Selbstvernutzung des Menschen: Zur vermeintlich garstigen Schwester des Sinns

Kann man Sinn und Nutzen von einander unterscheiden? Diese grundlegende Frage bekommt im Zeitalter der technologischen Revolutionen eine neue Dringlichkeit und die Philosophin sowie Berliner Gazette-Autorin Janina Sombetzki sucht nach Antworten.

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Der US-amerikanische Philosoph Hubert Dreyfus ist sich sicher, dass Maschinen im Gegensatz zum Menschen niemals über Kreativität, über „gesunden Menschenverstand“ bzw. über einen moralischen Sensor verfügen werden. Er muss es wissen. Schließlich hat er die Entwicklung artifizieller Systeme von ihren Ursprüngen an begleitet und kritisch reflektiert. In einem Gespräch mit Florian Grosser erklärt Dreyfus:

„Was heutigen Computern nach wie vor fehlt, ist der für Menschen charakteristische Common Sense, der es erlaubt, in der ungeordneten Alltagswelt zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. […] Computern [bleibt] – trotz ihrer ungeheuren Rechenkraft und Kapazität, Daten zu schürfen – eine Dimension von Sinn nach wie vor verschlossen. […] Durch solch ‚rohe Gewalt‘ können diese Computer Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit nicht tatsächlich verstehen.“

Die menschliche Kreativität bzw. der Common Sense tut sich Dreyfus zufolge als kategorialer Abgrund zwischen Mensch und Maschine auf. Artifizielle Systeme würden ihn nicht überbrücken können. Von der dem Menschen vorbehaltenen Fähigkeit, dank gesundem Menschenverstand „zwischen Wichtigem und Unwichtigem“ differenzieren zu können, gelangt Dreyfus zu „Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit“: Maschinen sind beschränkt, sie können nur mit Daten und Informationen umgehen, sie können rechnen. Sie suchen für die ihnen gestellten Aufgaben den effizientesten Weg und gehen ihn.

In der Gegend herumzuspazieren

Sie wissen zwar, was Nutzen (im Sinne von Mittel, vorletzte Zwecke) ist, denn dieser ist nach einem gegebenen Ziel zu definieren. Aber sie verstehen das Konzept Sinn (Endzweck, letzte Zwecke) nicht, sie wissen auf die Frage nach dem „Warum“ ihres Tuns nichts zu antworten. Ihnen geht es auch vollkommen ab, einfach so in der Gegend herumzuspazieren oder Löcher in die Luft zu starren. Implizit scheint damit, dass Maschinen Nutzen und Mittel verstehen, nicht aber wissen, was Sinn und Endzwecke sind, auch gesagt, dass sie selbst nur einen Nutzen, nicht aber einen Sinn haben. Der Mensch hingegen weiß, was Sinn ist. Ihm kommt daher ein Sinn zu und kein Nutzen, er ist nicht Mittel zu etwas anderem.

Diese Sicht der Dinge hat Tradition: Dass Maschinen nicht nur Sinn nicht verstehen sondern ihnen darüber hinaus auch selbst kein Sinn zukommen kann, liegt daran, dass sie vom Menschen hergestellt sind. Wie König Midas alles, was er anfasst, in Gold verwandelt, wird dem Menschen alles bei Berührung zu Nutzen, zum bloßen Mittel. Das gilt ebenso für die von ihm ins Dasein gerufenen Maschinen. Ihnen ist der Zutritt in das Universum des Sinns versperrt, sie haben nur einen Nutzen für einen anderen Zweck.

Im Universum des Sinns hält sich jedoch nicht nur der Mensch auf, sondern neben ihm alles natürlich Entstandene. Die Unterscheidung zwischen Sinn und Nutzen scheint klassisch an die zwischen Natürlichkeit und Nicht-Natürlichkeit im Sinne von Künstlichkeit gekoppelt zu sein. Gott schafft Sinn, schafft letzte Zwecke – ob in Form von Gebirgen, Pflanzen oder Tieren ist nebensächlich. Der Mensch, der zweite bzw. kleine Gott, der „menschliche Gott“ (von Kues) ist nicht befähigt, Sinn zu schaffen sondern nur die garstige Schwester des Sinns – den Nutzen, also vorletzte Zwecke als Mittel zu weiteren Zwecken.

Alles Künstliche strebt auf etwas hin

Alles von ihm Hergestellte hat ein Um Zu, alles Künstliche strebt auf etwas hin, wohingegen der Mensch und mit ihm ggf. alles natürlich Entstandene einen Selbst- oder Endzweck und damit Sinn hat. Der Nutzen der hergestellten Dinge und artifiziellen Systeme kann sich dabei in ganz unterschiedliche Gewänder kleiden, es kann ein praktischer, ökonomischer, politischer, moralischer oder ästhetischer Nutzen sein.

Der Gedanke, dass der Mensch tatsächlich nicht nur einen Sinn hat, also Endzweck ist, sondern auch einen handfesten Nutzen und damit Mittel zu einem anderen Zweck ist, kann paradoxerweise als das wohl ungewollte Erbe der Renaissance und Aufklärung verstanden werden. Diese hatte es sich gerade auf die Fahnen geschrieben, die Stellung des Menschen als Endzweck im Universum zu sichern: Seit Nikolaus von Kues, Giovanni Pico della Mirandola und Jean-Jacques Rousseau wird das Spezifische des menschlichen Wesens in seiner Perfektibilität gesehen, in seiner Fähigkeit, sich selbst zu gestalten.

Wenn es nun aber stimmt, dass alles, was künstlich ist, einen Nutzen und keinen Sinn hat und wenn sich Sinn und Nutzen gegenseitig ausschließen, dann „vernutzt“ sich der Mensch selbst, indem er sich selbst gestaltet. Er macht aus sich ein bloßes Mittel. Und dies geschieht auch noch notwendig, sofern die Perfektibilität des Menschen anthropologischen Status hat, d.h. sofern der Mensch erst zum Menschen wird, indem er sich selbst entwirft, indem er sich zu etwas zumindest teilweise Künstlichem macht. Paradox – so hatten sich die die oben genannten Vordenker des Kantischen „Sapere aude!“ das sicher nicht gedacht.

Gebirge haben keinen Nutzen

In der Tat müsste vor diesem Hintergrund nicht nur die Perfektibilität das spezifisch Menschliche genannt werden, sondern konsequent auch und gerade sein Talent zur „Selbstentsinnung“ durch „Selbstvernutzung“. Bei Tieren, Pflanzen und Gebirgen besteht diese Gefahr nicht. Sie können sich von ihrem Sinn nicht distanzieren, können sich nicht zu einem Mittel für einen anderen Zweck machen. Tiere, Pflanzen und Gebirge haben keinen Nutzen. Durch die spezifisch menschliche Fähigkeit, sich zu gestalten, setzt sich der Mensch – so die paradoxe Konklusion aus dem zuvor Gesagten – einen Nutzen und nimmt sich seinen Sinn. Die Quantified Self Bewegung stellt vor diesem Hintergrund die nur natürliche Entwicklung einer vernutzten, entsinnten Perfektibilität dar.

Bislang ist das Fazit aus dem Gesagten eher ernüchternd: Dem Menschen kommt kein Sinn zu, er ist gar nicht Endzweck sondern eigentlich nur ein Nutzen, den er sich selbst setzt und zwar gerade weil er über das Vermögen zur Selbstgestaltung verfügt. Alle Menschen, die sich noch keinen Nutzen gesucht haben, die noch nicht Mittel zu einem anderen Zweck sind, die einfach nur so vor sich hin leben, vielleicht herumspazieren und Löcher in die Luft starren, sind zwar noch Endzweck, können jedoch vielleicht nur als potenzielle Menschen betrachtet werden, als quasi-Menschen auf dem Weg, „echte“ Menschen erst zu werden. Die Self-Quantifier entpuppten sich unter dieser Perspektive als zumindest eine gelungen Weise, das Wesen des Menschen zu realisieren, denn immerhin haben sie sich erfolgreich und vollständig selbst vernutzt – eine gruselige Vorstellung.

Was tun, wenn uns diese Sicht der Dinge nicht zusagt? Wo könnte sich eventuell gar ein Fehler eingeschlichen haben? In der Tat erscheint eine unreflektierte Gegenüberstellung von Natürlichem und Künstlichem äußerst schwierig. Auch das Künstliche ist natürlich in dem Sinne, dass es zur gegebenen Ausstattung des Menschen gehört, Dinge zu erschaffen. In der Koppelung von Sinn und Nutzen an Natürliches und Künstliches schwingt implizit eine metaphysische Vorstellung mit, dass das Künstliche nicht von vornherein „da“ war und deshalb „weniger wert“ sei, eine Differenzierung zwischen originärer und imitierender Schöpfung sozusagen, ein Essenzialismus, dass dem natürlich Gegebenen ein transzendenter Sinn innewohnt.

Primat des „zuerst Dagewesenen“

Allerdings ist auch das Künstliche in Form der menschlichen Fähigkeit zu Analyse, Planung, Entwurf und Umsetzung von vornherein „da“, wenn auch nicht real existent in bereits hergestellten Gegenständen sondern in dem Potenzial einer menschlichen Kompetenz.

Wenn dem also zugestimmt werden kann, dass das Künstliche in dieser spezifischen Hinsicht ebenso natürlich ist wie das Natürliche, dem nur das historische Primat des „zuerst Dagewesenen“ zukommt, kommt auch die Gegenüberstellung von Sinn und Nutzen ins Wanken – sofern man nicht ein anderes Argument dafür findet, dass nur dem Natürlichen ein Sinn und nur dem Künstlichen eine Nutzen zukommt. Auch dem Künstlichen könnte sonst – weitergedacht – Sinn (Endzweck) zugeschrieben werden bzw. ist mit der Entkoppelung der beiden Konzepte Natürliches – Künstliches und Sinn – Nutzen voneinander zumindest die Ausschließlichkeit aufgehoben, dass das Künstliche nur Mittel ist, nicht aber (überdies) auch einen Sinn haben könnte.

Auf diese Weise ist der Mensch vor einer anthropologischen Selbstentsinnung durch Selbstvernutzung bewahrt. Der Mensch ist „Technit“ (Erlach). Nichts anderes ist mit der oben genannten Fähigkeit zur Gestaltung und Erschaffung (Analyse, Planung, Entwurf und Umsetzung) gemeint. Wenn er natürlicherweise Technit ist, stellt sich die Frage, warum er nur Nutzen (vorletzte Zwecke) und nicht auch Sinn (Endzwecke) schaffen können sollte. Warum sollte der Mensch gleich König Midas, der alles in Gold verwandelt, gezwungen sein, alles zu vernutzen, aus allem – selbst aus sich selbst – ein Mittel zu machen? Als technisches Wesen transzendiert der Mensch sein eigenes Dasein, die Visionen des Homo Fabers ragen aus der bloßen Gebundenheit an eine Umwelt heraus.

Dasein einem (externen) Zweck unterwerfen

Anders als Meer, Pflanze und Tier ist der Mensch nicht in eine Umwelt hineingeworfen, durch die er vollständig determiniert wäre, sondern er zeichnet sich durch Weltoffenheit aus, durch die Möglichkeit, eine besondere Perspektive einzunehmen. Der Mensch kann „nein“ sagen. Kein anderes Wesen ist dazu in der Lage. Die Weltoffenheit stellt die Konsequenz aus der menschlichen Fähigkeit der Gestaltung (Technik) und Selbstgestaltung dar, denn diejenigen, die gestalten, sind etwas anderes als das Erschaffene – sei es auch die Gestalterin bzw. der Gestalter selbst.

Der Homo Faber nimmt also nicht nur zu seinen Geschöpfen sondern auch zu sich selbst eine distanzierte Perspektive ein. Genau darin liegen Last und Segen einer Vernutzung des Menschen: Weil der Mensch weltoffen auch in dem starken Sinne ist, dass er sich selbst entwerfen kann und nicht nur Dinge und artifizielle Systeme, ist es ihm auch möglich, zu sich selbst „nein“ zu sagen. Er kann sein Dasein einem (externen) Zweck unterwerfen, sich selbst einen Nutzen geben.

Dieser selbstgesetzte Nutzen ist allerdings nicht notwendig, der Mensch kann seinen Sinn als natürlicher Endzweck auch einfach behalten: Manch einer bzw. manch einem unter uns mag es vollkommen genügen, ohne externes Ziel und damit ohne Nutzen zu leben, sich zu sagen „Ich bin in meinem Dasein vollkommen genug, ich brauche keinen Zweck, ich bin selbst Zweck (Selbstzweck). Ich muss mein Leben keinem (externen) höheren Ziel unterwerfen“. Andere mögen einwenden, dass ihnen diese Sicht der Dinge nicht reicht, dass sie jemandem oder etwas nutzen wollen, wonach sie ihr Leben ausrichten.

Sinn und Nutzen

Ob damit hehre Ziele wie der Weltfrieden, die Bekämpfung der Armut oder ähnliches gemeint sind oder ein ideales Menschenbild, das mit konkret messbaren Kriterien umzusetzen ist (die Perspektive der Self-Quantifier), ist irrelevant. In jedem Fall ist mit der Setzung eines persönlichen Ziels und damit, sich selbst als Nutzen und Mittel zu begreifen, auch die Möglichkeit des Scheiterns gegeben. Das Tier kann in seinem Dasein nicht scheitern, wohl aber der Mensch, der sich einen äußeren Zweck gegeben und diesen nicht erfüllt hat. Selbst wenn wir das Ziel besagter Person nicht teilen, können wir trotzdem nachvollziehen, wenn sich ein Mensch in seinem Dasein als gescheitert erlebt bzw. der Ansicht ist, seinen persönlichen Nutzen nicht erfüllt zu haben.

In dieser Sicht der Dinge liegt eine positive Ausdeutung des Nutzens, die er zuvor in seiner ausschließlichen Gegenüberstellung zum Sinn nicht hatte. Auch ein Nutzen kann unserem individuellen Dasein ein höheres Ziel und damit Kontur und Richtung geben. Das ist der genaue Gegensatz zu etwaigen staatlichen oder ökonomischen Projekten zu einer generellen Vernutzung des Menschen in dem Sinne, dass diese „dem“ Menschen einen allgemein verbindlichen Zweck zu geben suchen. Sinn und Nutzen schließen sich also nicht gegenseitig aus, sondern im Menschen als weltoffenes und sein Dasein transzendierendes technisches Wesen wird ggf. aus dem Sinn als interner Endzweck ein höherer Nutzen als ggf. externer Endzweck und damit ein neu gegebener Sinn. Der Mensch ist dann nicht mehr selbst Endzweck sondern vorletzter Zweck (Mittel, Nutzen) zu einem Ziel, das er sich selbst gegeben hat.

Konsequent bleibt hinzuzufügen, dass die Wesen – vielleicht besondere artifizielle Systeme einer (nicht mehr ganz so) fernen Zukunft –, die wie der Mensch zu sich selbst „nein“ zu sagen befähigt wären, nicht nur über einen fremdgesetzten Nutzen verfügten, sie wären nicht nur Mittel, wie bspw. ein Taschenrechner, der nur dem durch den Menschen gegebenen Zweck zu folgen hat, Rechenaufgaben zu lösen. Solche Wesen könnten ihr Dasein dem Menschen gleich einem höheren Ziel unterwerfen. Sie wären sogar dazu in der Lage, sich jeglicher Nutzensetzung zu verweigern, sich als End- und Selbstzweck zu verstehen. Wesen, die dem Menschen in dieser Weise ähnelten, könnten sich dazu entschließen, einfach nur glücklich zu sein, indem sie in der Gegend umherspazierten und Löcher in die Luft starrten – ein Leben, das in den Augen vieler Menschen nicht nur bezüglich artifizieller Systeme sondern insbesondere für den Menschen gerne als sinnlos gewertet wird.

Anm.d.Red.: Das Foto stammt von Mario Sixtus (cc by 2.0).

2 Kommentare zu “Selbstvernutzung des Menschen: Zur vermeintlich garstigen Schwester des Sinns

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