Eine andere Gesellschaft ist möglich – wir brauchen nur ein neues Betriebssystem

Die OECD prognostiziert: Deutschland wird bald keine Wirtschaftsmacht mehr sein. Doch was wird aus uns, wenn wir nicht mehr wachsen, weniger produzieren und keine Arbeit mehr finden? Die Kulturanthropologin und Berliner Gazette-Autorin Elisabeth Amrein glaubt, dass eine andere Gesellschaft möglich ist. Eine, in der wir länger lernen dürfen, Ehrenamt als Arbeit gilt und Steuern gerechter verteilt werden. Zeit für ein neues Betriebssystem.

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Jeremy Rifkin, Gründer und Vorsitzender der Foundation on Economic Trends, erklärte schon vor 17 Jahren, dass das Ende der Arbeit erreicht ist. Es bedarf laut Rifkin nur noch circa 10 Prozent der Bevölkerung, um den Status Quo aufrecht zu erhalten. Wenn sich eine Gesellschaft aber diesen Luxus leisten kann, kann und darf die Folge nicht sein, dass sich diese 10 Prozent 100 Prozent des Gewinns einverleiben können. Der Gewinn ist aufgebaut aus den Ressourcen der ganzen Bevölkerung und wenn es reicht, dass 10 Prozent von ihnen arbeiten gehen, ist es die logische Folge, dass auch die restlichen 90 Prozent davon profitieren müssen. Und es ist nicht so, als gäbe es nicht genug zu tun.

Soziale und kulturelle Aufgaben werden zurückgespart und seit langem vernachlässigt, die Folgen dieser Vernachlässigung bezahlt die Gesellschaft später teuer. Jedoch selten die 10 Prozent, die vorher profitiert haben. Ein konkretes Resultat ist eine immer schlechter gebildete Masse, die sozial, emotional und intellektuell überfordert ist und sich am Rande der Gesellschaft sieht, die sie eigentlich ausmacht.

Lernen und arbeiten nach Schema F


Wenn wir so eine luxuriöse Gesellschaft haben, warum scheuchen wir unsere Kinder und Jugendlichen im Eiltempo durch die Bildungsstätten? Warum verschulen wir unser Hochschulsystem, wo doch alle wissen, dass gute Bildung Zeit braucht? Die Verschulung produziert „Fachidioten“, an diesem wenig eleganten Begriff sieht man, dass das auch im allgemeinen Mediendiskurs angekommen ist.

Was ist mit Fachidioten gemeint? Nichts anderes, als dass diese Menschen nicht mehr das Denken an sich lernen, sondern bestimmtes Fachwissen in quantitativer Art und Weise eingehämmert bekommen, das sie im besten Falle auf ihr Spezialgebiet einigermaßen anwenden können. Was wir aber brauchen, sind starke, selbstsichere, kritische und kreative Charaktere, die sich zum einen in dieser flexiblen Gesellschaft zurechtfinden und zum anderen Ideen hervorbringen, wie die aktuellen Probleme zu lösen sind.


Wer kennt das nicht aus Vereinszusammenhängen, aber auch aus Betrieben? Es fehlt meist an denen, die selber mitdenken, die sich Aufgaben suchen, durch Beobachtung lernen und selbstständig arbeiten. Das sind aber nicht die, die durch das Bildungssystem nach Schema F gepeitscht wurden, da wird genau so ein wünschenswertes Verhalten untergraben und torpediert, man fällt durchs Raster.

Es gibt noch viel zu tun


Zurück zur Arbeit: Gibt es nicht massenhaft Arbeit, wenn wir daran denken, wie viel Integrationsarbeit zu leisten wäre? Wie viele Aufklärungs- und Kulturinstitutionen drehen jeden Cent dreimal um und befinden sich selbst ständig vor dem finanziellen Ruin? Aber da beißt sich die Katze in den Schwanz. Es sind genau diese Einrichtungen – ich denke da an autonome Kulturzentren, an Beratungsstellen, an Mädchencafés, an Literaturcafés oder an Bürgerinitiativen zum Erhalt denkmalgeschützter Gebäude –, die die Bildungsarbeit auffangen könnten, im Sinne von Charakterbildung und selbstständigem Arbeiten, die eigentlich die Schulen und Universitäten leisten müssten.


Es sind solche Initiativen, die davon profitieren müssten, wenn nur noch 10 Prozent (und selbst wenn es dreißig wären) der Menschen arbeiten müssen. Für eben jene müssten genug öffentliche Gelder da sein, um eine lebenswertes Leben zu leben und um eine lebenswerte Gesellschaft zu gestalten. Dieses lebenswerte Leben würde so aussehen, dass die Frage, ob man Kinder bekommt oder nicht, eine individuelle Entscheidung ist, und nicht eine die am Geldbeutel, an Zukunftsängsten oder an Kitaplätzen entschieden wird.

Es wäre ein Leben, in dem man sich entscheidet, ob man ganz oder Teilzeit arbeitet – einfach, weil man auch vom halben Geld leben kann, weil man sich Stellen auch teilen kann, wenn sie anständig bezahlt sind. Ein Leben, in dem nicht abertausende Menschen Vollzeit arbeiten gehen, dann aber trotzdem vom „Arbeitsamt“ aufgestockt werden, sich dort erniedrigen lassen müssen, bei mehr als vierzig Stunden Erwerbsarbeit in der Woche.

Der Weg dorthin


Was wir dafür brauchen ist ein Steuersystem, das bei den wirklich Reichen richtig zuschlägt und Schlupflöcher vermeidet. Wir müssen aufhören, immer Angst vor der Abwanderung von Unternehmen zu haben. Es kann nicht sein, dass Unternehmen damit drohen, sich ins Ausland zu verlegen – was sie dann doch nicht tun, und wenn, dann nur ihren Hauptsitz, während zwei Drittel des Unternehmens aber hier bleiben, Infrastruktur und Markt weiterhin nutzend. Wenn ein Unternehmen die Mehrheit seines Betriebes hier hat, dann muss es auch hier Steuern zahlen.


Die staatlichen Einnahmen müssen dann gerecht verteilt werden und es muss die Denke aufhören, Geld gäbe es nur für „ordentliche“ Arbeit. Was ordentliche Arbeit ist und was nicht, kann nicht von einem Arbeitsethos aus Bismarckscher Zeit bestimmt werden. Die Zeiten haben sich geändert. Ehrenamtliche Arbeit ist kein Luxus, sondern in den meisten Fällen eine existenzielle gesellschaftliche Arbeit. Wenn die Vereine, in denen diese Arbeit geleistet wird, ihre Mitglieder nicht bezahlen können, sollte diese wenigstens vom Staat anerkannt werden. Anerkannt in dem Sinne, dass das Geld, das man bekommt, zum Leben ausreicht. Dass weder Hartz IV-Empfänger, noch Menschen, die ihre Zeit für gesellschaftliches Engagement aufwenden, von massiven Repressionen staatlicher Institutionen ausgesetzt sein müssen.

Herdprämie ist keine Lösung

Eine andere Gesellschaft ist möglich und so greifbar wie schon lange nicht mehr. Jetzt ist der Zeitpunkt, wo die Wende hin zu einer Gesellschaft, die lebenswert ist, gelingen kann. Hören wir auf, gegen den demographischen Wandel mit unsinnigen Maßnahmen wie Herdprämien anzugehen. Schauen wir der Tatsache ins Auge, dass Menschen in dieser Gesellschaft keine Kinder mehr bekommen können oder wollen.

Schaffen wir eine Gesellschaft, in der Menschen wieder leben wollen, dann werden wenigstens die wenigen Kinder glücklicher aufwachsen können. Und natürlich geht es nicht nur um Kinder, auch die jetzt schon Erwachsenen wollen in einer Welt ohne ständigen Konsum- und Zeitdruck, Zukunftsangst und Verwertungszwang leben. Die Anzeichen dafür sind zahlreich, eines dieser Anzeichen ist die Statistik über Burn-Outs und Depression am Arbeitsplatz. Es geht auch anders. Ein bisschen weniger Wohlstand für wenige und mehr Lebensqualität für viele. 


Anm.d.Red.: Das Foto oben stammt von DeusXFlorida und steht unter einer Creative Commons Lizenz.

12 Kommentare zu “Eine andere Gesellschaft ist möglich – wir brauchen nur ein neues Betriebssystem

  1. Der Artikel ist toll! Das Problem weitgehend -auch in die Tiefe der Gesellschaft- “erkannt” bzw. am eigenen Leib erfahren.
    Aber die Lösung?
    Wie kommen wir welcher Lösung näher?
    Und wer ist überhaupt WIR?
    Alma

  2. Der Artikel geht in die richtige Richtung. Doch einen Nachsatz habe ich: allein, wenn Kapital, Maschinen etc besteuert würde, und nicht so sehr Arbeit, dann wäre das eine lternative zu immer mehr Arbeitsplatzabbau.

  3. “Eine andere Gesellschaft ist möglich und so greifbar wie schon lange nicht mehr.” – ja, es ist eine ganz andere Gesellschaft möglich, als die Autorin denkt: es bildet sich langsam, immer schneller, aber sicher der totalitäre Überwachungsstaat heraus und niemand bemerkt das. Menschen, die mitdenken und warnen, die kreativ mit Arbeit und Gesellschaft umgehen, stehen in den meisten betrieben und Gemeinden allein da, verlassen von denen die sagen: “was geht mich das an” und “ich kann mich nicht um alles kümmern”, wenn eine Schulsenatorin sagt “Der weitgehende Austausch zwischen Schule, Jugendamt, Polizei, Familiengerichten und Schulaufsicht muss systematisch ausgebaut werden”
    http://www.spiegel.de/schulspiegel/schuelerdatei-und-klassenbuch-berliner-schulen-schicken-schwaenzern-sms-a-864584.html

  4. Es gerät schon viel in Bewegung, aber die Puzzlestücke sind noch weit verstreut. Ein paar Appetithäppchen habe ich gesammelt: http://www.actionforhappiness.org, das Buch Society 3.0 von Ronald van den Hoff (bisher in NL und englisch), Jaap Peters über die “Rijnlandse Organisatie”, eine Abkehr vom Taiyorismus, die neuen Erkenntnisse der Gehirnforschung, der mögliche Wandel der Lernkultur, die Abkehr vom Behaviorismus mit der Annahme, dass Menschen, Ratten, Tauben und Mäuse viele Gemeinsamkeiten haben mit den Ansätzen zur Dressur durch Bonussysteme und anderen Quatsch.
    Vielleicht reiben wir uns eines Tages die Augen und stellen fest, wie weit die Niederländer uns auf dem Gebiet einer neuen Ökonomie voraus sind!

  5. Die Antwort werden wir in wenigen Jahren erfahren. Ich tippe auf Bluescreen.

  6. danke für die Anregungen! von Theorie zu Praxis – wie geht dieser Schritt schnellstmöglich, damit wir nicht so lange warten müssen?

  7. Ein Weg wäre, wenn auch nicht der leichteste, mutig voran zu gehen (am besten mit Freunden zusammen) und es einfach so gut es eben geht, schonmal vor zu leben. Um irgendwann eine “relevante” gesellschaftliche Größe, Wählerschicht darzustellen…

  8. Da gibt es doch diese Zeitgeistbewegung (mit guten Filmen!)die konkrete Tips gibt selbst taetig zu werden.

    Eine Moeglichkeit sind Kommunen die das meiste in Eigenregie regeln, also Kindergarten, Schule, Obst- und Gemueseanbau uws.

    Ist nicht einfach durchzuziehen aber muesste schon moeglich sein. Und sollten solche Kommunen einmal funktionieren folgen sicherlich immer mehr Leute diesem Beispiel.

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