Uhr. Also genau zu der Zeit, wenn man langsam anfängt, den vom Vorabend noch etwas mitgenommenen Körper mit Essen zu verwöhnen oder aber noch bei Mutti am sonntäglichen Abendbrottisch sitzt und Käsestullen in sich hineinstopft.

Umso mehr hat es mich erfreut, als die ARD angefangen hat, ihr beinahe ganzes Programm in eine Mediathek hochzuladen und ich somit frei entscheiden konnte, wann und wie ich meiner Sucht nachkommen möchte. Mediatheken ermöglichen es nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Menschen, denen es sonst nicht möglich ist, zu einer bestimmten Uhrzeit, an einem bestimmten Tag, für ein bestimmtes Format nach Hause zu hetzen, sich Sendungen bequem und genau dann anzuschauen,  wenn sie es möchten und es eben passt.

Unbegrenzter Konsum!

So besagt die ARD/ZDF-Online Studie, dass “die Nutzung von Fernsehinhalten im Internet, ob eingebunden in die Websites der Sender, über Mediatheken ausgespielt oder über Videoportale wie YouTube abgerufen” immer beliebter wird. Mediatheken spielen dabei eine immense Rolle. 36% der Internetbenutzer haben so bereits schon Erfahrungen damit gemacht- Tendenz steigend. Die Plattformen ermöglichen es dem Zuschauer, Sendungen, wann auch immer er es möchte, zu konsumieren.  Dadurch wird er laut Medien- und Kommunikationswissenschaftler Leif Kramp zum eigenen Programmdirektor. Da er nun aus dem kompletten Angebot eines Senders wählen kann, muss er sich keine Formate, die ihn nicht interessieren anschauen und kann sich auf die Sendungen, die ihn ansprechen fokussieren.

Ich muss also für meine Lindenstraßen-Leidenschaft nicht mehr die Deutsche Fernsehlotterie über mich ergehen lassen und mich nicht immer wieder darüber ärgern, dass ich kein Los besitze und so natürlich auch nicht gewinnen kann. Kramp führt diesen Gedanken weiter aus,  indem er die Plattformen mit Katalogen vergleicht: “Online-Mediatheken werden dadurch zu audiovisuellen Katalogen, die redaktionell betreut und vom Nutzer durchstöbert werden können.” Durch das gezielte Aufrufen von Sendungen, wird der Zuschauer anspruchvoller und kritischer. Zuschauer treffen ihre Entscheidungen nach ihren Interessen und schauen sich nicht mehr einfach nur den “Programmfluss” an, wie zur Zeit als es noch keine Mediatheken gab. Das stellt natürlich ganz besondere Herausforderungen für die Produzenten dar: Für sie wird es dadurch immer wichtiger, dem “verwöhnten” Zuschauer genau das zu geben, was er wirklich möchte und erwartet. Denn laut Kramp steigt ”das Wertebewusstsein des Nutzers für das Fernsehprodukt”.

Schaue ich die Lindenstraße dann aber doch tatsächlich mal, wenn sie auch ausgestrahlt wird, dann bieten sich mir als “Fernsehen 2.0-erin” eine Auswahl an Möglichkeiten, wie ich mich interaktiv an der Sendung beteiligen kann. Wäre ich im Besitz eines internetfähigen Mobiltelefons oder eines Tablets, dann könnte ich es als einen sogenannten “Second Screen” neben mir auf der Couch oder in meinem Schoß platzieren.

Lindenstraße-Verrückte-Second-Screener

Dadurch würde sich mir eine komplett neue Welt öffnen, die mir weiterführende Informationen zu der Sendung, die ich gerade anschaue, aufzeigt. Ich könnte nach Herzenslust in Rollenprofilen meiner Lieblingscharaktere und Hintergrundinformationen zu Drehorten, Meets and Greets und so weiter stöbern. Nebenbei könnte ich mich über das Forum oder auch über Twitter mit weiteren Lindenstraßen-Verrückten- Second-Screenern unmittelbar und direkt über, das was ich gerade sehe, unterhalten.

Dieses Angebot nutzen rund die Hälfte der Zuschauer zwischen 14 und 49 in Deutschland. Dabei besagt die ARD/ZDF-Onlinestudie 2013 jedoch, dass der Second Screen und das Sehen einer Sendung oft nicht thematisch im Zusammenhang stehen. Es wurde herausgefunden, dass das bei jüngeren Zuschauern öfters der Fall als bei Älteren sei. Besonders häufig, also ungefähr ein Drittel der Second-Screen-Nutzer, gebrauchen Smartphones, während Tablets eher seltener benutzt werden.

Zwar alleine im Raum vor der Glotze sitzen, aber durch den Second Screen dann irgendwie doch nicht, nennt man dann “Social TV”. Man unterhält sich quasi via Internet mit Menschen, die man kennt oder eben auch nicht und kann dabei nach Herzenslust über die schlechten Dialoge, die Spannung bis zur nächsten Sendung oder auch über das hässliche grüne Shirt des Protagonisten lästern.

Da diese Form der Kommunikation wie die Zahlen der ARD/ZDF-Onlinestudie 2013 belegen immer beliebter werden, ist ein ganz neuer Markt dafür entstanden. So genannte “Social-TV-Apps” schießen wie Pilze aus dem Boden- Couchfunk ist eine davon. Hier kann man sich mit Freunden, aber auch anderen Zuschauern über die gerade laufenden Sendungen ganz bequem austauschen.

Ist Social TV die Zukunft?

Besonders beliebt sind die privaten Sender wie RTL, Sat1 oder Prosieben. EkelTV und Reality-Sendungen bieten anscheinend am meisten Gesprächsstoff. Schaue ich also Mutter Beimer mal wieder beim Spiegeleier-Braten zu, dann muss ich mich nicht darum kümmern, noch das richtige Forum und die richtige Twitterseite zu finden, denn das erledigt alles praktischerweise eine App für mich. Am Sonntag, der ja bekanntlicherweise der Tag der Ruhe ist, kann mir ja nun wirklich kaum etwas besseres passieren.

Doch trotz des Riesenerfolgs des Second Screens und der Mediatheken, sind nur immerhin 85% der Deutschen zwischen 7 und 74 dazu in der Lage auch wirklich Gebrauch davon zu machen. Eine Studie des Statistischen Bundesamtes hat ergeben, dass in dieser Altersgruppe jeder  7. Deutsche, also insgesamt 15 % der Bevölkerung,  das Internet noch nie im Leben genutzt haben.

Aus diesem Grund ist es wichtig, sich klar zu machen, dass für Menschen, die mit Internet und Fernsehen aufgewachsen sind, also zur Generation Y oder zur Generation der Digital Natives gehören, der Umgang mit Fernsehen 2.0 kein Problem darstellt. Für viele ältere Menschen könnte die Nutzung allerdings Probleme bedeuten.

Der 75- jährige Blogger Horst A. Bruno ist sich sicher: “Die jüngere Generation  wird- auch aufgrund der zunehmend vorhandenen Technik – bald nur noch über das Internet alles sehen und empfangen, was die Medien anbieten. Ob dann Talkshows und Life-Unterhaltung noch die Bedeutung haben werden, die ihnen heute beigemessen wird, werden kann ich allerdings nicht beurteilen.”

Er räumt allerdings auch ein, dass seine 80-jährige Frau mit der neuen Technik nicht umgehen könne. Auch in seinem gleichaltrigen Freundeskreis werde das Fernsehen 2.0 nicht genutzt. Damit stellt sich natürlich die Frage, ob das Fernsehen 2.0 und ganz besonders das Social TV tatsächlich so sozial ist oder ob es Menschen, die nicht in einem gewissen Maße technik-affin sind, “aussozialisiert”?

Wie sozial ist Social TV?

Auch der Aspekt, der als überaus “sozial” gefeiert und angepriesen wird, also das zwar alleine auf der Couch sitzen, aber durch den “Second Screen” schließlich auch wieder nicht, ist fragwürdig. Gemütlich auf der Couch mit Freunden sitzen, die Flasche Bier in der einen und die Tüte Chips in der anderen Hand: so sah gemeinsames Fernsehen früher aus. Direktes und reales reagieren auf bestimmte Begebenheiten, obendrauf mit Mimik, Tonfall und Gestik.

Das alles kann die neue Form des Zusammenschauens nicht. Führt das nicht mehr gemeinsam vor der Flimmerkiste sitzen und nur noch über Second Screen zu kommunizieren, vielleicht sogar dazu, dass die Sozialen Kompetenzen der Menschen auf der Strecke bleiben und es zu immer weniger realen Treffen kommt?

Oder resultiert der Second Screen dazu, dass Konsumenten sich eher ablenken lassen und sich nicht voll und ganz auf die Sendung konzentrieren? Aber auch die ewig angepriesene zeitliche Freiheit, die durch die Mediatheken nunmal angeboten werden, stimmt nicht ganz zu 100 Prozent. So ist es schließlich auch nicht möglich den Tatort einfach mal an einem verregneten Nachmittag zu schauen, es sei denn, der Nachmittag beginnt erst ab 20 Uhr.

Nicht von der Hand zu weisen sind allerdings auch die Vorteile, die das neue Fernsehen mit sich bringt: so muss man sich schließlich nicht mehr unbedingt durch gefühlt ellenlange Trash-TV-Sendungen quälen, sondern kann selbst, mit kleinen Einschränkungen, entscheiden auf was man genau in diesem oder jenem Moment Lust hat. Laut Duden bedeutet das Adjektiv “sozial” “dem Gemeinwohl, der Allgemeinheit dienend; die menschlichen Beziehungen in der Gemeinschaft regelnd und fördernd und den [wirtschaftlich] Schwächeren schützend”.

Adieu Fremdschäm-TV!

Ob Fernsehen als Ganzes dem Gemeinwohl dient und den wirtschaftlich Schwächeren schützt ist wohl fraglich. Dennoch ist es schwer zu bestreiten, dass Social TV in einem gewissen Sinne, menschliche Beziehungen in der Gemeinschaft regelt und auch fördert. Zwar nicht in einem realen Sinn, also mit Treffen, an dem Menschen teilnehmen, indem sie physisch anwesend sind. Trotzdem findet über Plattformen auch eine Form von Interaktion statt, wenn auch virtuell.

Als Konsequenz aus dem Verhalten, dass die Konsumenten immer kritischer und anspruchsvoller werden, könnte sich dann schließlich ergeben, dass Fremdschäm-TV à la Dschungelcamp und Big Brother immer weniger produziert wird. Letztendlich  könnte es dazu führen, dass es “von der Bildfläche” verschwindet, weil es dafür kaum noch Resonanz gibt.  

Marcel Reich-Ranicki, der schließlich schon beim Deutschen Fernsehpreis 2008 in Köln sagte: “Bei dem vielen Blödsinn, den ich heute Abend gesehen habe, glaube ich nicht, dass ich dazugehöre. Ich nehme diesen Preis nicht an.” Mit Blödsinn meinte er das Deutsche Fernsehprogramm und entfachte damit eine Debatte. Das Ende vom Lied und von wochenlangen Diskussionen war dann – nichts.

Natürlich ist auch immer die Frage, wer bestimmt, was Trash-TV ist und was nicht. Viele Menschen halten mich und meine Leidenschaft für eine Straße in München, die ja eigentlich in Köln liegt, auch für eine Jüngerin des Trash-TVs. Aber das ist mir egal. So lange es die Lindenstraße gibt, werde ich ganz sicher mitfiebern, mich über die dummen Storys und Dialoge grün und blau ärgern und mir trotzdem keine Folge entgehen lassen.

Anm.d.Red.: Mehr zum Thema in unserem Dossier Fernsehen 2.0. Die Fotos wurden im höchsten Fernsehturm Malaysias von Amber de Bruin aufgenommen. Sie stehen unter einer Creative Commons Lizenz.

3 Kommentare zu “Fremdschäm TV: Die Lindenstraße im Fernsehen 2.0

  1. Lieber Holger,

    das ist eine interessante Aussage. Und deswegen frage ich dich: Wer entscheidet, das Fernsehen verblödet und dass es verblödet ist?
    Findest du nicht, dass es nach einem langen und harten Arbeitstag nicht hinsichtlich von Entspannung und Kopf-ausschalten dennoch einen Mehrwert hat?

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