Schreiben ist reisen

>Die Welt ist ein Buch und die, die nicht reisen, lesen nur eine einzige Seite.< das sagte schon Augustinus. Doch im Zeitalter hyperverlinkter Netzwerke liest oder reist du eigentlich immer, manchmal sogar ohne es zu wissen. >Reisen ist schreiben<, schlug Augustinus vor. >Lesen ist umgekehrtes Schreiben<, meinte Alfonsas, mein Lieblingsprofessor an der Kunsthochschule. Jeder weiss, dass es ziemlich gefaehrlich ist, in einem sich bewegenden Fahrzeug zu lesen. Hier reist du naemlich auf zwei Arten gleichzeitig: Physisch und in der Buchrealitaet.

Wenn diese beiden Realitaeten verschmelzen, ist ein gewisses Schwindelgefuehl wohl unvermeidlich. Ich fuehle mich immer ein bisschen schwindelig, wenn ich die Stadt fuer die Provinz verlasse. Ich vermute mal, dass das wegen verschiedener Reisegeschwindigkeiten passiert. Auf der Autobahn reist du mit Hoechstgeschwindigkeit, waehrend du in der Kulturlandschaft ziemlich langsam unterwegs bist. Doch in der Stadt wirst du schneller, je langsamer du dich bewegst. In der Stadt wirst du mit Informationen bombardiert – in der Provinz bist du auf einmal selbst diese Information, die die langsam reagierende Umgebung bombardiert.

Fuer meine Reise von Vilnius nach Palanga ueber den Plateliai-See in Samogitia habe ich ein bisschen Lesestoff ausgedruckt. Als ich mir das Material im Auto dann angeschaut habe, merkte ich, dass alles total unlesbar war. Meine Druckerpatrone hatte keine Tinte mehr – daher hatten zwar alle Texte Konzepte aber es fehlten Buchstaben, Woerter und auch ganze Saetze. Ich musste also Buchstaben und Woerter einsetzen – so wie du es auch beim Reisen machst: Du projizierst deine Vorurteile auf die neue, unbekannte Umgebung. Die Leerstellen in den Texten wurden zu Projektionsflaechen.

Ich schaute durch das Fenster unseres rasenden Autos und erinnerte mich an Kinotheorien. Kinematographie kann man als sich bewegenden Zug mit Waggons [= Rahmen] begreifen, die Leinwand ist wie das Fenster des Zuges, durch das du die vorbeiziehende Landschaft beobachtest. Stell dir einen Filmprojektor als umgekehrten Zug vor. Die Landschaft bewegt sich, doch der Zug steht still. So wird die Landschaft zu >Material< und der >Zug< einfach zu einem anderen Wort fuer Kino. Der junge litauische Kuenstler Liudvikas Buklys stellte ein Werk her, indem er einen Haufen A4-Blaetter in der Haelfte zerriss. Ein Teil wurde in der Kabine des Zugfuehrers angebracht. Der andere Teil wurde in der Galerie platziert, wo es die Betrachter mit dem anderen, >reisenden< Papierstueck verband. Beweist diese Arbeit nicht, dass schreiben reisen ist und dass >Papier< nur ein anderes Wort fuer >Bildschirm< ist, ein weiteres Vehikel, dass uns >rausholen< soll? [Anm. d. Red.: Der Text ist waehrend des Transient Spaces Summercamps entstanden. Die Reihe wird in loser Folge in der Rubrik Reisen fortgesetzt.]

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