Refugees und Internet: Digitale Karten, Twitter-Kanäle und selbstorganisierte Internetcafés

Bewegungskontrolle avanciert zum zentralen Politikum der Big-Data-Gesellschaft. Also gilt es die Verkehrsbedingungen von Menschen und Daten zu erkunden. Auch müssen wir untersuchen wie die Bewegung von Menschen immer mehr zu einer technologischen Angelegenheit wird. Damit die Diskussion nicht abstrakt bleibt, stellt Berliner Gazette-Redakteurin Magdalena Taube aktuelle Projekte vor, die netz- und migrationspolitische Fragen zusammendenken.

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Viele Refugees, die neu in der EU ankommen, besitzen ein Smartphone. Ein lebenswichtiges Werkzeug, um Routen zu recherchieren, mit der Familie in Kontakt zu bleiben, andere Sprachen zu verstehen oder einfach nur um Videos und Fotos aufzunehmen. Das Internet spielt also eine wichtige Rolle: Bei der Flucht und beim Ankommen. Doch wie wird das Netz konkret genutzt – von den Geflüchteten selbst oder auch den vielen Ehrenamtlichen? Welche netzbasierten Anwendungen sind bisher entstanden?

@Raqqa_SL: Ein Twitter-Kanal von BürgerInnen aus Raqqa bietet Informationen aus erster Hand

Ein Twitter-Kanal, der mich nachts nicht ruhig schlafen lässt: Anfangs waren es 17 Leute, die den channel Raqqa is being slaughtered silently betreut haben. Einige von ihnen noch in Raqqa, andere bereits geflüchtet. Sie berichten aus erster Hand über die Gräueltaten des so genannten Islamischen Staats, posten Fotos und Videos.

2015 wurden die BürgerjournalistInnen mit dem “International Press Freedom Award” ausgezeichnet. Einer von ihnen, Abdelaziz Alhamza, wurde in der SZ portraitiert – seine Aktivitäten in einem Wort gebündelt: todesmutig. Der Kanal ist eine der wenigen unabhängigen Informationsquellen aus Raqqa, die es überhaupt noch gibt.

#MyEscape: Geflüchtete erzählen ihre Geschichten mit dokumenatrischen Handyfilmen

In der 90-minütigen Doku “My Escape” berichten Geflüchtete über ihre Reisen nach Europa. Die Männer und Frauen werden zu Reportern ihrer eigenen Geschichten, denn das meiste Filmmaterial stammt aus Aufnahmen, die sie während der Flucht gemacht haben – mit ihren Smartphones.

Auf YouTube kann man sich einen kurzen Trailer anschauen: Clips in denen man Menschen in Hotelzimmern sieht, mitten in der Wüste oder auf einem überladenen Schlauchboot. Oft machen sie Witze über ihre Situation. Die Doku erzählt die Geschichten – die gefährliche Wege, die sie einschlagen, die Feindseligkeit, auf die sie in Europa treffen – neu und anders.

Arriving in Berlin: Interaktive Karte hilft beim Zurechtfinden

Wenn die gefährliche Flucht geglückt ist, dann ist die Reise oft nicht vorbei. Dann heißt es Ankommen: Wo gibt es einen Allgemeinmediziner, der Farsi spricht? Welch Ämter sind wofür zuständig? Wer bietet Deutschkurse an und wo kann ich Bücher ausleihen? Wer neu in eine Stadt kommt, hat viele Fragen. Im letzten Jahr sind 80.000 Geflüchtete nach Berlin gekommen, die sich als Neuankommende hier orientieren müssen.

Die Karte Arriving in Berlin hilft dabei. Hamidullah Ehrari, Mohammad Yari, Farhad Ramazanali und Alhadi Aldebs, die selbst nach Berlin geflohen sind, haben die Karte entwickelt und die Daten zusammengetragen.

Ankommenapp.de: Eine App für Geflüchtete

Ein anderes Hilfmittel ist die Ankommen-App. Sie ist in mehreren Sprachen verfügbar und soll auch offline funktionieren. Es gibt einen Deutschkurs, allgemeine Infos zum Leben in Deutschland und auch Hilfestellungen zum Thema Asylantrag.

Hinter der App, die in nur sieben Wochen entwickelt wurde, stehen das Goethe Institut, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Bundesagentur für Arbeit und der Bayerische Rundfunk. Die Idee der App ist zwar gut, doch wirkt sie wenig attraktiv. Und es bleibt auch die Frage: Lieber eine eigenständige App entwickeln oder auf Netzwerke und Plattformen bauen, die ohnehin schon genutzt werden?

#ausnahmslos: Kampagne gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus – nicht nur im Netz

22 FemistInnen aus dem deutschsprachigen Raum haben mit #ausnahmslos eine Kampagne gestartet, die konkrete Forderungen aufstellt und Lösungen vorschlägt, was den Umgang mit sexualisierter Gewalt angeht und der Instrumentalisierung der Ereignisse in der Silvesternacht in Köln entgegenwirken will.

Auch für die Medien gibt es konkrete Forderungen, darunter unter anderem: “Redaktionen müssen vielfältiger werden. Nach wie vor sind nur ein Bruchteil der Journalist_innen in Deutschland nicht-deutscher Herkunft und Berufswege stehen vor allem Menschen mit formal hoher Bildung offen.

Männlich, heterosexuell und weiß dominierte Chefredaktionen tragen dazu bei, dass Themen, die andere Geschlechter, Ethnien und Minderheiten betreffen, nicht mit ausreichend Raum und Kompetenz behandelt werden.” Die Kampagne musste viel Kritik einstecken – neben sexistischen Gegenaktionen, gab es auch differenziertere Meinungen. So bleibt für mich zumindest eine Frage offen: Haben sich hier medienaffine Frauen auf ein Thema draufgesetzt um awareness für die eigene Agenda herzustellen? Ich vermisse: Die Stimmen von refugees unter den Zeichnerinnen der Kampagne.

Bildkorrektur: Bilder gegen Bürgerängste

14 Zeichnerinnen und Zeichner haben sich zusammengetan und sammeln hier auf einem tumblr Bilder gegen Bürgerängste. Klischees, Ängste und Vorurteile gegenüber Geflüchteten werden in Zeichnungen festgehalten und im nächsten Atemzug entkräftet. (Super Extra: Eine tolle Fundgrube für gehaltvolle Facebook-Posts.)

Vox refugee: Stimmen der Geflüchteten

Not am LaGeSo und schlechte Zustände in Notunterkünften auf der einen Seite. “Willkommenskultur” und zupackende Ehrenamtliche auf der anderen Seite. Für Journalisten in Berlin gibt es viel zu berichten. Die Stimmen derer, die eigentlich im Mittelpunkt der so genannten Flüchtlingskrise stehen, hört man dennoch sehr selten.

Der Exberliner – das englischsprachige Stadtmagazin der Hauptstadt – hat eine eigene Reihe gestartet, in der Geflüchtete zu Wort kommen. Vox refugee lässt sie ihre Geschichten erzählen: Wie sie nach Berlin kamen und was sie hier erleben und auch was sie vorhaben. Leise, unspektakulär und nachdenklich. Also richtig guter Journalismus.

Newcomers Radio: Podcasts mit Geflüchteten für Geflüchtete

Die sogenannte Flüchtlingskrise zeigt nicht zuletzt, dass die Commons auf dem Spiel stehen. Dass immer weitere Teile des Planeten privatisiert werden und dass so ein großer Teil der Menschheit zu “Ausgeschlossenen” wird. Wie können Commons für alle erkämpft werden? Bei der Berliner Gazette Konferenz UN|COMMONS wurden in dem Workshop “Who Reads Open Secrets?” nicht nicht zuletzt Anwendungen für refugees entwickelt, darunter ein two-way Radio-Projekt mit Geflüchteten für Geflüchtete: Newcomers Radio.

Die Idee: Neu entstehende Communities brauchen ihre eigenen Medien. Aktuell geht es oft darum, dass durch Medien bestimmte Informationen an Geflüchtete übermittelt werden. Das ist zwar wichtig, doch genauso wichtig ist es, dass Geflüchtete untereinander kommunizieren. So können sie Themen adressieren und Lösungen für Probleme finden. Außerdem müssen sie als Minderheit eine Chance bekommen, ihre Interessen nach außen zu tragen – vor allem dann, wenn klassische Medien diesen Job nicht gut erledigen. Ein starkes Community-Radio ermöglicht die Kommunikation innerhalb der refugee-Gemeinschaft und die Kommunikation nach außen.

Das Wichtigste dabei: Die eigene Stimme! Klar benutzen viele Geflüchte ein Smartphone und Anwendungen wie WhatsApp und Facebook. Doch die Stimme ist bei all der Kommunikation immer noch am wichtigsten und direktesten. Auch Menschen, die nicht lesen und schreiben können, werden nicht von der Teilhabe ausgeschlossen, wenn die Stimme das Übertragungsmedium ist. Beim Newcomer’s Radio werden Telephonie und Internet-Kommunikation zusammengedacht. Es ist eine Plattform für Stimmen. Vom Chatroom mit wenigen Stimmen bis hin zur großen Call-In-Show ist alles möglich.

Hoaxmap: Eine Gerüchtekarte sammelt falsche Aussagen über Geflüchtete und widerlegt sie

Die Idee hinter der Hoaxmap: Es kursiert ein Gerücht über Geflüchtete (etwa “21-Jährige in Sonneberg von drei Asylsuchenden vergewaltigt”). Das Gerücht wird dokumentiert, verschlagwortet, einem Ort zugeorndet – und widerlegt. Dies erfolgt meist durch Verweise auf Regionalzeitungsartikel. Diese Daten werden dann in einer Karte visualisiert.

Das Projekt hat mich an die Riot Rumours vom Guardian erinnert. In einer aufwändigen Viusalisierung hatte das Data-Team dargestellt, wie sich Gerüchte rund um die London Riots 2011 auf Twitter verbreitet hatten.

Zivilgesellschaft 4.0: Geflüchtete und digitale Selbstorganisation

Für viele ist das Thema Refugees erst im letzten Jahr richtig präsent geworden. Doch bereits seit Jahren kämpfen Geflüchteten-Organisationen für das Recht zu bleiben, für Bewegungsfreiheit und ein Leben in Würde. Selbstorganisation ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Freiwillige und UnterstützerInnen engagieren sich, um die Lebensbedingungen der Neuangekommenen zu verbessern. Gemeinsam bilden Geflüchtete, Freiwillige und UnterstützerInnen die neue Zivilgesellschaft, wie Krystian Woznicki beobachtet.

Um Selbstorganisation zu ermöglichen werden digitale Werkzeuge von immer größerer Bedeutung. Was muss heute angepackt werden? Welche Herausforderungen müssen gemeistert werden? Der Kongress Zivilgesellschaft 4.0: Geflüchtete und digitale Selbstorganisation bringt Geflüchtete, Aktivisten, Entwicklerinnen, Theoretiker und Künstlerinnen zusammen, um Strategien zu entwickeln und kritisch über die aktuelle Situation zu reflektieren.

Der Kongress findet vom 3. bis zum 5. März im Haus der Kulturen der Welt statt und hat zum Ziel, Probleme zu diskutieren und Lösungen festzuhalten; zu analysieren und zu veranschaulichen was fehlt. Workshops sollen Wissen über digitale Technologien und Selbstermächtigung vermitteln. Dabei bedarf es vielleicht nicht immer neuer Buzzwords wie “Zivilgesellschaft 4.0” um das Engagement von Menschen zu beschreiben. Viel wichtiger ist das Zusammenkommen auf Augenhöhe.

Internetcafés von Refugees für Refugees

Der Verein “Refugees Emancipation” aus Potsdam wirbt um Spenden, um für Geflüchtete Computerkurse anzubieten und Internetcafés in Eigenregie einzurichten. Chu Eben, Gründer des Vereins, sagt: “Wir sind davon überzeugt, dass Zugang zum Internet ein Menschenrecht ist.” Mit Hilfe der eingenommenen Gelder konnten bisher schon einige Cafés eingerichtet und auch Kurse angeboten werden.

Tacit Futures: Bewegungsfreiheit in Big-Data-Gesellschaften

Workshops besuchen, die gemeinsam mit refugees bestritten werden, in der Nachbarschaft mit anpacken – das sind zwei Beispiele, für Dinge, die man selbst tun kann. Doch was geht da noch? Als Online-Medium verstehen wir uns bei der Berliner Gazette als Plattform für Austausch und Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Deshalb wird sich auch unser Jahresthema den akuten Fragen widmen, die uns gerade umtreiben: Ob und wie kann es uns gelingen, an der Zukunft zusammenzuarbeiten?

Um dieser Frage nachzugehen, setzt die Berliner Gazette im Jahr 2016 im Nachfolgeprojekt zu UN|COMMONS die Arbeit zu den Commons fort. Unter dem Titel TACIT FUTURES möchten wir dazu netz- und migrationspolitische Fragen zusammen diskutieren.

So tritt Bewegungskontrolle in Big-Data-Gesellschaften als das große Politikum unserer Zeit in den Mittelpunkt. Deshalb möchte das TACIT FUTURES-Projekt die Politik der Infrastrukturen für den Verkehr von Menschen und Daten erkunden und untersuchen wie die Bewegung von Menschen immer mehr zu einer technologischen Angelegenheit wird – sowohl für die Strategien der Flüchtenden als auch für die Abwehrverfahren der EU.

Bei der Jahreskonferenz der Berliner Gazette, die in Zusammenarbeit mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz vom 27.-29.10.2016 stattfinden wird, sollen diese Anliegen in Theorie und Praxis verhandelt werden.

Anm.d.Red.: Mehr zu TACIT FUTURES in BG-Feuilleton. Das Foto ganz oben entstand im vergangenen Jahr beim Refugee-Hackathon in Berlin und stammt von Lionel-Kreglinger.

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