Reformen im Schatten: Wieviel Demokratie steckt in der Wikipedia?

Die Wikipedia scheint der Inbegriff der Demokratisierung des Wissens im Netz zu sein. Eine Gemeinschaft weltweit verstreuter Freiwilliger erstellt die Inhalte der größten, freien Enzyklopädie – und jeder kann mitmachen. Doch wie steht es mit demokratischen Strukturen und Reformen unter den WikipedianerInnen? Der Jurist und Wirtschaftswissenschaftler Leonhard Dobusch nimmt die Community unter die Lupe.

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Die Community aus freiwilligen Wikipedia-Autoren kann natürlich mitbestimmen: Sie entscheidet, ob ein Artikel relevant für eine Online-Enzyklopädie ist, ob er den geforderten „neutralen Standpunkt“ widerspiegelt und wählt AdministratorInnen, die (Lösch-)Entscheidungen letztlich durchsetzen können. Doch die Markenrechte an der Wikipedia und ihrer Schwesterprojekte, wie Wikibooks oder Wiktionary, liegen bei der gemeinnützigen Wikimedia Foundation in den USA. Diese kümmert sich auch um den Betrieb der Server sowie um das Sammeln und Verteilen von Spendengeldern.

Das war nicht immer so. Vor Gründung der Wikimedia Foundation im Jahr 2003, verfügte das Startup-Unternehmen bomis.com – eine anzeigenfinanzierte Suchmaschine für erotische Inhalte des Wikipedia-Gründers Jimmy Wales – über die Rechte an der Marke Wikipedia. Zur Gründung der Wikimedia Foundation kam es erst, nachdem Teile der Wikipedia-Community aus Sorge um Meinungs- und dauerhafte Werbefreiheit mit der Spaltung gedroht, bzw. diese teilweise sogar vollzogen hatten. So waren große Teile der Wikipedia-Community in Spanien bereits zur Enciclopedia Libre Universal en Español gewechselt, die bis zur Gründung der Foundation auch ein höheres Artikelwachstum zu verzeichnen hatte.

Die gemeinnützige Foundation war also der erste Schritt in Richtung einer Art Selbstverwaltung der Community. Wie genau diese Selbstverwaltung allerdings aussehen sollte, war damals genauso wenig klar wie heute. Es fehlt schließlich auch an Vorbildern für die Governance von derart großen digitalen Gemeinschaften von Freiwilligen, wie der Wikipedia-Community. Schritte in Richtung stärkerer Demokratisierung wurden und werden nur sehr vorsichtig und langsam unternommen.

Die erste lokale Außenstelle

Erstmals wurden 2004 zwei Plätze im Vorstand der Foundation in geheimer Wahl von den Wikipedia-AutorInnen bestimmt. Voraussetzung für das Wahlrecht sind mindestens 400 Beiträge in einem Wikimedia-Projekt. Circa 3.000 AutorInnen machen auch regelmäßig von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Der Formalisierung dieser Mitbestimmungsrechte ging eine gemeinschaftsöffentliche Debatte – natürlich via Wikis – über die Kriterien voraus, wie die stimmberechtigte Gemeinschaft ein- und abgegrenzt werden sollte.

Ebenfalls 2004 gründete eine Gruppe deutscher WikipedianerInnen die Wikimedia Deutschland – Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens e.V., um mit Spendengeldern die damals ständig überlastete Server-Infrastruktur zu verbessern. Nach offizieller Anerkennung durch die US-Foundation entstand auf diese Weise die erste lokale Außenstelle (Chapter); seither sind 38 weitere lokale Wikimedia-Chapter dazugekommen und es ist auf diese Weise ein weltumspannendes Netzwerk von Wikimedia-Vereinen entstanden.

All diese lokalen Wikimedia-Vereine haben sich der Förderung der jeweiligen Community sowie dem freiem (im Sinne von frei lizenziertem) Wissen allgemein verschrieben. Konkret organisieren die Vereine Veranstaltungen, zum Beispiel die Verleihung des Zedler-Preises für freies Wissen. Sie vergeben Stipendien für aufwendigere Recherchen oder veranstalten Schulungen und Workshops. Auf die Inhalte und Regeln der Wikipedia selbst haben die Vereine aber keinen Einfluss.

Staaten vs. Sprachen

Umso größer ist dafür der Einfluss der Wikimedia Foundation und der Chapter darauf, was mit den inzwischen über 20 Millionen Dollar an Spendengeldern passiert, die im Rahmen des jährlichen Fundraisings mittels Wikipedia-Spendenbanner eingeworben werden. Die Entscheidungshoheit von Foundation und Vereinen über die Mittelverwendung ist dabei nicht unumstritten. Nur ein kleiner Teil der knapp 90.000 aktiven Beitragenden – also jenen, die monatlich mehr als fünf Editierungen vornehmen – ist auch Mitglied in einem der lokalen Wikimedia-Vereine. Die Foundation selbst hat überhaupt keine Mitgliederstrukur.

Hinzu kommt, dass die Vereine nach den Nationalstaaten organisiert sind. Die Wikipedia selbst ist aber anhand der Sprachversionen strukturiert. So gibt es Wikimedia-Vereine in Deutschland, Österreich und der Schweiz, obwohl deren Mitglieder größtenteils gemeinsam an der deutschsprachigen Wikipedia mitarbeiten – oder, wie im Fall der Schweiz, sich auf die französisch-, deutsch- und italienischsprachige Wikipedia aufteilen.

Dieses Auseinanderklaffen von Sprachversionen und nationalen Chaptern verkompliziert die Verteilung und den Einsatz der Spendengelder erheblich. Besonders deutlich wird das am Beispiel der spanischsprachigen Wikipedia, an der mehr oder weniger die gesamte spanischsprachige Welt mitschreibt. Wie sollen die Gelder verteilt und eingesetzt werden, die über die im Sprachen-Menü unter “Español” geführte Wikipedia-Seite eingeworben wurden?

Die Macht der Foundation

Um nicht zuletzt diesem Problem zu begegnen, entscheidet seit kurzem nur noch ein bei der Foundation angesiedeltes Funds Dissemination Committee über die von Wikipedia-Seiten gesammelten Spendengelder. Neben nationalen Chaptern sind auch andere Gliederungen – thematische Organisationen und Nutzergruppen – antragsberechtigt. Die bestehenden Wikimedia-Vereine, allen voran wiederum Wikimedia Deutschland, sehen diese Zentralisierung durchaus kritisch.

Sie pochen auf die Vorteile dezentraler Strukturen, wie die Steuerabsetzbarkeit von Spenden, und kritisieren, dass es jenseits der Chapter bislang noch keine etablierten Wikimedia-Strukturen gibt. Auch um ihre Interessen gegenüber der Foundation besser vertreten zu können, haben die Chapter die Gründung eines internationalen Chapter-Vereins (Chapter Association) angestoßen. Ob dieser Chapter-Verein letztendlich als Gegengewicht zur Foundation taugt, ist noch nicht absehbar. Denn die Macht der Foundation resultiert vor allem aus der Verfügungsgewalt über die Marke „Wikipedia“.

Abstimmung, Befragung, Diskussion

Aber auch jenseits der Mittelverwendung ist demokratische Mitbestimmung wichtig, zum Beispiel, wenn es um Fragen wie Lizenzierung von Inhalten oder Änderungen an der Wiki-Software geht. 2009 gab es deshalb eine Urabstimmung unter allen WikipedianerInnen mit mehr als 25 Editierungen über die Neulizenzierung der gesamten Inhalte unter einer Creative-Commons-Lizenz.

Ziel des Lizenzwechsels war es, die Integration von Creative-Commons-lizenzierten Inhalten in die Wikipedia sowie umgekehrt die Verwendung von Wikipedia-Inhalten in anderen Kontexten zu vereinfachen. Von den 17.462 WikipedianerInnen, die an der Urabstimmung teilnahmen, sprachen sich letztlich 75,8 Prozent für und nur 10,5 Prozent gegen die Neulizenzierung aus.

In einem weiteren Fall von mehr oder weniger demokratischer Einbindung der Community wurde die Community 2011 über die Einführung von optionalen Bilderfiltern für bestimmte sexuell oder religiös anstößige Inhalte befragt. Außerdem gab es Auseinandersetzungen über die Beteiligung an den Protesten gegen die US-Internetgesetze SOPA und PIPA im Januar 2012 – dem vieldiskutierten Wikipedia-Blackout – darunter auch in Italien.

Wunsch nach Transparenz und klaren Regeln

Klare Beteiligungsverfahren haben sich allerdings noch nicht herausgebildet. Mitbestimmung erfolgte bislang nur ad-hoc und auf immer andere Weise: Abstimmung bei der Lizenz, Befragung beim Bild-Filter und Wiki-Diskussionen beim Wikipedia-Blackout.

Wie aktuelle Debatten auf Meta-Wiki – einem Wiki über die verschiedenen Wikimedia-Wikis und deren Communitys – zeigen, sehen viele WikipedianerInnen durchaus Bedarf und Möglichkeiten für eine stärkere Demokratisierung. Auf der Seite Democratizing the Wikimedia Foundation werden gleich eine ganze Reihe von diesbezüglichen Vorschlägen diskutiert. Unter anderem soll das „Vorstandsmysterium“ aufgeklärt werden, denn der Stiftungsvorstand (Board of Trustees) funktioniere auf mysteriöse Weise, niemand wisse wie genau.

Und es gibt auch den Wunsch nach klareren Regeln für globale Referenden. Inwieweit die von oben angestoßenen Änderungen, wie die Einführung des Funds Dissemination Committee, mit ein Auslöser für die Demokratisierungsdebatte auf Meta-Wiki waren, lässt sich nur spekulieren. Klar ist jedoch, dass diese Änderungen die prinzipielle Verhandelbarkeit der Governance-Struktur von Wikimedia und Wikipedia demonstriert haben.

Anm.d.Red.: Das Foto oben stammt von obeck und steht unter einer Creative Commons Lizenz.

14 Kommentare zu “Reformen im Schatten: Wieviel Demokratie steckt in der Wikipedia?

  1. Ein kurzer Hinweis: Wikimedia Deutschland sieht das Funds Dissemination Committee (FDC) keinesfalls kritisch, im Gegenteil. Wir begrüßen es, dass über die Verwendung der loakl eingeworbenen Gelder innerhalb eines globalen Prozesses entschieden wird.
    Was wir kritisch sahen (was aber zwischenzeitlich auch geklärt ist), war der Versuch der Wikimedia Foundation Anfang 2012, das Fundraising zu zentralisieren. Alle Spenden wären dann direkt an die WMF in den USA gegangen, was für die Spender z.B. in Deutschland bedeutet hätte, dass keine Möglichkeit zur steuerlichen Geltendmachung der Spenden bestanden hätte.
    Dadurch, das die in Deutschland gesammelten Spenden vollständig an Wikimedia Deutschland gehen (und dann zu einem großen Teil an die Foundation weitergeleitet werden bzw. über das FDC vergeben werden) haben Spender einen Steuervorteil, und wir unterliegen als gemeinnützige deutsche Organisation der Aufsicht des Finanzamts und der Regelung der entsprechenden deutschen Gesetze.

  2. Noch eine Ergänzung zum vorhergehenden Kommentar von mir: Ich bin als hauptamtlicher Vorstand bei Wikimedia Deutschland beschäftigt.

  3. die Wikipedia, das ist für mich ein Leuchtturm der Leute. Ein Projekt im Namen von Demokratie: gegen eine Welt der Konzerne, Chefs und Machtmenschen. Ich liebe die Wikipedia. Der Artikel ist auch liebenswert. Jetzt verstehe ich meine Welt besser :) Ich muss sagen, dass die Probleme nur zeigen: Wikipedia ist ein Leuchtturm der Leute. Dise Probleme gibt es doch nur, weil es vorher diesen Leuchtturm der Leute nicht gab. Jetzt müssen sie, jetzt müssen wir alles neu erfinden. Vielleicht auch die Demokratie. Wir brauchen eine WWW-Demokratie. Schon klar, das ist nicht einfach. Wer aber hat gesagt, den Lechtturm der Leute zu bauen, sei einfach? :)

  4. “Voraussetzung für das Wahlrecht sind mindestens 400 Beiträge in einem Wikimedia-Projekt.”

    eigentlich ganz clever: nur wer wirklich was leistet, kann mitreden, wie sonst ließe sich Mitspracherechte in einem Projekt legitmieren? wenn jeder, der wollte, dürfte, wäre man schnell umgeben von Leuten, die gerne reden und “lenken” aber nichts machen.

    Die Fragen an den Autor sind:

    1. ist dieses Modell demokratisch? ich meine, in einem Staat muss man doch auch nicht erst einen Job haben und Steuern zahlen, bevor man an Wahlen teilnehmen darf

    2. was für (politische) Vorbilder gibt es für dieses Modell?

  5. Zu den Fragen:
    ad 1.) ich finde, das lässt sich so allgemein weder für Wikipedia noch für Wikimedia beantworten und hängt stark von der Demokratie-Definition ab. Im Zweifel hilft ein Blick in die Wikipedia: Wikipedia:Machtstruktur

    ad 2.) Auch in Staaten ist demokratische Mitbestimmung voraussetzungsreich, erforder beispielsweise Staatsbürgerschaft oder die Anmeldung eines Hauptwohnsitzes etc.

    Fazit: es gab schon immer eine große Bandbreite an mehr oder weniger demokratischen Verfahren zwischen direkt und repräsentativ, zwischen allgemein und teilweise wie im Falle von Mitbestimmung. Wikipedia/Wikimedia kann hier nicht einfach auf ein Vorbild zurückgreifen und muss experimentieren.

  6. @#4+5: na ja, eine Beschränkung muss sein! Warum sollten Menschen in Liyben in Deutschland den Bundeskanzler wählen können – nur weil ein Waffenkonzern mit politischen Interessen dort Leute schmiert? Egal, ich meine: es geht doch um die Frage, wie die Beschränkungen beschaffen sind. Sollte das Kriterium konkrete Arbeit am Wikipedia-Werk sein? Warum kann man sich nicht auch durch ideele Unterstützung qualifizieren? Oder durch Spendentätigkeit?

  7. @Pollo: kein Widerspruch. Darum geht es mir ja: die Frage der Grenzziehung ist eine, die verhandelt werden muss und verhandelt wird. Es gibt da nicht die eine “richtige” Grenze, es handelt sich um gleichermaßen normative wie praktische Fragen.

  8. wie sieht Accountability (das wäre für mich ein wichtiges Kriterium für Demokratie) in so einem System aus? Wer legt wem gegenüber Rechenschaft ab? wo es keine klaren Regeln gibt und editwars zur Tagesordnung gehören, gibt es auch keine Kultur der Verantwortung und Haftung.

  9. im Anschluss an mein vorangegangen Kommenta (#4) Frage an den Autor: Was sind denn nun die politischen Vorbilder? woran / an wem orientiert sich Wikipedia / Wikimedia? doch nicht an Staaten – oder?

  10. “Warum sollten Menschen in Liyben in Deutschland den Bundeskanzler wählen können – nur weil ein Waffenkonzern mit politischen Interessen dort Leute schmiert?”

    Interessanter ist für mich ungefähr diese Frage: gibt es politische Vorbilder, wo das Territorium des Staats NICHT die Ausschluss-Grenze für Wahlberechtigung markiert? sondern eine andere Grenze?

  11. Ein sehr aufschlussreicher Überblick, habe ich so noch nirgends gelesen, danke dafür! Kann man denn wirklich von “Reformen im Schatten” sprechen? Der Text nennt zwar einige Beispiele (wie zB das mysteriöse Board of Trustees) aber ansonsten scheinen mir die Reformen doch sehr transparent zu sein und vielleicht sogar vorbildlich für andere gemeinschaftlich organisierte Institutionen, oder?

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