Im Geburtsloop: Zur Realisierung und Intensivierung des neoliberalen Potenzials im “wilden Osten”

Wenn die “Deutsche Einheit” epochenprägend war, so vor allem deshalb: Mit der Annexion des Ostens konnte das virtuelle Potential des Neoliberalismus verwirklicht werden, welches bereits der Gründung Westdeutschlands im Jahre 1949 zu Grunde gelegen hat. Der Kulturtheoretiker Marco Abel spürt Filmen nach, die sich dieser weitgehend ungeschriebenen Geschichte der geloopten Geburt der neoliberalen Nation angenommen haben. Ein Interview.

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Dominik Grafs „Die Sieger“ (1994) kam wenige Jahre nach „der Wende“ in die Kinos und traf den Nerv seiner Zeit – vielleicht so sehr, dass viele Menschen den Film nicht sehen wollten. Im Jahr 2019 kam der Director‘s Cut und bestätigte die Aktualität dieses Films als präzise Beschreibung von Machtkonfigurationen im „wiedervereinigten“ Deutschland: Dreh- und Angelpunkt der Verschwörung von Polizei, Politik und organisierter Kriminalität ist Düsseldorf. Der Film gewinnt besonders durch seine Auslassung an Präzision: Ostdeutschland spielt keine Rolle, weder geografisch noch kognitiv-ästhetisch. Der mentale Raum der Verschwörung ist Westdeutschland, das Graf auch schon in „Die Katze“ (1988) und anderen Thrillern in den 1980er Jahren kartierte.

So drängt „Die Sieger“ auf zu fragen, wer die Besiegten sind, wer in der Rechnung der Sieger vergessen worden ist. Gleichzeitig spitzt der Film das Profil des Machtgefüges dahingehend zu, indem er die herrschende Klasse komplett abgekoppelt zeigt von dem, was auf der Straße, in den Betrieben, in den Institutionen des Ostens abgegangen ist und noch immer abgeht. Vollkommen losgelöst von der Realität der forcierten Übernahme Ostdeutschlands und der damit einhergehenden Barbarei, die auch nicht ohne Rückkopplungen im ehemaligen Westdeutschland bleibt, zeigt „Die Sieger“ die herrschende Klasse in atopischen Glaspalästen – einer Spielart der Black Box, die Transparenz vorgaukelt, um dem “Imperialismus” ein moralisches Antlitz zu geben. Kurz, inwiefern steht „Die Sieger“ für die fortgeschrittene Selbst-Immunisierung des Westens im Zuge seiner Expansion und Neuerfindung durch die realexistierende (nicht mehr rein symbolische) Annexion des Ostens?

Von heute aus gesehen erscheint mir „Die Sieger“ als ein Film, der die ersten Jahre der Nachwendezeit als eine Übergangszeit begriffen hat – eine Zeit, die kontra Kohl und Konsorten eben keine Zeit des Neuanfangs war, sondern eine der Intensivierung der neoliberalen Kräfte, die laut Foucaults Analyse die Genese Westdeutschlands konstituierten. In seinen berühmten Überlegungen zur Biopolitik hat Foucault dargestellt, dass Westdeutschland neoliberal geboren wurde – als Manifestierung einer historischen Umkehrung des klassischen Kräfteverhältnisses zwischen Staat und Ökonomie. Wo das Problem des Liberalismus des 18. Jahrhunderts die Frage war, wie der Staatsapparat eines legitim existierenden Nationalstaats so eingeschränkt werden kann, dass ökonomische Freiheit sich entfalten kann, war, laut Foucault, das Problem für das noch nicht existierende Westdeutschland nach 1945 genau das Gegenteil: wie kann man einen legitimen Nationalstaat gründen, der eigentlich schon vorab alle Legitimation zu existieren verloren hatte? Die Antwort: auf der Basis des nichtstaatlichen Raums der ökonomischen Freiheit. So gesehen war Westdeutschland schon 1949 neoliberal avant la lettre.

Ich denke, Grafs von Günter Schütter geschriebenes Meisterwerk hat diese weitgehend unerkannte (und unbekannte) Genese des deutschen Nachkriegsnationalstaats als vielleicht erster Nachwendefilm, wenn nicht als erster Film überhaupt, aufgespürt, erkannt und in seiner Action-Thriller Gesamttextur ästhetisch verarbeitet. „Die Sieger“ ist der großartigste Film über die „Wende“ gerade weil er scheinbar den Osten – und somit die Vereinigung (ich weigere mich, das Ganze als „Wiedervereinigung“ zu bezeichnen) – komplett ignoriert: er verstand, dass die Vereinigung zuallererst deshalb epochenprägend war, weil sie es erlaubt hat, das virtuelle Potential, das der ökonomischen Saat, die Westdeutschlands Gründung erst ermöglichte, immanent war, nun mit einer Intensität zu verwirklichen, wie das in der alten BRD aus vielen Gründen nicht möglich gewesen wäre. Das heißt dann aber auch, das „Die Sieger“ eben doch auch ein Film über die „Wende“ und somit auch über den Osten ist – über den Osten als latentes ökonomisches Potential, das als solches filmisch nicht „repräsentiert“ (bebildert) werden kann, das sich aber als konstituierendes Kräftefeld affektiv bemerkbar machen lässt.

Ich glaube, die Wucht, die der Film auch heute noch hat (wie man auf der Berlinale-Premiere des Director’s Cut merken konnte), hat sowohl mit seiner tollen Deklination der Genremuster als auch der klugen und sicherlich auch (für die Zeit) sehr pessimistischen Analyse, mit der er der damals herrschenden deutschen Nachwendespaßkultur den Mittelfinger gezeigt hat, zu tun. Graf hatte nur ein Jahr vorher die „Morlock“-Episode „Die Verflechtung“ (1993) gedreht. Basierend auf einem Buch von Rolf Basedow, klagte dieser Fernsehfilm mit Götz George als einer der ersten Filme überhaupt die brutalen Machenschaften der Treuhand an. Das war sicherlich bahnbrechend und auch von heute aus gesehen eine fast unvorstellbare Errungenschaft, solch einen Film in die Primetime zu schmuggeln. Trotzdem: meiner Meinung nach ist „Die Sieger“ nicht nur ästhetisch gesehen ein besserer Film, sondern gerade auch, weil er seine Zeit auf unzeitgemäße Art symptomatisch zu analysieren versteht: er sah, wie die ökonomischen Kräfte, die für vierzig Jahre hauptsächlich subterran existierten, sich auf der Schwelle des Durchbruchs, einer radikalen ökonomischen Transformation, die erst durch das politische Ereignis „Wende“ ermöglicht wurde, befanden. Man kann sagen, dass das politische Ereignis der „Wende“ das „head fake“ (wie man im US-amerikanischen Football sagt) war, das die öffentliche Aufmerksamkeit so stark an sich binden konnte, dass man nicht gesehen hat (oder erst als es schon zu spät war), wie weit das ökonomische Terrain für die Saat des Neoliberalismus bestellt war, die vierzig Jahre vorher gestreut wurde und sich nun zur vollen Blüte entfalten konnte.

Christoph Hochhäuslers „Die Lügen der Sieger“ (2014) schreibt sich in den Diskurs von „Die Sieger“ ein, indem er die atopischen Glaspaläste der herrschenden Klasse aus einer Verschwörung von Chemie-Industrie, Militär und Medien hervorgehen lässt und dabei den besonderen Fokus auf „die Lügen“ legt, also das Fabrizieren von Realitäten, Geschichtsschreibungen, etc. aus der Perspektive und im Interesse der herrschenden Klasse, die auch hier in einem Deutschland das Sagen hat, in dem der Osten keine Rolle spielt. Und wie auch schon in Grafs Film ist diese Auslassung als bewusst bzw. gezielt gesetzter blinder Fleck zu lesen, der die Frage nach der Funktion der Nicht-Existenz stellt. Der Osten soll keine Rolle spielen, warum? Wessen Interessen bedient diese Darstellung?

Die Lügen der Sieger“ evoziert eine Atmosphäre der permanenten Unruhe, dadurch kommt auch hier eine gesellschaftliche Schräglage zur Sprache ohne näher versprachlicht, d.h. bestimmt zu werden. Etwas stimmt nicht. Das spürt man deutlich, und doch lässt sich das Ganze nicht näher auf Ursachen und Wirkungen zurückführen. Das Diffuse steigert die Unruhe, das Beunruhigtsein. Wenn der Film die Zuschchauer*innen damit konfrontiert und im selben Atemzug die Auslassung, den blinden Fleck spüren lässt, dann entfaltet der Film sein politisches Potenzial. Ist es seine spezifische Methode, etwas über Deutschland zu erzählen und dabei die Zuschauer*innen aus der Reserve zu locken – statt sie mit mehr oder weniger etablierten Narrationen über die Nation, die Hauptstadt, etc. zufriedenzustellen?

Was in „Die Sieger“ noch relativ direkt gezeigt wird – wir wissen, wer die Verschwörer sind, und am Ende wird angedeutet, dass die weibliche Intervention im Männergeschäft die männlichen Machthaber zu mindestens in Schwierigkeiten bringt – wird in „Die Lügen der Sieger“ reduziert auf unsichtbare, scheinbar subjektlose Machenschaften, die in den transparenten Fassaden der postmodernen Berlin-Architektur opak bleiben. Oder, anders gesagt: „Die Sieger“ gibt uns noch die Möglichkeit, es uns in einem „ein-Paar-schlechte-Äpfel“-Diskurs bequem zu machen (auch wenn das die falsche Schlussfolgerung wäre); in „Die Lügen der Sieger“, denke ich, wird diese Lesart erst gar nicht mehr angeboten: wir sehen gar nicht, wer die eigentlichen Strippenzieher sind, und das nicht, weil der Film suggeriert, dass diese „paar schlechten Äpfel“ so geschickt seien, dass man sie nicht greifen könne, sondern weil diese Äpfel jetzt als leckeres Apfelmuss affektiv in die sozialen Zwischenräume geschmiert ist. In Grafs Film gibt es noch eine Art Illusion, dass etwas gegen die Seilschaften der Anderen getan werden kann. Die wahrlich nicht unschuldige Sieger-Truppe von SEK-lern macht sich, wie in Sam Peckinpahs großem Abgesang auf den Western, „The Wild Bunch“ (1969), auf zum letzten Gefecht auf dem höchsten Gipfel Deutschlands. Man weiß – und man spürt, das auch die ausnahmslos männlichen SEK-ler dies wissen – dass sie aus ihrer Zeit gefallen sind, (moralisch) aber keine andere Wahl haben, als zu versuchen, sich der eigenen Illusion des Sieger-seins in einem finalen Showdown auf der Zugspitze zu stellen, auch wenn der Preis der ist, dass man sich eingestehen muss, Verlierer in einem Spiel zu sein, dessen Regeln man schon lange verkannt hat.

In „Die Sieger“ werden die Kräfte der Korruption – um nicht zu sagen des Bösen –, wie auch die des angeblich Redlichen (die Grafs Film ja wunderbar ironisiert: die patriarchischen Familienwerte, der Macho-Sex usw.), noch relativ traditionell verkörpert: die zigarrenrauchenden und nicht über die Maßen attraktiven männlichen Politiker und deren Handlanger, die mit ihren Trophäenfrauen eine sexuelle Potenz zur Schau stellen, die sie in Realität gar nicht besitzen, sind späte Repräsentanten eines Modus der Macht, die zum Zeitpunkt des Films sich längst im Verschwinden befand. In Christophs Film sind die Körper der Macht – wie übrigens auch in Christian Petzolds Werk – ganz anders. In „Die Lügen der Sieger“ sind die Männer doch eher rank und schlank und smooth operators, nicht mehr diese brüllenden und unsympathischen Machtmenschen der Kohljahre. Deshalb ist dieser Verschwörungsthriller auch kein Action-Thriller: Es gibt weit und breit keine actiongeile SEK-ler, dafür aber viele Managertypen, die eigentlich hauptsächlich PR machen und nur in letzter Instanz zu gröberen Mitteln greifen (wie die Manipulation des Insulins, das der Porsche-fahrende „Reporterheld“ sich täglich spritzen muss). Und selbst die großartige Szene zwischen Chemieindustrielobbyist und Politiker – eine wunderbare Hommage an eine bygone filmhistorische Ära, in der diese männlichen Figuren noch die exklusiven Schaltzentralen der Macht waren – sollte nicht überbewertet werden: um mit Raymond Williams zu sprechen, repräsentieren diese Männer eine (wenn auch nicht unwichtige) residual power, die aber nicht mehr den Stellenwert der dominant power hat. Den letzteren hat jetzt eben gerade die in den frühen 1990ern noch hauptsächlich als emerging power subterran existierenden Kräfte des immateriell-affektiv (Hardt und Negri) und kommunikativ (Jodi Dean) operierenden Neoliberalismus.

Im Gegensatz zu Grafs Magnum Opus bietet Christophs Film uns erst gar nicht die Illusion an, dass ein Action Hero – oder ein eingeschworenes hyper-männliches Sondereinsatzkommando – uns noch retten könnte. Der Film versteht genau das, was „Die Sieger“ noch auf eine unzeitmäßige Art und Weise dargestellt hat, als aktualisiert, als fait accompli: Die Agenten der Verschwörung sind nicht mehr (nur oder hauptsächlich) die traditionellen Repräsentanten der Macht, sondern es sind wir selbst (aber wir wissen es nicht und wollen es auch gar nicht so genau wissen). „Die Lügen der Sieger“ bietet in diesem Sinne eine politische Analyse an, die man mit Deleuzes Begriff der „Kontrollgesellschaft“ verstehen kann: Die kommunikative und affektive Selbst-Immunisierung des Kapitalismus ist so weit fortgeschritten, dass es zu ihm kein Außen mehr zu geben scheint. Der Osten kommt hier gerade deshalb nicht vor, weil er nach Zweijahrzehnten der Zwangsneoliberalisierung kein utopisches Potential mehr anzubieten hat – Potential, dass man in Grafs großartigem Fernsehfilm, „Eine Stadt wird erpresst“ (2006), in dem er noch einmal in die Leipziger Landschaft zurückkehrt, die auch „Die Verflechtung“ das Setting gab, noch erahnen kann. War es in „Eine Stadt wird erpresst“ noch das Gefühl – vielleicht nicht ganz frei von Nostalgie – einer Gemeinschaft, die die (verlorengegangene) Utopie verkörperte, wenn auch nur als Gespenst im Petzold’schen Sinne, so wurde ein utopisches Potential in Christophs tollen, in „Mainhattan“ spielenden Film, „Unter dir die Stadt“ (2010), schon nur noch in Form einer ominösen, nicht darstellbaren Kraft affektiv evoziert: „Es geht los,“ sagt die Protagonistin am Ende, mehr den Zuschauer als ihren smarten Banker-des-Jahres Liebhaber adressierend: Es geht los – aber was, warum und wegen wem oder was? Man kann versuchen, die Antworten zu imaginieren, aber der Film verweigert rigoros, diese zu bieten, weshalb er genre-technisch am Ende zu einem George Romeros „Living Dead“-Filme hervorrufenden Horrorfilm wird: sozusagen „Berliner Schule Horror“.

„Die Lügen der Sieger“ ist in dieser Hinsicht vielleicht ein pessimistisch gestimmter Film. Hier wird die permanente Unruhe, die, wie ihr so schön sagt, eine gesellschaftliche Schräglage zur Sprache bringt, ohne sie näher zu versprachlichen – d. h., ohne sie entweder im Dialog zu erläutern, wie man das ja sonst von all den blöden deutschen Thema-des-Tages-Filmen so kennt, oder sie auf der filmischen Ebene zu repräsentieren –, nicht mehr mit einer utopischen Möglichkeit konterkariert, geschweige denn, dass eine Idee oder ein Gefühl der Utopie sogar performativ eingeklagt wird, wie das in „Unter dir die Stadt“ noch der Fall ist (wie ich im Kapitel zu Christophs Filmen in meinem Buch The Counter-Cinema of the Berlin School argumentiert habe). In „Die Lügen der Sieger“ sind die, die traditionell (auch filmgeschichtlich gesehen) Verschwörungen aufdecken, jetzt selbst zu Vehikeln für das effizienteste Funktionieren der Macht geworden – nicht nur, weil sie es nicht bemerken, sondern eben auch, weil sie auf der affektiven Ebene des Wünschens (im Deleuze’schen Sinne) komplett im System aufgegangen sind. Ihr Wunsch, gut zu sein, ist eben gerade das, was sie zu effektiven Viren, durch die das System sich rhizomatisch immer weiter ausweitet, macht: Das Virus ist nicht die Anderen: es sind wir alle. Das manifestiert sich auch sehr schön auf der filmischen Ebene, nämlich in Christophs Talent, Architektur (die er mal studiert hat) extrem effektiv zu fotografieren.

Diese ganzen Glasfassaden, die sowohl „Die Lügen der Sieger“ als auch „Unter dir die Stadt“ visuell dominieren, wollen Transparenz suggerieren (d. h., der gemeine Bürger ist angeblich eingeladen, den Prozessen der Macht auf die Finger zu schauen). In Wirklichkeit sind diese blau-grünlich reflektierenden Fensterscheiben des Spätpostmodernismus aber opak: sie gewähren uns keinen Einblick, sondern werfen den Blick zurück auf uns. D. h. aber auch: was Christophs Filme spürbar machen, ohne dies Oberlehrerhaft in Dialoge zu verpacken, ist das Gefühl, das die Figuren, die die Verschwörung aufdecken wollen und sollen, eben nicht auf die Macht „da drüben“ schauen, sondern sie schauen auf sich selbst – als, wenn man so will, (unfreiwillige) Vehikel der Macht (ohne es unbedingt zu merken, dass sie es sind, die der neoliberalen Governmentality in ihrer extremen aber oft unauffälligen Effizienz Hilfe leisten). In dieser Hinsicht sehe ich Christophs Filme als eine filmhistorische Intensivierung von „Die Sieger“ und der Art, wie Graf dort die politische Elite des vereinigten Deutschlands in ihren Glaspalästen darstellte.

Christian Petzold, der mit „Die innere Sicherheit“ (2000) seinen Durchbruch hatte, hat zahlreiche seiner Filme im Osten Deutschlands angesiedelt. Beispielsweise „Yella“ (2007), „Jerichow“ (2008) und „Etwas Besseres als den Tod“ (2012). Was die kritische Soziologie und politische Ökonomie nur sehr langsam erkundet – nämlich die Rolle Ostdeutschlands für die Neuerfindung Deutschlands als neoliberale Nation – kommt bei Petzold immer wieder zur Geltung. Das Gespür, dass der Regisseur für Transiträume entwickelt hat und dass sich durch sein gesamtes Werk zieht, schärft seinen Blick für Prozesse im Osten Deutschlands, die sich der Mainstream-Erzählung über Deutschland und die „Wiedervereinigung“ immer wieder zu entziehen scheinen: die ehemalige DDR als Experimentierfeld für den Neoliberalismus, den der durch westdeutsche Politiker*innen dominierte Staat als Gesamtkapitalist mehr oder weniger planvoll „steuert“.

Was in Ostdeutschland ausprobiert wird, kann später landesweit eingeführt werden. Zuerst die Schock-Therapie für das Versuchskaninchen, dann die Therapie für alle. Ein Regisseur wie Petzold spürt diese Kräfte am Wirken und breitet seine Fühler eben dort aus, wo er neuralgische Punkte für die Entfaltung eben dieser Kräfte vermutet. Was hat es zu bedeuten, dass der Osten Deutschlands hier nicht nur als gezielt gesetzte Auslassung und strategisch platzierter blinder Fleck des deutschen Kinos (von den ganzen ostalgischen und anderweitig verklärenden Produktionen der Post-Wende erst gar nicht zu sprechen) zum Vorschein kommt, sondern auch als Außenposten des schleichenden Umbaus der gesamten Gesellschaft?

Christian erzählt ja oft davon, wie er als Kind und Jugendlicher oftmals mit seinen Eltern auf Familienbesuch in der DDR war. Das ist sicherlich eine biographische Differenz zwischen ihm und den anderen zwei Regisseuren, die wir hier besprechen, die sich ganz eindeutig auf sein Werk niedergeschlagen hat. Er hatte schon in seinen dffb-Studentenfilmen ein großartiges Gespür für das in den späten 1980ern und frühen 1990ern noch weitgehend un-aktualisierte Potential der ökonomischen Genese (West-) Deutschlands an den Tag gelegt. Mit seinen zwei Filmen über die Ökonomisierung der Liebe – „Yella“ und „Jerichow“ – hat er diese Intuition in zwei Schlüsselfilmen der Nullerjahre ungemein schlau dramatisiert, nicht zuletzt auch weil er diese Filme in einem Osten angesiedelt hat, der, wie er immer wieder sagt, eigentlich wie der „wilde Westen“ sei: entvölkerte Orte und Landschaften, die für die neoliberalen „Unternehmer seiner Selbst“ (Foucault) geradezu geschaffen scheinen, mit Protagonisten, die verzweifelt versuchen, sich eine lebenswerte Heimat zu erschaffen, aber daran scheitern, dass sie im Endeffekt das neoliberale Machtsystem auf fundamentale Art und Weise verkennen.

Die filmtitelgebende Figur Yella legt eine erstaunliche Fähigkeit an den Tag, sich scheinbar problemlos den Anforderungen des Risikokapitalismus anzupassen: Obwohl im Osten aufgewachsen, scheint sie fast geschickter, das Spiel der Risikokapitalisten zu spielen, als diese selbst (genau wie der Türke Ali in „Jerichow“ scheinbar besser als die Deutschen es versteht, angeblich ur-deutsche Tugenden in Geschäftserfolg umzusetzen und die brachliegende Landschaft der Prignitz in „blühende“ 1-Euro Imbiss Landschaften zu verwandeln). Dennoch scheitert Yella an ihrer fatalen (Fehl)Entscheidung, ihren Wunsch, am Venturekapitalismus teilzunehmen (sie verurteilt ihn nicht!), durch eine Maßnahme zu ermöglichen, die sowohl filmhistorisch als auch in der Geschichte der politischen Ökonomie einer vergangenen Ära angehört, respektive der Ära des Film Noirs und der des fordistischen Kapitalismus: Yella begeht Erpressung. Erpressung ist aber eine Aktion, die im Zeitalter des Neoliberalismus nicht mehr das gewünschte Resultat herbeibringen kann, eben gerade weil, wie Harun Farockis tolle Studie „Nicht ohne Risiko“ (2004), die Christians Film zugrunde liegt, zeigt, der risikokapital-getriebene Neoliberalismus ein Spiel ist, in dem das Resultat, das alle Spieler von vorne ab kennen, erst durch die richtige Ausführung der Spielregeln performativ erreicht werden kann.

Mit anderen Worten: Man muss das Spiel spielen, auch wenn alle Beteiligten genau wissen, was am Ende herauskommen wird. Diese Logik will erst gelernt und erprobt sein – und wo wäre es besser, das zu tun, als im „wilden Osten“ der Nachwendejahrzehnte, wo durch die Treuhand’schen Machenschaften, die Grafs „Die Verflechtung“ scharfsinnig aufgezeigt hat, eine Art Tabula Rasa geschaffen wurde, in dem das, was Gemeinschaftseigentum hätte sein können, für ein paar müde Mark in Privateigentum transformiert wurde: Kapital, das, wie Graf das schon 1993 filmisch argumentierte, dem nun in seiner vollen Blüte aufgehenden ökonomischen Menschen – dem Unternehmer seiner Selbst des reifen Neoliberalismus – gehört.

In diesem Zusammenhang sei vielleicht noch angeführt, dass das wohl brutalste in den besagten zwei Petzold-Filmen die Tatsache ist, dass diese ökonomische Transformation eben von den weiblichen Heldinnen aus dem Osten (beide Male unvergesslich von Nina Hoss verkörpert) affirmiert wird, ohne dass sie aber dafür belohnt werden. In „Yella“ zerstört Yella unabsichtlich die Möglichkeit der Liebe in Zeiten des Risikokapitals, in dem sie eine ausgediente Methode benutzt, um der Liebeserklärung, die der risikokapitalverhandelnde Liebhaber ihr macht, als er ihr zärtlich sein kleines Büchlein zeigt, in dem er seine Unterschlagungen auflistet (und sie, als Buchhalterin, diese Geste – „schau Dir das mal an“ – eben gerade als Liebeserklärung versteht und affirmiert), finanziell zu besiegeln; und in „Jerichow“ sagt Laura zu ihrem von Benno Führmann gespielten Liebhaber, der die neuen ökonomischen und deshalb auch neuen affektiven Tatsachen viel weniger versteht, als sie, dass man ohne Geld nicht lieben könne, weswegen die beiden dann aber trotzdem den Fehler begehen, ganz film-noirisch zu planen, ihren Ich-AG-bejahenden Ehemann umzubringen.

Kurz gesagt, das spezielle an Petzolds Filmen ist nicht nur die Analyse der ökonomischen Gegebenheiten, sondern auch die Einsicht, dass die Subjekte eben gerade auf der Ebene des Wünschens noch viel intensiver sich der Machtlogik der Biopolitik (unbewusst und oftmals affirmierend) unterwerfen: das Subjekt, wie Foucault das immer wieder dargestellt hat, ist immer auch (und immer mehr) erst einmal Sub-jekt, also unter-geworfen. Und das Petzold’sche Oeuvre, in diesem Sinne sicherlich von Deleuzes Kontrollgesellschaftsargument tief beeinflusst, zeigt wie kaum ein anderes auf, wie diese Subjektion halt über die Ebene des Wünschens funktioniert – der Strick des Neoliberalismus hat sich zunehmend um unsere Hälse zugezogen, aber nicht, weil wir uns dagegen gewehrt hätten, sondern weil wir das Spiel des Neoliberalismus ganz gerne mitgespielt haben, mitspielen wollten, und nicht zuletzt auch im Osten.

Anm.d.Red.: Die Fragen stellte die BG Redaktion. Mehr Beiträge zum Thema finden sich hier: https://berlinergazette.de/feuilleton/2021-black-box-east/

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