Sanfte Parallelvergesellschaftung

In Alanya, etwa vier Kilometer vom Zentrum und hundert Meter vom Meer entfernt, lebe ich seit 2002. Jeder Tag laeuft anders ab als ich es plane. Unter normalen Umstaenden haelt das kein Mensch aus, sollte man denken. Aber es ist moeglich. Allein nur, wenn ich morgens auf mein >Dolmus<, mein Sammeltaxi, warte und das blau-tuerkise Meer sehe und es in vollen Zuegen auch einatmen kann, dann bin ich vollgetankt mit Energie, offen fuer den Tag und das, was er zu bieten hat. Auch die Europaeer, die hier leben, sind von dieser Stimmung infiziert. Im taeglichen Umgang merkt man: Wer stur Termine einhalten will, ist hier am falschen Platz. Wer beim Kunden kurz angebunden nur abkassieren und weiter ziehen will, bekommt den Vorwurf zu hoeren: >Wo bleibt die menschliche Beziehung? Sie haben nicht mal Zeit, mit uns einen Tee oder Kaffee zu trinken und zu plaudern.< Deshalb moechte ich an dieser Stelle behaupten, dass >die Menschenrechte< im tuerkischen Volk in dieser Hinsicht verwirklicht worden sind.

Eigentlich bin ich Gross- und Aussenhandelskauffrau. Meine Spezialgebiete sind die Projektleitung, Praesentation und Organisation. Mit meinen Kenntnissen habe ich hier ziemlich schnell Fuss fassen koennen. Zuerst habe ich drei Jahre lang als Reiseleiterin bei einem Reisebuero gearbeitet, auch im Winter. Dann habe ich angefangen, als Redakteurin fuer die deutsche Zeitung >Prima Tuerkei< zu arbeiten. Eigentlich wollte ich mich nur so hin und wieder engagieren und mein Dasein hier weiterhin geniessen. Aber es ist ja hinlaenglich bekannt, dass die Deutschen ihren Koffer voll Stress ueberall hin mitnehmen. Eigentlich sollte das beim Zoll deklariert werden, so etwas duerfte jedenfalls nicht hierher eingefuehrt werden. Die Deutschen, die hier leben, kann man nicht alle in einen Topf werfen. Es gibt solche und solche. Die einen glauben beim Kauf einer Immobilie, dass sie die ganze Tuerkei gekauft haetten und stellen fuer wenig Geld hohe Ansprueche. Gott sei Dank sind sie in der Minderheit. Ich bezeichne solche Leute als >Besserwisser< oder >Dauernoergler<. Aber es gibt auch solche, die sich hier eingelebt haben. Die Kurzzeiturlauber, vor allem diejenigen, die zum ersten Mal hierher kommen, sind angenehm ueberrascht. Sie haben sich die Tuerken und die Tuerkei ganz anders vorgestellt, verglichen mit den in Europa lebende Tuerken und dem, was man so ueber die Tuerkei in den Medien erzaehlt. Das wiederum ist fuer einige >Besserwisser< ein Ansporn. Statt die einmalige Natur und die unglaublichen historischen Denkmale fotografieren sie lieber den Muell, der irgendwo am Abhang liegt. Was wollen sie damit beweisen? Dass so etwas nicht in die EU darf? Dann sollten sie das auch in ihrem eigenen Land ueberpruefen! Kein Land ist da besser als das andere. Wir Menschen sind seit eh und je bemueht, alles besser zu machen. Aber was ist der Massstab? Wir sollten nicht immer vergleichen, schon gar nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Denn dabei zeigen die restlichen drei Finger auf einen selbst! Zugegeben, mich stoert auch der Muell, der hierhin und dahin weggeworfen wird. Die Frage ist doch: Liegt die Verantwortung nur bei der Regierung oder auch bei jedem Einzelnen? Viele sagen zwar: >Das ist mein Land<, aber fuer den Muell ist dann die Regierung verantwortlich. Dieses Denkschema ist ein Fehlprodukt und leider kennt es keine Landesgrenzen. Die Langzeiturlauber kommen entweder im Fruehjahr, wenn alles am Bluehen und ueberall von tausend Dueften umhuellt ist, oder im Winter, wenn es nicht so heiss ist. Wenn man von Dauerurlaubern spricht, dann sind das eigentlich wir alle hier - zumindest, wenn man die Gegend zu geniessen weiss. Wer gemeinhin mit Dauerurlaubern gemeint ist, sind die vielen Europaeer, die sich hier fest niedergelassen haben. Das sind nicht nur Rentner, sondern auch Leute, die hier ein Geschaeft aufgebaut haben und die die zweite Generation aufziehen. Bisweilen leben sie in Siedlungen, die kein Tuerke betreten darf. Das wird von den Einheimischen akzeptiert. Und so koennte man sagen, dass hier an der >tuerkischen Riviera< Parallelgesellschaften am Entstehen sind. Nicht zuletzt, weil das Heiraten hier nicht unbedingt notwendig ist, um ein Liebesleben fuehren zu koennen. Sie brauchen lediglich eine Aufenthalterlaubnis, das >Ikamet<, und die wird ihnen schnell erteilt, ohne dass ihre Privatsphaere ausgefragt und angegriffen wird. Es gibt jedoch auch Deutsche, die nur unter Tuerken leben wollen und die tuerkische Kultur besser verstehen wollen. Es gibt sogar welche, die die tuerkische Staatsangehoerigkeit und manchmal auch die Religion angenommen haben. Sie versuchen die tuerkische Kultur zu begreifen und Tuerkisch zu lernen. Ich moechte in diesem Zusammenhang keinesfalls die Frauen unerwaehnt lassen, die hier einen tuerkischen Mann kennen gelernt und sich Hals ueber Kopf verliebt haben. Es gibt nicht wenige von ihnen, vielen fehlt allerdings das Verstaendnis fuer die tuerkische Kultur. Um ehrlich zu sein: Ich kann mich von Deutschen nicht loesen oder die koennen sich von mir nicht loesen. Das klingt etwas ueberheblich, aber es ist eben so. Beim kleinsten Problem rufen sie mich an, weil ich gerne helfe und, was ganz wichtig ist, die beiden Kulturen sehr gut kenne. Mittlerweile habe ich hier viele deutsche Freunde. Wir unternehmen gemeinsam etwas, fahren zusammen durch die Gegend. Ich gebe auch Ratschlaege und Tipps, muss mir Beschwerden anhoeren und so weiter. Die Leute, die ich naeher kennen lerne, sind ernsthaft daran interessiert, unsere Kultur zu verstehen und zu lernen. Das einzige Hindernis ist die Sprache. Aber selbst das ist eigentlich kein Problem, weil viele Einheimische hier verschiedene Sprachen koennen. Deswegen besteht fuer die Eingewanderten keine Notwendigkeit, die tuerkische Sprache zu lernen. Frueher hiess es >deutsche Sprache, schwere Sprache<. Das gehoert nun der Vergangenheit an. Jetzt heisst es >tuerkische Sprache, schwere Sprache<. Das stimmt aber nicht. Tuerkisch ist eine sehr harmonische Sprache und sehr logisch aufgebaut. Deutsch habe ich uebrigens in Deutschland gelernt. Ich ging damals dorthin, um meine Schulferien bei meinen Geschwistern zu verbringen, da meine Mutter ein Jahr zuvor verstorben war. Ich habe keinen Grund gesehen, wieder zurueck in die Tuerkei zu gehen und blieb da. Ich habe daraufhin meinen Schulabschluss und die Berufausbildung in Deutschland gemacht. Warum ich die Sprache gelernt habe? Ich liebe die Kommunikation und Fremdsprachen haben mich immer interessiert. Ich muss den ganzen Tag Tuerkisch und gleichermassen auch Deutsch sprechen, versuche allerdings weder >Mischmasch< noch >Kauderwelsch< zu verwenden. Schliesslich habe ich Hochdeutsch gelernt, obwohl ich in den Gebieten war, in denen sehr stark Dialekt gesprochen wurde, wie in Schwaben, Berlin und Bayern. Und mein Tuerkisch ist ein sogenanntes >Istanbul-Tuerkisch<, also dialektfreies Tuerkisch. Dennoch passiert es mir hin und wieder, dass die Automatisierung versagt und ich durcheinander komme. Das kann schon lustig sein, zumindest lernen die Tuerken auf diese Weise etwas Deutsch und die Deutschen Tuerkisch - hoffe ich zumindest. Wenn ich aber die deutschen Mitbuerger so betrachtete, sehe ich einige, die wirklich gut tuerkisch sprechen und wiederum andere, die beim Lernprozess haengen geblieben sind. Wiederum andere sehen die Notwendigkeit nicht, die Sprache zu lernen, weil sie sich nur mit Deutschen unterhalten. Ich moechte hier unterstreichen, dass die Tuerken sehr selten jemanden korrigieren, und das auch nur wenn sie gefragt werden. Die Tuerken benutzen lieber ihre Haende, Fuesse und Gestik und zerstueckeln nicht ihre Landessprache, um sich zu verstaendigen.

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