Schwimmbadtrauma

Wasser ist nicht nur zentraler Bestandteil unserer Lebenswelt sondern und gerade deshalb auch des Wortschatzes. Wassermetaphoriken enthalten [kulturwissenschaftlich] Lebenswissen. Das Metaphernfeld des Wassers scheint unendlich, ist in zahlreichen gefluegelten Worten erahnbar. Den Banken steht das Wasser gerade bis zum Hals, der Haushalt geht womoeglich spaetestens nach der Wahl den Bach runter und von manchem Buerger hoert man gerade, der ein oder andere Manager moege doch endlich sein letztes Waesserchen – sprich den Abgangs-Wodka, am besten >auf Platte< - trinken.

Wer beim abendlichen Kartenspiel etwa in der Runde seinen Drink verschuettet, wird zur allgemeinen Belustigung, kann er doch das Wasser nicht halten. In der Antike taktete gar die Wasseruhr den Redefluss des Rhetors vor Gericht. In der Dichtung ruht still der See, die historische Welt gleicht einem Ozean und alle Wasser fliessen bekanntlich – nach Prediger 1,7 – ins Meer.

Ich selbst fahre dort gerne zur Erholung hin, wann immer es geht [verschicke dann einen aber keinen Heineschen >Meergruss<, Thalatta, Thalatta!], mag auf wohltemperiertes Wasser bei der morgendlichen Rasur nicht verzichten und trage natuerlich zur Hydrierung auf Reisen stets Plastikflaschen mit hochwertigem Wasser mit mir herum, genau solche, die nach der letzten Frankfurter Studie [am verunreinigten Main!] als gesundheitsschaedlich eingestuft wurden. Doch mein Interesse als Literaturwissenschaftler gilt den Bildern vom Wasser in der Literatur und jenen komplexen Sachverhalten, die nicht auf den Begriff zu bringen sind und nur metaphorisch - eben ueber das Wasser - gedacht werden koennen: Wasserwissen, d.h., dass Wasser Wissen ist oder seine Form Wissen enthaelt. Das Gedaechtnis der Texte kann z.B. ueber die Metaphorik von Fliessen und Stehen, von Tiefe und Dichte bezueglich der Textualitaet gedacht werden - der Text als Gewaesser. Das faengt schon auf Buchstabenebene an: Das lateinische >M< - man mag dem Graphem noch die ikonische Dimension eines Flusslaufs abringen - soll von einem phoenizischen Muster abstammen, das fliessendes Wasser bedeutete. [koennen wir auf Diaphanes verweisen?] Aber auch Texte, die direkt vom Wasser handeln, bergen - jeder hat ja seine Wassererfahrungen - z.B. Erinnerungen. Neulich lass ich - ganz Buchtrinker - die sehr spannende Kurzgeschichte >The Deep End< von Robert R. McCammon wieder, die von einem Monster handelt, das direkt im Pool lebt und dort Kinder ertraenkt. Das hat mich wieder an ein fruehes Schwimmbadtrauma erinnert. Als Kinder hatten wir im Freibad das Ritterspiel gespielt; einer nimmt einen anderen auf die Schultern und man versucht in der Gruppe so viele wie moeglich bei den anderen abzuwerfen oder diese zu Fall zu bringen. Der Kamerad, den ich auf der Schulter trug verliess sich auf mich und hoffte ich wuerde nach einem gemeinen Stoss unserer Gegner wieder auf die Beine kommen, obwohl wir schon eingeknickt waren. Da wir schon ziemlich aus der Puste waren, und er meinen fest mit seinen Beinen umklammerten Oberkoerper nicht loslassen wollte, erlebte ich, als wir laenger einen festen Stand wiederzuerringen versuchten, das erste Mal das ueberaus panische Gefuehl zu ertrinken: Im Suchen eines festen Halts die erste unbewusste, vor-cand. phil.-Erfahrung Hegels, nach welchem Wasser jenes Element ist, das >Begraenztheit der Gestalt nur von aussen erhaelt und sie nach aussen sucht [Adhaesion]< [Enzyklopaedie, 284]. Im Datenmeer, bei einem Internetspiel waere mir das sicher nicht passiert, ich haette mich vielleicht gespannt an die Stuhllehne geklammert. Eigentlich hatte ich das laengst verdraengt, aber mich bei der Lektuere McCammons dann recht fluessig wieder erinnert. Wasser hat mich schon als Kind angezogen; ich erinnere mich, dass ich bereits gut tauchen konnte, bevor ich die klassischen Schwimmtechniken erlernte. Wasser ist besonders an der Kueste ein ambivalenter Stoff; das Meer ist - je nach Zustand - ebenso schoen wie gefaehrlich und ein Urlaub kann dort leicht ins Wasser fallen. Ich erinnere mich, bei Freunden an der See zu einem solchen eingetroffen zu sein, wurde zwar - von mir vorerst Unbekannten - abgeholt, aber sogleich direkt an die Kueste umgeleitet, um wie andere Anwohner Sandsaecke zu schaufeln, damit die Geschaefte direkt am Strand vor einer starken Flut geschuetzt werden konnten. Der soziale Effekt des herannahenden Wassers war erstaunlich, denn selbst die, von denen man wusste, dass sie sich gestritten hatten, selbst die, die am Strand konkurrierende Geschaefte betrieben, machten ploetzlich gemeinsame Sache. Das herannahende Wasser hatte einen sozialen Effekt, damit auch nach der Flut die Touristen unbedenklich in sauberen Edelboutiquen trockne Kleidung einkaufen konnten. Vor allen auch Kleidung, die sie trocken haelt. Wasser und so auch das Meer als Metapher sind ueberall. Wasser ist Prinzip des Lebens, kann aber ebenso den Tod bringen [Erinnern sie sich an die eingangs erwaehnten Plastikflaschen?]. Alles ist von Wasserwissen durchtraenkt. Als Metapher des Sozialen illustriert das unruhige Meer auch allerorts in seiner Verdunkelungsmetaphorik die momentane, reissende Krise, die soziale Abstiegsszenarien imaginieren laesst. Bald - so scheint es prognostisch - sitzen alle auf dem Trocknen und die bis dahin recht trocken waren, fange das Trinken erst an. Der Finanzmarkt erscheint als schwarze, alles verschlingende See, die Steuergelder geraten in einen als unwiederbringlich vermuteten Sog, versickern vielleicht in dunklen Kanaelen. Die Weite des Finanzmeeres scheint unkalkulierbar geworden. Alles stuerzt in den Malstrom [auch Ahab und Kaept’n Blaubaer erwaehnen ihn] und erscheint wie ein schwarzer Dauerfreitag. Das Bild, was mir hier bezueglich der Krisenmetaphorik, und wie man den Ueberblick ueber als unaufhaltbar vermutete, sukzessive Prozesse behaelt, in den Sinn kommt, ist eben das literarische des Strudels aus E.A. Poes >A Descent into the Maelstroem<. In diesem Text ist das Meer als Metapher des Sozialen fuer die Generationenabfolge bezueglich einer Krise und deren Verarbeitung herangezogen. Literaturwissenschaftlich wuerde man diesen Text und seine Erzaehler eher im Bereich ureliable narration verbuchen oder ueberlegen was Poe uns da anhand seiner Lektueren der Encyclopaedia Britannica fuer eine uebertriebenes, fiktives Phantasma dieses Naturphaenomens vor Augen gestellt hat. Oft habe ich diesen Text so gelesen, doch momentan, gerade zur vielbeschworenen Krisenzeit - man muss ihn wiederlesen - faellt anderes ins Auge. Eigentlich ist das Erfahrungsliteratur, wie man sich von einem festen Standpunkt aus - dead in the water - trotz schnellster, vermeintlicher Abwaertsbewegung, wenn man in einen Strudel geraten ist, einen Krisenueberblick verschafft. Poes Geschichte handelt mehr von der Konjunktion von Meer und Arbeit als vom schauerlichen Strudel. Drei Fischer, Brueder, sind gierig, ganz Verfechter gewinnoptimierender Oekonomie, das Meer ist dabei ihr Feind wie ihre Lebensgrundlage, sie wollen stets in einem Tag abfischen, wofuer die anderen Fischer eine Woche brauchen. Dafuer fahren sie zur Stillwasserzeit am gefaehrlichen Strudel, dem Maelstroem, getaktet durch die Gezeiten und eine Taschenuhr mit ihrer Schmacke vorbei in besonders fischreiche Gewaesser. Die woanders moderat Fischenden gelten als furchtsam, die drei Brueder hingegen grenzen sich sozial ab und fischen an einer Stelle, die nicht nur - in der Uebersetzung Hans Wollschlaegers- >die feinste Varietaet, sondern auch weit groesseren Ueberfluss< bietet. Sie machen aus dem Fischen eine >desparate Spekulation: – an die Stelle der Arbeit [tritt] die Lebensgefaehrdung, und Mut entspr[i]ch[t] dem Kapital.< Doch die Taschenuhr bleibt stehen und die gierigen Anleger fahren zum Anlegen zu spaet zurueck und geraten in einem Unwetter in den alles verschluckenden Malstrom, sie haben sich verspekuliert. Zwei Brueder sterben, das Schiff wird hinabgesogen, nur einer ueberlebt. Er bindet sich an ein Fass, da er im paradox optischen Stillstand des verschlingenden Sogs dank hellem Mond vom Schiff aus beobachtet hat, dass manche Koerper - allerlei Zeugs wird da hinabgesogen - weniger schnell in die Tiefe des Strudels gerissen werden als andere. Seinem letzten Bruder kann er seine rettende Erkenntnis nicht verstaendlich machen, dieser haelt sich am Schiff und damit am von ihm imaginierten Ende fest. Der Erzaehler hingegen stuerzt sich - zum Kurswechsel ein anderes Medium besteigend - ueber Bord und das Fass, innovatives Rettungsboot, traegt ihn erst bis sich der Strudel schliesst und danach noch im Stillwasser in Richtung Land zu einem anderen Schiff, welches ihn rettend aufnimmt. Wo der eine alle Hoffnung fahren laesst, sucht der andere nach neuen Routen. So gibt es einen Erzaehler dieser Schifffahrt, der - ehemals spekulativer Fischer - nun Wanderfuehrer ist und seine Geschichte, die eine Allegorie sich verrechnender Finanzpolitik enthaelt, der Folgegeneration nach seinem Jobwechsel bestaendig erzaehlt. Bieten wir unserer Generation und der nachfolgenden ein Bild der sozialen Lage an, kann dies nicht dauerhaft das des Maelstroems oder vielleicht noch jenes des abgrundtiefen, ausweglosen Brunnenschachtes, in den die widergaengerische Wirtschaft uebertragen gestuerzt ist, aus z.B. dem Film >Ring< sein, das dort der Sohn Rachel Kellers, das Kind Aidan, als Strudel malt. Es muss eher das Bild einer ersehnten, hellen Stillwasserzeit sein, die uns vom Malstrom der Krise rettend, seicht stroemend wieder Richtung Land traegt oder zu einem moderaten Schiff, das uns an Bord nimmt - mit oekonomisch neuem Kurs. In Zeiten der Krise dreht man - immer wieder beliebt, gar schon historisch - den als ueberfluessig vermuteten kulturellen Einrichtungen und eher seicht vermuteten Geisteswissenschaften und damit ihren fuer die Kultur auch in Zeiten der Krise nuetzlichen Erkenntnisinteressen zuvoerderst und zu gerne den Geldhahn zu; auch Manager und Politiker sollten verstaerkt Poe lesen. Literatur vom Wasser: aqua magistra vitae. Prosit.

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