Der lange Treck nach Norden: “Migration” als “Top-Thema” in den Gated Communities des Wohlstands

Steht Skandinavien eigentlich noch immer für das ‘heilere Europa’? Beispielsweise Dänemark. Zum funktionierenden Sozialsystem mit freundlichem Antlitz gesellt sich neuerdings eine rassistische Anti-Einwanderungspolitik. So steht Dänemark als Vorreiter in Sachen gelebter Proto-Faschismus für weitreichende Veränderungen im ‘heileren Europa’ und darüber hinaus. Berliner Gazette-Redaktionsleiterin Magdalena Taube begibt sich auf Spurensuche in ein Land, das sie früher gern besuchte.

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Sommer 1990. War nicht vor ein paar Monaten die Mauer gefallen? Konnten wir jetzt nicht überall hin reisen mit unserem neuen Westauto? Als wäre nichts passiert machten wir Familienurlaub an der ostdeutschen Ostsee: Ferienwohnung und Kantinenessen, morgens, mittags, abends. Doch plötzlich entschieden sich meine Eltern, uns Kinder und die Koffer ins Auto zu laden und in den Westen aufzubrechen, genauer gesagt in den Norden Europas (schon immer der bessere Westen), nach Dänemark! Wir kamen in einer tollen Ferienwohnung unter, bei einem netten Bauern, der meinen kleinen Bruder auf dem Traktor fahren ließ. Hier war alles gut. Das hieß: Alles war sauber und irgendwie gemütlich.

Der bessere Westen?

Nach dieser Erfahrung verbrachten wir jeden Sommer in Schweden oder Norwegen. Seen, Fjorde, Wälder, Berge. Der Kofferraum war immer bis oben hin voll mit Lebensmitteln, denn das Einkaufen war im Norden sündhaft teuer. Lange habe ich mir die Skandinavienliebe meiner Familie damit erklärt, dass es dort so schön und gemütlich war, dass wir dort keine Angst haben mussten, im Grunde niemals auf Fremde stießen. Die meisten dort waren weiß, so wie wir. Meinen Eltern, damals Anfang 30, zwei ArbeiterInnen aus einer Kleinstadt im Norden Brandenburgs unterwegs mit drei kleinen Kindern und wenig Englischkenntnissen, muss das attraktiv erschienen sein. Auch ich fand das toll.

Anfang 2019, also fast 30 Jahre später, bereite ich mich auf einen neuen Dänemark-Aufenthalt vor. Ich habe jetzt neue Skandinavien-Bilder im Kopf, etwa die Faszination für „all things Scandinavian“, die ich in den 2010er Jahren mitbekommen habe: Von Hygge, über Knausgaard und Ikea. Plus: Gesellschaftlicher Fortschritt. Gleichstellung von Homosexuellen, Integration und Frauenrechte. In Diskussionen unter Freunden heißt es immer wieder: “Die im Norden wissen einfach, wie man es richtig macht.” Und: „in Finnland haben sie das so gelöst.“ Oder: “Nicht einmal die Rezession konnte ihnen etwas anhaben.”

Doch auch diese Bilder werden abermals überschrieben, wenn ich anfange nachzufragen, nachzulesen und tiefer zu blicken. Skandinavien als besserer Westen, heileres Europa? Langsam beginne ich andere Dinge zu sehen.

Immer wieder tauchen Nachrichten wie aus einem jener Krimi-Schocker auf, die zu Skandinaviens Erfolgsimage beigetragen haben. Und sie zeichnen ein anderes Bild. Eine Geschichte fesselt mich besonders, als sie mir das erste Mal zu Ohren kommt. Eine junge, schwedische Journalistin soll ermordet worden sein. Der vermeintliche Täter soll ein Nerd sein; der Tatort, sein privates Mini-U-Boot. Was für eine Story: Die Schöne, junge und weiße Frau, der verrückte Erfinder, der spektakuläre Mord. Mit Anspielungen auf die skandinavische Krimiliteratur wurde sich in der Berichterstattung nicht zurückgehalten.

Dänemark, dunkler

Kurze Zeit nach dem Verschwinden im August 2017 werden Teile von Kim Walls Leiche gefunden. Zunächst der Torso. 15 Stichwunden, die meisten davon in der Leistengegend. Später werden Beine und Kopf gefunden. Und schließlich im November 2017 die Arme. Kim Wall, eine moderne, weltgewandte Frau mit einem Faible für Geschichten der Subkultur. Sie schrieb über Klimawandel ebenso wie über chinesische Feministinnen. Sie hatte vor, mit ihrem Freund im August 2017 nach Peking zu ziehen. Der Mörder Peter Madsen: Unternehmer, Raketenbastler, U-Boot-Enthusiast und anscheinend allseits unbeliebt. Man kann daraus schnell eine Geschichte aus Frauenhass stricken. Über male fragility und die Verrohung der Gesellschaft. Und bestimmt enthielte sie viel Wahres.

Was mir jedoch nicht aus dem Kopf geht, ist etwas anderes. Vergessen wir kurz, dass Madsen ein Psychopath ist (eigentlich unmöglich, ich weiß). Wie hat er es geschafft, nicht nur ein Mini-U-Boot zu bauen, sondern insgesamt drei? Wie konnte jemand ohne richtigen Job, der anscheinend ein Arschloch im Umgang mit anderen Menschen war, die Finanzierung auf die Beine stellen?

Ich erinnere mich an zwei Zitate, die mein Leben als Feministin geprägt haben. In der genialen US-amerikanischen Comedy-Show „30 Rock“ schätzt Konzernchef und Musterkapitalist Jack Donaghy (Alec Baldwin) die Erfolgschancen des einfältigen Rezeptionisten Kenneth so ein: „He’s a white male with hair, Lemon. The sky’s the limit.“ Ein paar Jahre später, auf dem Höhepunkt des Hypes um den norwegischen Bestseller-Autor Karl-Ove Knausgaard und sein Tausende Seiten umfassendes Mammutwerk, schreibt Siri Hustvedt: „If the thousands of pages of My Struggle are testimony to anything, it is that the man did find time to write.“

Worauf ich hinaus will: Madsen fand sich in einer Situation wieder, die ich provisorisch Pathologie des Wohlstands nennen möchte. Eine Krankheit, die das wahre Problem des “heileren Europa” zu sein scheint: Madsen hatte unendlich viel Zeit und ihm standen Ressourcen in Hülle und Fülle zur Verfügung. Für den Raketenbauer war nicht mal der Himmel das Limit. Doch was machte er aus dieser komfortablen Situation? Es fiel ihm nichts besseres ein, als zum nerdigen Mörder zu werden.

Eine andere beunruhigende Geschichte, die mein Dänemark-Bild verdunkelt, ist die Story einer Insel. Ende 2018 teilt eine gute Freundin und Menschenrechtsaktivistin auf Facebook die Meldung der New York Times: „Dänische Regierung plant, unerwünschte Flüchtlinge auf eine Insel zu verbannen“. Die Idee ist Teil der „unwelcome-Politik“ der Regierung. Integrationsministerin Inger Støjberg verkündete dazu auf Facebook: „Sie sind unerwünscht in Dänemark und das werden sie spüren.“

In Dänemark, wie auch in den anderen reichen Ländern des Nordens feiern RechtspopulistInnen Wahlerfolge. Sie nennen sich „Die Finnen“, „Schwedendemokraten“ oder „Dänische Volkspartei“. Seit dem Wahlerfolg 2015 toleriert die dänische Volkspartei die Minderheitsregierung der rechtsliberalen Partei Venstre unter Lars Løkke Rasmussen. Was seither in Dänemark passiert ist, wäre mit „Rechtsruck“ noch milde umschrieben. Die RechtspopulistInnen sind dort nicht einmal an der Macht, doch die aktuelle Regierungspolitik spricht eine eindeutige Sprache. Auch die Linken bewegen sich in Fragen der Einwanderungspolitik Richtung rechts.

Woher kommt der Erfolg der RechtspopulistInnen?

Während ich mich auf meinen Trip nach Dänemark vorbereite und weiter zu der dortigen politischen Landschaft lese, fällt mir Angela Nagles “Die digitale Gegenrevolution” in die Hände. Nagle erklärt den Erfolg der Neuen Rechten als einen im Netz gewonnen Kulturkampf. Auch wenn sie sich nur auf die Erfolge der Alt-Right in den USA bezieht, fallen ihre Analysen auch in Europa auf fruchtbaren Boden. Rechtssein im Netz sowie im echten Leben, sei heute so cool und transgressiv, wie es in den 1960er Jahren mit dem Linkssein war.

Das Internet sei längst nicht mehr der Ort, der „linken Cyber-Utopisten“ (Nagle) zu Folge progressive Widerstände bündeln und emanzipatorische Empörung vernetzen würde. Damit trifft Nagle einen Punkt: In den Nuller Jahren dachten wir hier oben im globalen Norden, bei dem Stichwort ‘Facebook-Revolution’ an den arabischen Frühling (eine Sichtweise, die übrigens höchst problematisch war). Heute denken wir bei ‘Facebook-Revolution’ an Trump und den Diskurs-Hack, den er und die Alt-Right angeblich vollbracht haben. Das linke Netz ist tot, also hat das rechte Netz gewonnen?

Die „neue Weltordnung“ mit Pepe dem Frosch zu erklären, ist attraktiv und lässt einige vielleicht am Abend besser einschlafen. (Das Internet ist an allem Schuld!) Aktuelle Entwicklungen nur durch die Internetbrille zu sehen, ist jedoch eine starke Einschränkung unseres Zugangs zur Welt. Dass Trump im weißen Haus sitzt, hat genauso viel mit Obama zu tun, wie mit Pepe dem Frosch. Eine Randnotiz: Nagles Beweisführung hängt an Ereignissen, die sie aneinanderreiht. Sie kapriziert sich auf rechte Erfolgsfiguren wie Milo und vermeintlich linke Misserfolge wie „das Internet hat die Welt nicht besser gemacht”. Doch dem ließen sich genauso viele Ereignisse entgegensetzen, die digitale Misserfolge der Rechten und Erfolge der Linken und sozialer Bewegungen aufzeigen (siehe Molly Sauters Buch “The Coming Swarm”, 2014).

Einfach gestrickte Erklärungsmuster

Den Zustand der Welt anhand des Erfolgs von ein paar Memes zu analysieren, ist die eine Sache. Den vermeintlich gewonnenen Kulturkampf in die Arena der identity politics zu ziehen, ist die andere. Es ist verlockend: Kaum ein anderes Thema garantiert Aufmerksamkeit von links und rechts, wie die Frage danach, ob Identitätspolitik daran Schuld sei, dass die Welt untergeht. Toppen kann man das vermutlich nur, in dem man als „Linke“ fordert, die Grenzen zuzumachen (ups).

So ist Nagle eifrig darum bemüht, Frontlinien zu zeichnen (linke Tumblr-Identity-Politics vs. Rechte 4-Chan-Trolle). Wer braucht das? Keine Ahnung. Aber Nagle kann sich so seitenlang darüber lustig machen, welche Geschlechterkategorien auf irgendeinem tumblr-Blog mal aufgezählt wurden und findet auch hier ein paar Ereignisse, die die willkürlich gezeichneten Frontlinien unterstützen. Holt eure Stricknadeln raus, hier wird die Campus-Saga weitergestrickt, bei denen identity politics über ihr Ziel hinausgeschossen sind. Würden wir Nagles Argumentation Glauben schenken, dann wäre die Tendenz, die sie zu sehen meint, wie folgt auf den Punkt zu bringen: Im Weißen Haus wird demnächst ein safe space von Transgender-Personen eingerichtet. Etwas abwegigeres dürfte es nicht es geben, wenn man sich anschaut wer gerade in den USA an der Macht ist.

Wenn unsere Welt aus Tumblr und 4Chan bestünde, wenn der linke US-Campus tatsächlich Mainstream wäre, dann wären Nagles Geschichten vielleicht wichtig und erzählenswert. Doch eigentlich zeigen sie nur, dass sie ihr eigenes Akademiker-Milieu augenscheinlich noch nie verlassen hat – höchstens, wenn sie im Netz unterwegs war. Ansonsten stützen ihre Beobachtungen vor allem eine Erzählung, und an der stricken die Rechten besonders gerne mit: Wir müssen unsere Zugänge zur Welt verkleinern. Alles soll übersichtlich bleiben.

Kulturkämpfe in Dänemark

Speaking of Kulturkämpfe. Blicken wir nochmal nach Dänemark, in das Jahr 2005. Im September veröffentliche die auflagenstärkste Tageszeitung des Landes, die Jyllands-Posten, 12 Karikaturen des Propheten Mohammed. Brennende Dänemarkflaggen in Teheran waren nur eine der Folgen. In einem Interview im Jahr 2015 äußerte sich Karikaturist Kurt Westergaard („Ich bereue nichts.“). Die Karikaturen sollten als eine Kritik an Terroristen verstanden werden, die sich „Teile ihrer spirituellen Munition aus dem Koran holen“, so der Zeichner.

Anders Ahmad Akkari, der eine ebenso wichtige Rolle in der „Mohammed-Krise“ spielte, wie sie in Dänemark genannt wird. Der dänische Imam, verurteilte die Karikaturen heftig und war 2006 mit einer muslimischen Reisegruppe unterwegs, um Unterstützung für seine Sache in der islamischen Welt zu finden. Heftige Unruhen und blutige Proteste in den bereisten Regionen waren die Folge. „Die Reise war ein Fehler,“, so Akkari im Jahr 2013 – heute steht er seiner eigenen Religion kritisch gegenüber: „Meine Weltsicht damals, war eingeschränkt.“

Und heute? Im vergangenen Jahr standen die Anti-Immigrationsrädchen nicht still in Dänemark. Wie bereits erwähnt, von einer “Insel für die Unerwünschten” wurde laut geträumt. Dann trat “Nikab-Verbot” in Kraft und das “Ghetto-Gesetz” wurde auf den Weg gebracht.

Land der Extreme

Das Nikab-Verbot: An öffentlichen Orten, darf per Gesetz keine Gesichtsverechleierung getragen werden – das sei gegen „dänische Werte“. Bei Kostümpartys oder großer Kälte, darf man jedoch ohne Bußgeld das Gesicht mit einem Schal schützen. In selbstorganisierten Gruppen wie Women in Dialogue riefen nikabtragende Frauen zum Dialog auf. Im letzten Sommer gab es zahlreiche Proteste, bei denen sich viele Frauen, die keinen Nikab tragen, mit ihren muslimischen Schwestern solidarisierten. Das Nikabtragen ist in Dänemark vielerorts zum Akt des zivilen Ungehorsams geworden. Erste Bußgelder gegen Musliminnen, die ihr Gesicht mit dem Nikab verschleierten, wurden bereits verhangen.

Das „Ghetto-Gesetz“: Das neue Gesetz erklärt bestimmte Gebiete des Landes zu Ghettos. Eines der fünf „Ghetto-Kriterien“ lautet: sind mindestens die Hälfte der Einwohner Migranten aus nicht-westlichen Staaten? Ab 2019 werden von den neuen Regeln ungefähr 60000 Menschen betroffen sein. Ein weiterer „Meilenstein“ für Integrationsministerin Inger Støjberg. Eine Randnotiz: Es ist dieselbe Ministerin, die ihre 50. Gesetzesänderung, die die Rechte von ImmigrantInnen einschränken, mit Kuchen feierte.

Aktuell gibt es 22 dieser „Ghettos“ in Dänemark. Eine Folge für die BewohnerInnen: Wer dort lebt, muss seine Kinder in der Kita abgeben, wenn sie älter als ein Jahr sind. Bei Nichteinhaltung droht die Kürzung von Sozialleistungen. Außerdem: Den Behörden soll es erleichtert werden, Daten der BewohnerInnen miteinander zu teilen, um eventuellen Missbrauch schneller aufzudecken. In bestimmten Gebieten könnten Verbrechen künftig härter bestraft werden. Vermieter können Personen mit Vorstrafen leichter ablehnen. Wer seine Kinder für längere Zeit in den Urlaub schickt, um sie mit der Kultur und Sprache der eingewanderten Eltern oder Großeltern vertraut zu machen, kann künftig für zehn Jahre ins Gefängnis gesteckt werden. Zwangsumzüge, der Abriss von Häusern. Das alles soll kommen. Im November wurde das Gesetz verabschiedet. Warum das alles? Die Ghettos wurden ausgerufen, um sie abzuschaffen. Das Ziel der Regierung: Bis 2030 sollen alle Ghettos verschwunden sein.

Von außen betrachtet, scheint Dänemark heute alles andere als gemütlich zu sein. Es herrschen extreme Zustände. Und auch der Widerstand gegen diese Zustände nimmt extreme Formen an. Ich muss etwa an Lars von Triers stets skandalisierte Filme und seine Dogma-Bewegung denken. Europas vermutlich radikalster Filmemacher (Wohnsitz: Kopenhagen) arbeitet beständig daran, den bestehenden Diskursraum zu hinterfragen und zur Not auch kaputtzuschlagen. Auch die Antifas und Anarchisten Dänemarks gelten als ausgesprochen radikal. Alles ein Zufall?

Andernorts lese ich, dass Dänemarks radikale Linke aktuell von größter Einigkeit geprägt ist – ein ziemlich ungewöhnlicher Zustand in einer Welt, in der auf eine Sache immer Verlass ist: Die Linke ist sich uneinig. In staunendem Tonfall berichtet das sozialistische Magazin Red Pepper aus UK darüber, dass nach dem Rechtsruck der Sozialdemokraten, die radikale Linke in Dänemark zusammenrückte und unter dem Label “Enhedslisten” zusammenfand. 

Anm. d. Red.: Die Autorin war im Rahmen des Berliner Gazette-Jahresprojekts MORE WORLD am 3. Februar auf einem Panel bei der transmediale zu Gast und hat mit Aktivistin Abiol Lual Deng und Theatermacher Alexander Karschnia über die Affektpolitik der Neuen Rechten und die damit einhergehenden diskursiv-politischen Schließungen von Weltzugängen diskutiert. Fotos vom Panel und der Diskussion, aufgenommen von Andi Weiland, gibt in diesem Album. Moderation: Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki. Das Foto oben ist ein Still aus dem Film “Idioten” (1998).

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