Internet-Hype und Protest-Boom: Are we talking about a revolution?

„Don’t you know you’re talking about a revolution“ klang es aus Andi Weilands iPod, als er über seinen Jahresrückblick nachdachte. Der Politik Orange-Herausgeber und Berliner Gazette-Gastredakteur hörte Tracy Chapman mit ihrer wundervollen Stimme über eine Revolution der Armen singen. Mit Blick auf das Jahr 2010 sieht er: diese Revolution rückt langsam näher.

Seit mehr als einem Jahr beschäftige ich mich mit den neuen politischen Beteiligungsformen durch Social Software. Durch die neuen Techniken (beispielsweise Apps und Smartphones) und die Vereinfachung des Zugangs zu Informationen, haben Dienste wie Twitter oder Wikileaks eine kritische Grenze überschritten. Sie sind nicht mehr nur Spielzeuge für irgendwelche Nerds, sondern in der Populärkultur angekommen. Vielleicht auch noch nicht durch die direkte Nutzung, aber durch Massenmedien.

Der Spiegel beweist online fast seit Mitte des Jahres, dass man Twitter und Facebook als Nachrichtenquelle nutzen kann. Viele Themen werden früher in Blogs und auf Twitter diskutiert, bevor sie bei den klassischen Medienangeboten online erscheinen.

Das Internet ist nicht Schuld

Diese neue Art des Agenda Settings kann toll sein, wenn somit umstrittene Bauprojekte wie Stuttgart 21 oder die Diskussion über die Atomlaufzeitverlängerung an Relevanz und einen öffentlichen Raum gewinnen. Es kann aber auch negative Folgen haben, wenn beispielsweise die digitale Trauer wie nach dem Unglück bei der Loveparade mit einem einfachen R.I.P. kommentiert und die wahre Trauer der Menschen somit ad absurdum geführt wird oder wenn Plattformen, die Informationen veröffentlichen, als terroristische Organisationen eingestuft werden. Aber daran ist grundsätzlich erstmal nicht “das Internet” Schuld, es ist nur das bisher beste Werkzeug für unseren digitalen Expressionismus.

2010 wurde so viel protestiert, wie ich es aus meinem Erinnerungszeitraum, der etwa 18 Jahre umfasst, nicht kannte. Aber vielleicht täuscht das Bild auch, weil ich es über Twitter und ähnliche Dienste erfahre, dessen Dunstkreis auch nicht größer sein dürfte, als die Redaktionen der großen Zeitungen zusammen. Aber den Kreis mag ich, weil man sich den Radius aussuchen kann und man nicht mehr das Gefühl hat, so ganz alleine mit seiner Meinung zu stehen.

Was ist es genau?

Es ist schön, wenn auch noch andere Menschen die aktuelle Politik mit einer angenehmen Portion Zynismus kritisieren und im nächsten Moment via Twitter über den #tatort oder #bsf sinnieren. In diesem Jahr habe ich vor allem durch meine Arbeit für die Jugendpresse Deutschland verschiedene Seminare besucht (z.B. Mobile Textkulturen) und in einigen Communities viele tolle Menschen getroffen, die gerne über die aktuellen Entwicklungen in der Gesellschaft reden, ohne sie wegen zu geringer Klausurrelevanz abzubrechen.

In vielen Diskussionen stellten wir fest, dass sich irgendwas in der Welt verändert und zwar durch “das Internet”, aber was es genau ist, das konnte das Jahr 2010 noch nicht beantworten. Vielleicht ist uns einfach noch nicht bewusst, dass wir über eine Revolution sprechen.

Meine Top of the Pops 2010

Alben:
Mumford & Sons, Laura Marling & Dharohar Project – India Tour EP
Kettcar – Fliegende Bauten
Interpol – Interpol
Menomena – Mines
entertainment for the braindead – roadkill

Songs, die 2010 passten:
Der Traum ist aus – Rio Reiser
Born Free – M.I.A.
Berlin – Christiane Rösinger
Quark – die ärzte
In der Bibliothek – Superpunk

Wiederentdeckungen 2010:
The Draft und Chuck Ragan
Tracy Chapman und The Smiths
Bücher
Erdnussbutter mit Marmelade
Fahrradfahren

Magazine:
enorm
Missy Magazine
De:bug
11 Freunde
Fluter

Bücher, die ich 2010 gern las:
Max Goldt – Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens
Alex Rühle – Ohne Netz
Heinz Strunk – Die Zunge Europas
Tom Schimmeck – Am besten nichts Neues
Ferdinand von Schirach – Verbrechen / Schuld

Wörter 2010:
Verbummelt
Schnabulieren
Niveaulimbo
Haekelschwein
Urangela

7 Kommentare zu “Internet-Hype und Protest-Boom: Are we talking about a revolution?

  1. was ist digitale Trauer? und was ist wahre Trauer? ich persönlich bin sehr skeptisch wenn das digitale, virtuelle gegen das wahre, wahrhaftige ausgespielt wird, denn was ist schon das digitale, wenn nicht teil unserer wahren Wirklichkeit und alle digitalen Äußerungen ebenso Teil davon sind oder vielleicht wahrer?

    mag schon sein, dass vieles im Internet sich leichter so hinsagen lässt und Freundschaften schneller und einfacher entstehen und vergehen, nur schneller und einfacher bedeutet nicht notwendigerweise weniger wahr.

    so müssen wir uns auch fragen: was ist Trauer? wann und wie trauern Menschen? was für Rituale, Taboos, etc. gibt es? Wie wollen wir trauern? Wie dürfen wir nicht trauern?

    Wir sollten anhand von unverständlichen Äußerungen eher unsere moralischen Grundlagen hinterfragen und die gesellschaftlichen Standards an sich. Das Internet macht abweichendes Verhalten einfacher einer breiten Öffentlichkeit sichtbar, ohne das wir in der Lage sind, zu wissen, was ein Mensch, der R.I.P. geschrieben hat, damit sagen wollte, wie es in ihm drin aussieht usw.

  2. ich finde es interessant, dass du vom “internet” sprichst und nicht vom web 2.0, wie es vor einzwei jahren vielleicht noch der fall gewesen wäre. vielleicht ist das netz ja auch endlich bei sich selbst angekommen?

  3. bei Revolution muss ich als Internet-Opa (wieviel Internet-Jahre sind nochmal ein Jahr im analogen Leben?) unweigerlich an die Mythen denken, die sich mit der großspurigen Einführung des Internet als Massenmedium in den 1990er Jahren verbreiteten: Cyberspace als neuer Kontinent, Befreiung aller Menschen (Stichwort: Selbstermächtigung, etc.) und natürlich die so genannte New Economy. Alles in allem ein gemischtes Gefühl.

  4. @zk, ja du hast Recht, dass man vielleicht eine digitale Trauer nicht unbedingt von einer wahren Trauer trennen kann, aber 2010 gab es Todesfälle, die ein relexartiges “R.I.P” zur Folge hatte und dieser Impuls störte mich. Digitale Trauer kann zum Beispiel auch auf das Werk eine Menschen hinweisen, indem man es verlinkt oder auch eine Auseinandersetzung mit den Menschen geben, aber einfach nur schnell ein RIP…ich weiß nicht. Oder man kann einfach mal nichts schreiben.

    @jerome, ich habe “das Internet” gewählt, weil oft in den Medien dieser Begriff verwendet wird, ohne es einzuordnen und meistens mit einer negativen Konnotation, wie “das Internet ist ein rechtsfreier Raum”. Es wird dabei oft das Internet mit Probleme und Emotionen aufgeladen, ohne es als Medium der Verteilung und Vernetzung zu verstehen. Als ob man ein “das Buch” an sich verurteilt, weil es auch verfassungsfeindliche Schriften gibt. Den Begriff des “Web 2.0” sehe ich dabei nur als einen Begriff unter vielen, wie es auch schon Rainald Krome in seinen Kommentar schreibt.
    Ich habe bei den ganzen Entwicklungen auch ein gemischtes Gefühl, aber hat man das nicht bei jeder Veränderung?

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